1 Einleitung

Das Thema der religiösen Vielfalt ist aus aktuellen gesellschaftlichen Debatten kaum mehr wegzudenken: Im Bildungsbereich haben Susanne Wiesinger (2018) und Melisa Erkurt (2020) zwei breit rezipierte – und weitgehend gegensätzliche – Einschätzungen zu religiöser Vielfalt an österreichischen Schulen publiziert. Auch die österreichische Religionspädagogik beschäftigt sich prominent mit religiösen Pluralisierungsprozessen (Lehner-Hartmann, Peter & Stockinger, 2023; Krobath, Lindner & Petschnigg, 2019). Ebenso sind in der religionswissenschaftlichen Forschung jüngst erneut Publikationen erschienen, die sich dezidiert mit religiöser Vielfalt in Österreich auseinandersetzen (Koch & Lehmann, 2021; Lehmann & Reiss, 2022).

In der Religionspädagogik haben diese Diskussionen u.a. intensive Debatten um verschiedene Wege interreligiösen Lernens provoziert. Viel diskutiert wurde und wird dabei das Konzept des Interreligiösen Begegnungslernens. Dieses spielte bereits in den religionspädagogischen Ansätzen von Folkert Rickers (2001), Stephan Leimgruber (2007) und Mirjam Schambeck (2013) eine wichtige Rolle und wurde u.a. an der KPH Wien/Krems praktiziert und reflektiert (Garcia Sobreira-Majer, Abuzahra, Hafez & Ritzer, 2014). Insbesondere Katja Boehme hat in der vergangenen Dekade ein Konzept interreligiösen Begegnungslernens vorgestellt, das in der strukturierten Form eines Interreligiösen Begegnungstages (IRBT) seine Mitte hat (Boehme, 2023; Pädagogische Hochschule Heidelberg et al., 2023).

Der folgende Beitrag basiert auf den Ergebnissen eines empirischen Forschungsprojektes, welches sich mit einem konkreten Interreligiösen Begegnungstag (IRBT) an einer Wiener Schule kritisch auseinandergesetzt hat (Garcia Sobreira-Majer, Lehmann, Bozkaya, Dura-Nitu & Ertl, 2023). Auf der Basis eines teilnehmenden Beobachtungsdesigns hat eine Gruppe von Forscher*innen der KPH Wien/Krems die Vorbereitung, Durchführung und Reflexion dieses Tages protokolliert und analysiert. Dabei hat das Wiener Projekt vor allem drei Dinge deutlich gemacht:

  • EinFormat wie der Interreligiöse Begegnungstag führt vielfältigeInteraktionenim Zusammenhang mit ReligionzwischenSchüler*innen sowie Schüler*innen und Lehrer*innen herbei.

  • Gleichzeitig wurde im Verlauf des Forschungsprojektes aber auch deutlich,wie maßgeblich diese Interaktionen durch den Kontext der Schule und die Struktur des IRBT geprägt (und auch begrenzt) sind.

  • Beides führt dazu, dass Religion im Kontext eines Interreligiöse Begegnungstages an Schule auf ganz spezifische Art und Weise konstruiert wird (Garcia Sobreira-Majer et al., 2023, S. 330).

Im Weiteren soll es nun darum gehen, wie diese Forschungsergebnisse für die konkrete religionspädagogische Praxis genutzt werden können.

2 Das Forschungsprojekt: Ein IRBT an einem Wiener Gymnasium

Das folgende Argument beruht auf dem oben genannten empirischen Forschungsprojekt (Wiener Projekt), dessen methodisches Layout und dessen empirische Ergebnisse an anderer Stelle bereits detailliert und materialreich dargelegt worden sind (Garcia Sobreira-Majer et al., 2023). Dies kann und soll im hier vorliegenden Text nicht wiederholt werden. Der folgende Abschnitt hat sich deshalb vor allem zum Ziel gesetzt, einen allgemeinen Einblick in den Gegenstand, den theoretischen Rahmen, den methodischen Zugang und die zentralen Beobachtungen des Projektes zu vermitteln. Dies wird nur so weit ausgeführt, als es für die weiterführenden pädagogischen Überlegungen notwendig ist.

2.1 Gegenstand des Projektes: Interreligiöser Begegnungstag (IRBT) in Wien

Wie in der Einleitung bereits angedeutet, beschäftigte sich das Wiener Projekt mit dem von der Heidelberger Religionspädagogin Katja Boehme entwickelten Konzept des fächerkooperierenden interreligiösen Begegnungslernens – bzw. konkreter: mit dem von ihr konzipierten interreligiösen Begegnungstag (IRBT). Boehme schlägt dabei eine projektbezogene Kooperation der konfessionellen Religionsunterrichte (katholisch, evangelisch, islamisch, jüdisch usw.) sowie des Ethik- oder Philosophieunterrichts vor. In dieser Konstellation soll ein gemeinsam festgelegtes, religiös relevantes Thema vorgestellt und diskutiert werden. Dabei unterscheidet Boehme vier Phasen:

  • Erste Phase: Die Schüler*innen erarbeiten ein vorher festgelegtes Thema in ihrem jeweiligen Unterricht und aus der Perspektive ihres Faches. In diesem Rahmen bereiten sie je eine Präsentation für den IRBT vor.

  • Zweite Phase: Die Präsentationen werden im Rahmen eines Projekttags (Interreligiöser Begegnungstag) den Schüler*innen aus den anderen Unterrichten (Religionsunterrichten bzw. Ethikunterricht) vorgestellt.

  • Dritte Phase: Auf der Basis der Präsentationen treten die Schüler*innen dann im Rahmen von Gesprächsgruppen, die aus den unterschiedlichen Unterrichtsgruppen zusammengesetzt werden, in einen Austausch.

  • Vierte Phase: Schließlich kehren die Schüler*innen wieder in ihre jeweiligen Unterrichte zurück. Hier geschieht eine weiterführende Reflexion der erworbenen Kenntnisse und Kompetenzen (Boehme, 2023, S. 378 – 386).

Der durch das Wiener Projekt untersuchte Begegnungstag folgte weitestgehend diesem Konzept und wurde im Sommersemester 2019 mit Schüler*innen der 5. Klassen (9. Schulstufe) eines Wiener Gymnasiums als Projektunterricht durchgeführt. In Summe beteiligten sich ca. 60 Schüler*innen der Klassen 5b und 5c (alle im Alter von 14 bis 17) am interreligiösen Begegnungstag:

  • Alevitischer RU: 8 (auch aus anderen Klassen und Schulen)

  • Ethikunterricht: 16

  • Evangelischer RU: 6 (auch aus 6. Klassen)

  • Islamischer RU: 12

  • Orthodoxer RU: 10

  • Römisch-katholischer RU: 13

Die Lehrer*innen machten Feste zum Thema des IRBT und vereinbarten, wie diese auf die einzelnen Unterrichte aufgeteilt werden. Ausgewählt wurden solche Feste, bei denen ein persönlicher Bezug der Schüler*innen vermutet wurde. Außerdem sollte vermieden werden, dass mehrere Unterrichte dasselbe Fest darstellen bzw. behandeln. Dies führte zu folgender Aufteilung:

  • Alevitischer RU: Hıdırellez-Fest

  • Ethikunterricht: Halloween und Valentinstag

  • Evangelischer RU: Karfreitag und Reformationstag

  • Islamischer RU: Ramadan und Ramadanfest

  • Orthodoxer RU: Ostern

  • Römisch-katholischer RU: Advent, Nikolausfest und Weihnachten

Das Forscher*innen Team fokussierte seine Analysen auf eines der zentralen Themen der Debatten um das interreligiöse Begegnungslernen – die sog. authentische Interaktion und ihre Folgen für die Religionskonzeption.

2.2 Theoretischer Rahmen: Die authentische Interaktion

In der Debatte um Interreligiöses Lernen hat Stephan Leimgruber (2007) unterstrichen, dass sog. authentische Begegnungen den eigentlichen „Königsweg“ interreligiösen Lernens darstellen. Auch Folkert Rickers hat die Bedeutung von direkten Begegnungen für die „Authentizität des Lernprozesses“ (Rickers, 2001, Sp. 875) herausgearbeitet. Mirjam Schambeck betont in ihrer Monographie zur interreligiösen Kompetenz, dass authentische Sprechsituationen für den Kompetenzerwerb notwendig seien, in denen Personen nicht aus der Distanz, sondern aus eigener Erfahrung über das erzählten, was sie in ihrer Religion bewege (Schambeck, 2013, S. 224).

Insbesondere außerhalb der Religionspädagogik werden solche Überlegungen grundsätzlich in Frage gestellt. Als Ansatzpunkt für solche kritische Reflexionen können etwa die Überlegungen von Eva Illouz (2018) dienen, die das Konzept der Authentizität im Rahmen des Konsumkapitalismus verortet und in Frage stellt. Illouz hinterfragt, inwieweit der Ruf nach Authentizität nicht letztlich als eine kommerzielle Figur verstanden werden muss. In eine ähnliche Richtung weist Erik Schilling mit seinem Buch ‚Authentizität: Karriere einer Sehnsucht‘ von 2021. Er rekonstruiert die Verwerfungen des aktuellen Authentizitätsdiskurses und seine gesellschaftlichen Folgen in der Gegenwartskultur.

Die Forscher*innen des Wiener Projektes nutzten diese Kritiken als Grundlage für die Konturierung ihres Projektes: Ganz allgemein gesprochen stellte sich für das Forscher*innenteam die Frage, welches analytische Potenzial der Begriff der Authentizität in der Gegenwartskultur (noch) besitzt und inwieweit er für empirische Forschung nutzbar gemacht werden kann. Konkreter wurde das Projekt maßgeblich durch die Forschungsfrage strukturiert: Inwieweit lassen sich in der Interaktion zwischen Schüler*innen untereinander bzw. zwischen Schüler*innen und Lehrer*innen im Rahmen einer solchen Schulveranstaltung Formen authentischer Interaktion in Bezug auf Religion und Weltanschauungen beobachten?

Zu einer ersten Orientierung wurde dabei die einfache heuristische Unterscheidung zwischen Objekt- und Subjektauthentizität herangezogen, wie sie etwa von Jochen Bauer (2019, S. 256) in die religionspädagogischen Diskussionen eingeführt worden ist. Objektauthentizität bezeichnet hier im Sinne von Echtheit und Unverfälschtheit, dass die Religion sachgemäß und entsprechend ihrem Selbstverständnis dargestellt wird. Subjektauthentizität verweist „hingegen auf eine Lebensweise, in der individuelle oder kollektive Subjekte ihre ‚wirkliche‘, ‚wahre‘ Natur faktisch ausleben“ (ebd.) bzw. auch in ihrer Ausdrucksweise mit sich selbst kongruent erscheinen.

Dabei unterschieden sich die Untersuchungen des Wiener Projektes vom Mainstream der bisherigen Forschung darin, dass sie auf das konkrete Handeln von Schüler*innen bzw. Lehrer*innen im Rahmen eines interreligiösen Begegnungstages fokussierten. Dies legte ein Beobachtungsverfahren nahe.

2.3 Methodischer Zugang: Teilnehmende Beobachtung

Teilnehmende Beobachtung hat in der deutschsprachigen Unterrichtsforschung in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen. Ganz besonders Georg Breidenstein hat zu einer (erneuten) Verbreitung von Beobachtungsverfahren in der pädagogischen Forschung beigetragen. In seinen Untersuchungen fokussiert Breidenstein auf das Unterrichtshandeln von Schüler*innen sowie das Unterrichtsgeschehen, welchem die Schüler*innen „ausgesetzt sind“ (Breidenstein, 2006). Der Fokus liegt dabei weniger auf Selbstauskünften der beteiligten Schüler*innen und Lehrer*innen, wie sie durch Fragebogen oder Interviews erhoben werden können, als vielmehr auf den beobachtbaren Verhaltens-, Handlungs- und Interaktionsformen der Akteur*innen.

Im diesen Sinne basieren die folgenden Überlegungen auf einem Zugang, der Unterrichtsbeobachtung als methodologische Konsequenz zur Datenerhebung aus einer Außenperspektive heranzieht (Reh & Rabenstein, 2013). Der damit angedeutete sozial- bzw. kulturtheoretische Zugang zur Erforschung von Unterricht eröffnete die Möglichkeit, „analytisches Reflexionswissen“ zu rekonstruieren (Büttner, Mendl, Reis & Roose, 2019, S. 11). Dies schlug sich auch in der Datenerhebung und -analyse nieder. Zur Erforschung des interreligiösen Begegnungstages wurden fünf grundlegende methodische Entscheidungen gefällt:

  • Zunächst entschied sich die Forscher*innengruppe dazu - im Unterschied zu den anderen Studien zum IRBT – alle vier Phasen des IRBT in den Analysen zu berücksichtigen.

  • In allen Phasen konzentrierten sich die Beobachtungen des Forscher*innenteams - in Rücksprache mit den jeweiligen Lehrpersonen - auf ausgewählte Schüler*innen aus den einzelnen Unterrichtsgruppen. Diese wurden als Fokusschüler*innen bezeichnet.

  • Eine besonders folgenreiche Entscheidung war die Inklusion des Ethikunterrichts in den IRBT – im Gefolge von Katja Boehme. Damit wurde eine Fachperspektive in die Analyse integriert, die sich grundsätzlich vom konfessionellen Religionsunterricht unterscheidet.

  • Was die konkrete Datenerhebung angeht, so wurden die Beobachtungen der Forscher*innen mittels eines offenen Protokollierungsverfahrens dokumentiert. Dabei wurden von Anfang an ad hoc-Interpretationen in die Protokolle integriert.

  • Zur Analyse der Daten wurde ein zwei-stufiges Codierungsverfahren im lockeren Anschluss an die Grounded Theory verwendet. Ein vergleichsweise einfaches und formales Codierungssystem diente zur Auffindung von Textsequenzen. Diese wurden dann in einem zweiten Analyseschritt zu theoretischen Aussagen verdichtet.

Alle diese Entscheidungen haben die Untersuchung maßgeblich geprägt und sind in dem bereits genannten Artikel (Garcia Sobreira-Majer et al., 2023) detaillierter beschrieben und legitimiert. Für den hier vorliegenden Artikel soll es ausreichen, drei zentrale Beobachtungen zu benennen, die den Autoren mit Blick auf die pädagogischen Überlegungen besonders bedeutsam erscheinen.

2.4 Drei zentrale Beobachtungen

Die Untersuchungen zeigten zunächst, dass ein Begegnungsformat wie der Interreligiöse Begegnungstag vielfältigeInteraktionenim Zusammenhang mit Religionzwischen Schüler*innen sowie Schüler*innen und Lehrer*innen herbeiführt. Dabei kommt das Projekt zu einem gewissermaßen kontraintuitiven Ergebnis: Das Format des IRBT ermöglicht durchaus Interaktionen zwischen Schüler*innen untereinander und Schüler*innen und Lehrer*innen, die sich unterschiedlichen Konfessionen, Religionen und Weltanschauungen zugehörig fühlen. Es führt darüber hinaus aber auch zu Interaktionen innerhalb der jeweiligen Konfessionen, Religionen und Weltanschauungen. Letztgenannte Interaktionen waren typischerweise sogar durch eine höhere Differenzierung (z.B. kritisches Nachfragen, Darstellung eigener Praxis) gekennzeichnet als die Interaktionen zwischen den Akteur*innen, die sich unterschiedlichen Konfessionen, Religionen und Weltanschauungen zugehörig sehen. Diese werden in der aktuellen Forschung kaum reflektiert (Ratzke, 2021; Boehme, 2023).

Weiters zeigten die Beobachtungen, wie maßgeblich diese Interaktionen durch den Kontext der Schule und die Struktur des IRBT geprägt sind. Die Protokolle dokumentieren, wie die Schüler*innen in den Präsentationen die jeweilige Religion bzw. deren Feste als Einheit dargestellt haben. Dies entspricht der Logik von Informationsphasen im Unterricht und dem Kontext Schule als Ort der Wissensvermittlung. Damit wird aber die individuelle Seite von Religion als eine wichtige Ebene des komplexen Phänomens Religion ausgeblendet (Lehmann, 2023a). Persönliche Aussagen oder Stellungnahmen erfolgten meist erst nach den Präsentationen in der Austauschphase. Parallel dazu war auffällig, dass individualisierte und emotionalisierte Aussagen oft zu einer Dynamisierung und Intensivierung des Gesprächs durch interessiertes Nachfragen oder auch Widerspruch führten. Im Unterschied zu den vereinheitlichenden Darstellungen in den Präsentationen kamen in den entsprechenden Interaktionssequenzen auch Differenzierungen ins Spiel, welche die Komplexität von Religionen und Weltanschauungen und ihrer jeweiligen Praxis aufzeigten.

Schließlich haben die Beobachtungen deutlich gemacht, dass Religion im Kontext von Unterricht auf ganz spezifische Art und Weise konstruiert wird. Damit stärken die Ergebnisse des Wiener Projektes diejenigen Stränge der aktuellen religionspädagogischen, religionswissenschaftlichen bzw. religionssoziologischen Debatten, welche für ein offenes Religionskonzept eintreten (Zulehner, 2011; Schweitzer, 2014; Strutzenberger-Reiter, 2016; Bleisch & Bietenhard, 2018). Dabei geht es nicht nur um die analytische Begrifflichkeit, welche für die wissenschaftliche Reflexion und Analyse von Religion an Schule genutzt wird. Vielmehr haben die Beobachtungen (erneut) deutlich gemacht, wie komplex und fluide Religionskonzepte von Schüler*innen und/oder Lehrer*innen konstruiert und eingesetzt werden. Vereinfachende Konzepte, welche Religion etwa einseitig mit individueller Religiosität oder mit theologischen Diskursen gleichsetzen, werden dieser Situation nicht gerecht.

Im Weiteren sollen nun die pädagogischen Konsequenzen dieser Beobachtungen genauer in den Blick genommen werden.

3 Pädagogische Reflexionen

In Reflexionen des Forschungsteams im Nachgang zum IRBT, die auch die Gespräche mit den Lehrer*innen einbezogen hatten, wurde deutlich, wie sehr sich sowohl organisatorische und didaktische Vorentscheidungen als auch strukturelle Rahmenbedingungen auf den Verlauf des IRBT und auf den möglichen Kompetenzerwerb der Schüler*innen auswirken. Wie sich zeigen wird, sind einige Aspekte gleichsam „Stellschrauben“, an denen man im Sinne einer Optimierung „drehen“ kann. Andere scheinen dem IRBT inhärent zu sein. Sie sind Gegebenheiten, die zu bedenken sind, auch wenn sie sich (innerhalb des Modells) nicht ändern lassen.

3.1 Organisatorische und didaktische „Stellschrauben“

3.1.1 Die Wahl des Themas

Bei der Wahl des Themas für einen IRBT ist zu bedenken, dass es mehreren Anforderungen gerecht werden muss (Boehme, 2023, S. 387 – 398. 467 – 479). Erstens sollte es den verschiedenen Unterrichtsgruppen ermöglichen, dass sie sich aus der Perspektive ihres Faches einbringen können. Zweitens sollte es einen Bezug zur Lebenswelt der Schüler*innen aufweisen, sodass sie sich zum Thema mit ihren persönlichen Erfahrungen und Einstellungen einbringen können.

Das Thema „Feste“ bot den Schüler*innen diese Möglichkeiten nur zum Teil. Die Religionsunterrichtsgruppen konnten sowohl Sachinformationen zu „ihren“ religiösen Festen präsentieren als sich auch dazu persönlich und erfahrungsbezogen äußern. Für die Ethikgruppe war das anders. Sie hatte nicht „ihr“ Fest, das sie hätten vorstellen können, weil hinter dem Fach ja bewusst keine Religionsgemeinschaft als Bezugsgröße steht. Die Gruppe entschied sich für die Bearbeitung von zwei – ihrer Meinung nach – ‚säkularen‘ Festen (Halloween und Valentinstag), informierte über ihre Hintergründe und Gestaltungsformen und nannten ihre persönlichen Zugänge dazu. Allerdings begingen nur wenige aus der Ethikgruppe diese Feste oder konnten sich damit identifizieren.

Bei der Wahl des Themas ist daher zu beachten, dass die Ethik-Unterrichtsgruppe nicht einfach analog zu den RU- Gruppen aufgefasst wird. Das Fach Ethik konnte sich im beobachteten IRBT eben nicht auf ein gemeinsames Fest beziehen. Dies dokumentiert den eigenen Zugang des österreichischen Ethik-Unterrichts zu Religion. Dieser ist primär ethisch-philosophisch geprägt und nimmt gegenüber Religion eine Außenperspektive ein. In diesem Sinne wäre im Zusammenhang mit Festen etwa ein Beitrag der Ethikgruppe denkbar gewesen, der einen kulturwissenschaftlichen Blick auf ein Fest oder Feste im Allgemeinen (z.B. im Sinne von Festtheorien) präsentiert hätte. Vergleichbare Probleme können vermieden werden, wenn Themen wie „Schöpfungs- und Umweltverantwortung“ gewählt werden und ein religiöser und ein nicht-religiöser Zugang nebeneinanderstehen.

3.1.2 Zeit

Im beforschten Schulprojekt war die Zeit für die einzelnen Phasen sehr knapp bemessen. Für die Erarbeitungsphase im Fachunterricht waren 2-4 Unterrichtseinheiten (UE) vorgesehen bzw. möglich. Die eigentliche Präsentations- und Austauschphase am Begegnungstag beschränkte sich auf 3 UE. Und die Nachbereitungsphase war auf eine 1 UE konzentriert. Dies war äußeren Bedingungen geschuldet, auf welche die beteiligten Lehrer*innen keinen Einfluss hatten.

Wenn mehr Zeit zur Verfügung gestanden hätte – so der Tenor der Lehrer*innen -, dann hätte die Erarbeitung des Themas ausführlicher und die Vorbereitung der Präsentationen sorgfältiger sein können. Am IRBT selbst hätten vermehrte Zeitressourcen wohl dazu geführt, dass sich die Schüler*innen bei ihren Präsentationen sicherer gefühlt hätten. Außerdem wäre mehr Zeit für Rückfragen und Austausch geblieben und der Ablauf wäre weniger gedrängt gewesen. So hätte man vermeiden können, dass die Schüler*innen innerhalb relativ kurzer Zeit sechs verschiedene Präsentationen an den einzelnen Stationen zu sehen bekamen und damit die Gefahr der Überforderung bestanden hatte.

3.1.3 Grenzen des Aufnahmevermögens der Schüler*innen

Das Modell des IRBT bringt mit sich, dass Schüler*innen in sehr kurzer Zeit eine große Fülle an Inhalten verarbeiten müssen. Am beforschten Projekt bekamen sie innerhalb von zwei Stunden sechs Präsentationen zu jeweils ein oder zwei Festen zu sehen. Daraus ergab sich zwar eine bewundernswerte inhaltliche Fülle; dieses Setting verlangte den Schüler*innen aber ab, sich im Viertelstunden-Takt auf verschiedene Referent*innen und Themen einzustellen. Selbst wenn hier mehr Zeit für die einzelnen Präsentationen zur Verfügung stehen würde, bestünde doch die Gefahr, dass die Grenzen der Aufnahmefähigkeit der Schüler*innen aufgrund der Dichte der Informationsvermittlung überschritten würden.

Eine solche Dichte ließe sich bspw. vermeiden, wenn die Präsentationen zu den einzelnen Festen auf das ganze Schuljahr aufgeteilt würden. Dann könnte der evangelische RU im Herbst zu einem „Reformationsfest“, der katholische Religionsunterricht im Dezember zu einer Weihnachtsfeier, der islamische RU im Ramadan zu einer Iftar- Feier usw. einladen, wobei es ebenfalls Präsentations- und Austauschphasen, aber auch festliche Elemente wie Musik und Buffet geben könnte. Der Ethikunterricht könnte in diesem Fall entweder weggelassen oder als Reflexionsort inkludiert werden.

3.1.4 Vorbereitung der Begegnung im Fachunterricht

Die Protokolle des Wiener Projekts dokumentieren immer wieder, dass nach den Präsentationen an den Stationen von den Mitschüler*innen keine oder nur wenige Rückfragen gestellt wurden. Das dürfte damit zusammenhängen, dass die Lehrer*innen in der Erarbeitungsphase – dem Konzept des IRBT folgend – den Fokus darauf legten, die Präsentationen vorzubereiten. Dagegen wurde in der Vorbereitung kaum besprochen, was die Schüler*innen an anderen Konfessionen und Religionen interessieren könnte, und welche Fragen sie an die andersreligiösen Kolleg*innen richten könnten. Das Fragen-Stellen fiel dort leichter, wo schon bestimmte religionskundliche Kenntnisse vorhanden waren.

Zudem gilt es zu berücksichtigen, dass nahezu alle Lehrpläne für den konfessionellen RU in der Volksschule und Sekundarstufe I in Österreich den Erwerb interreligiöser Kompetenzen vorsehen. Schüler*innen einer 5. Klasse AHS (9. Schulstufe) sollten somit bereits ein Grundwissen zu christlichen Konfessionen und zu Religionen wie Judentum und Islam besitzen und müssten nicht völlig „blank“ in die Begegnung gehen.

Das Wiener Projekt legt nahe, solches (einmal erworbenes) Grundwissen vor der interreligiösen Begegnung aufzufrischen, wie überhaupt religionskundliche Unterrichtssequenzen in der Vorbereitung den Schüler*innen eine Basis bieten sollten, die auf dem IRBT präsentierten Inhalte in ihr bereits bestehendes Grundwissen einzuordnen. Auch wenn Begegnungslernen ein besonders zielführender Weg interreligiösen Lernens ist, bedarf es dennoch der Ergänzung durch andere didaktische Zugänge, die dazu helfen Grundwissen zu erwerben.

Grundsätzlich sollten die verschiedenen Zugänge nicht gegeneinander ausgespielt werden, vielmehr muss es darum gehen, die Stärken und Grenzen jedes Zugangs auszuloten und diesen dementsprechend einzusetzen (Mendl, 2018, S.117). Außerdem sollte schon in der Erarbeitung der Präsentationen darauf geachtet werden, dass die individuelle Dimension von Religion Beachtung findet, und persönliche, subjektive Äußerungen zu Religion ermöglicht werden.

3.2 Strukturelle Rahmenbedingungen und Inhärente Probleme des Modells IRBT

Selbst wenn die Bedingungen für die Durchführung eines IRBT ideal wären, wenn z.B. das Thema allen RU- und Ethikgruppen vergleichbare Möglichkeiten der Präsentation bieten würde oder genug Zeit für die einzelnen Phasen vorhanden wäre, so würde das im Schulkontext dennoch an bestimmten strukturellen Bedingungen und inhärenten Problemen des Modells nichts ändern, die sich unweigerlich auf die Gestaltung eines IRBT auswirken. Diese gilt es für die weitere Arbeit mit diesem Konzept zu berücksichtigen.

3.2.1 Die an der Schule präsenten Religionsunterrichtsgruppen als Ausgangspunkt

Das Modell des IRBT geht - soweit es als schulinternes Projekt durchgeführt wird - von den an der Schule präsenten Religionsunterrichten und dem Ethikunterricht als alternativem Pflichtgegenstand aus und wird durch deren Kooperation ermöglicht und umgesetzt. Im beforschten IRBT waren es fünf Religionsunterrichtsgruppen und eine Ethikgruppe. Damit sind andere Religionen – wie das Judentum - gewöhnlich ausgeklammert, weil jüdischer Religionsunterricht in Österreich nur an ganz wenigen (öffentlichen) Schulen erteilt wird. Die meisten jüdischen Schüler*innnen besuchen jüdische Privatschulen. Für interreligiöses Lernen in Bezug auf das Judentum ist das IRBT-Modell in Österreich daher nur bedingt geeignet (Langenhorst, 2016), es sei denn jüdische Schüler*innen aus einer (Privat)Schule könnten für eine Beteiligung am Projekt gewonnen werden (Schelander-Glaser, 2018; Boehme, 2023, S. 472–473). Dasselbe gilt für kleinere Kirchen (z.B. die armenisch-apostolische Kirche), deren Religionsunterricht nur an einigen wenigen Standorten stattfindet. Außerdem können Religionsgemeinschaften, die an Schulen keinen Religionsunterricht erteilen, nicht berücksichtigt werden.

Der Ausgangspunkt bei den an der Schule vertretenen konfessionellen RU-Gruppen führt aber noch zu einem weiteren Problem, das beim Thema „Feste“ überdeutlich sichtbar wurde. Wenn die katholische Gruppe Weihnachten, die evangelische Gruppe den Karfreitag und die orthodoxe Gruppe Ostern präsentiert, kann der Eindruck entstehen, dass diese Feste nicht allen Christ*innen gemeinsam wären, und dass die Konfessionen ebenso weit voneinander entfernt wären wie die Religionen Christentum und Islam. Eine Aufklärung über das Verhältnis der Religionen und Konfessionen zueinander ist daher zur Orientierung der Schüler*innen notwendig, um keine „falsche Optik“ entstehen zu lassen.

3.2.2 Asymmetrische Verhältnisse: Religiöse Mehrheit - religiöse Minderheiten

Interreligiöses Begegnungslernen in Schulen (oder Hochschulen) sieht sich immer mit dem asymmetrischen Verhältnis von Mehrheit und Minderheit konfrontiert. In dem beforschten Projekt wurden der evangelische RU und der alevitische RU von der geringsten Anzahl an Schüler*innen besucht. Dies hatte zur Folge, dass einige von diesen Schüler*innen nicht die anderen Stationen besuchen konnten, weil sie immer an ihrer eigenen Station bleiben mussten, um dort zu präsentieren. Außerdem waren sie aufgrund der geringen Schüler*innen- Zahl nicht in allen gemischt- religiösen Gruppen vertreten, sodass in der Austauschphase ihre Fragen, Sichtweisen und Auskünfte fehlten.

Solche ganz praktischen Probleme sind in Österreich wohl in den meisten Schulen zu erwarten. Natürlich lassen sich hier pragmatische Lösungen finden. Wenn in einem solchen Fall bspw. ein*e Religionslehrer*in für ihre Schüler*innen einspringt, kann das der Sache nach gerechtfertigt sein, weil sonst Auskünfte zu einer Religion fehlen würden. Es vernachlässigt aber das wichtige Prinzip einer Begegnung „auf Augenhöhe“ unter „möglichst statusgleichen Teilnehmer*innen“ (Boehme, 2019, S. 5). Und damit sind noch gar nicht die grundlegenderen Probleme angesprochen, welche mit Mehr- und Minderheitenkonstellationen notwendig verbunden sind – etwa die Frage des Explikationszwangs bei Minderheiten oder der Kulturalisierungstendenz bei Mehrheiten. Diese können auch durch eine „Begegnung auf Augenhöhe“ nicht gelöst werden.

3.2.3 Die Beteiligung des Ethikunterrichts

An Österreichs Schulen gibt es seit etwa 20 Jahren offizielle Modelle konfessioneller Kooperation und auch eine wachsende Anzahl interreligiöser Projekte (Krobath & Taschl-Erber, 2023). Da der Ethikunterricht erst seit dem Schuljahr 2021/22 – nach einer langen Schulversuchsphase - als Ersatzpflichtfach ins Regelschulwesen übernommen wurde, liegen noch kaum Erfahrungen mit der Kooperation zwischen Religions- und Ethikunterricht vor (Lehmann, 2023b). Insofern ist die Beteiligung des Ethikunterrichts am Modell des IRBT weitgehend Neuland. Dies dokumentiert sich auch in den Protokollen des Wiener Projektes.

Aufgrund unserer Forschungsergebnisse lässt sich sagen, dass durch die Kooperation zusätzliche Perspektiven eingebracht wurden, die sowohl für den RU als auch für den Ethikunterricht eine Bereicherung darstellen, die aber auch strukturelle Herausforderungen darstellen (Vgl.: Garcia Sobreira-Majer et al., 2023, S. 341–342): Fraglos ist bei der Beteiligung des Ethikunterrichts darauf zu achten, dass er nicht gleichsam als „Anhängsel“ des RU behandelt wird, ohne dass seine spezifische fachliche Perspektive entsprechend zur Geltung kommen kann. Auch die Zusammensetzung der Unterrichtsgruppen des Ethikunterrichts, muss bei der Planung eines IRBT mitbedacht werden, wie gleich zu zeigen sein wird.

3.2.4 Die Heterogenität der Gruppen des Religions- und des Ethikunterrichts

Interreligiöses Begegnungslernen geht – zumindest implizit – von der Begegnung mit einer religiös weitgehend homogenen Gruppe von Angehörigen einer anderen Religion aus. Das zeigt sich in der Struktur des IRBT und lässt sich außerdem aus der bekannten Definition von Stephan Leimgruber (2007, S. 20) schließen, welcher Lernen durch Begegnung als interreligiöses Lernen im engeren Sinn bezeichnet. Dieses „geschieht in der Konvivenz von Angehörigen verschiedener Religionen und durch das Gespräch in direkten Begegnungen“ (Leimgruber, 2007, S. 20).

Tatsächlich ist diese Art von Homogenität in Gruppen des RU in der Regel nicht gegeben. In Österreich können an ihm auch Schüler*innen anderer religiöser Bekenntnisse oder ohne religiöses Bekenntnis teilnehmen. So kann z.B. eine konfessionslose Schülerin mit agnostischer Ausrichtung oder ein Hindu (dessen Religion in Österreich auf Grund der geringen Mitgliederzahl „nur“ staatlich eingetragene Bekenntnisgemeinschaft ist und daher kein Recht zur Erteilung des RU hat) den konfessionellen Religionsunterricht besuchen und deshalb als Schüler*in Inhalte aus diesem RU präsentieren. Weiters sind die Religionsunterrichtsgruppen aber auch in Bezug auf die unterschiedliche Nähe oder Distanz der Schüler*innen zur eigenen Herkunftsreligion alles andere als homogen.

Besonders heterogen ist die Gruppe des Ethikunterrichts. Dort finden sich keineswegs nur agnostisch oder atheistisch ausgerichtete Jugendliche, sondern auch Schüler*innen, die sich von ihrem RU abgemeldet haben oder für die kein RU ihres Bekenntnisses an der Schule angeboten wird.

Mit Blick auf diese Heterogenität lässt sich festhalten, dass es beim IRBT de facto nicht um die Begegnung von Schüler*innen als Angehörigen verschiedener Religionen und Weltanschauungen geht, sondern um die Begegnung von Schüler*innen aus verschiedenen Religions- und Ethikunterrichtsgruppen, in denen die religiöse Zugehörigkeit der Schüler*innen mit der konfessionellen oder nicht-konfessionellen Ausrichtung des Faches nicht deckungsgleich sein muss. Etwas verkürzt gesagt: Bei dem Modell des IRBT handelt es sich nicht um eine Begegnung der Religionen und Weltanschauungen, die durch Schüler*innen präsent sind, sondern um eine Begegnung von Religions- und Ethikunterrichtsgruppen, deren Schüler*innen auf ganz unterschiedliche Arten und Weisen konfessionell oder nicht-religiös ausgerichtet sind.

3.2.5 Schüler*innen als Expert*innen– Chancen und Risken

Eine Besonderheit des IRBT besteht darin, dass hier Lehrende ihren Schüler*innen die Rolle von Expert*innen zuweisen. Es sind die Schüler*innen, die vor ihren Mitschüler*innen Inhalte, die sie in den jeweiligen Unterrichtsgruppen erarbeitet haben, präsentieren und damit zum interreligiösen Lernen beitragen sollen. Dafür ist nicht nur Sachkompetenz, sondern auch Methodenkompetenz erforderlich, damit – z. B. durch interaktive Phasen – die Zuhörenden zur Mitarbeit und zum Mitdenken motiviert werden. Die Schüler*innen gestalten auf diese Weise Lernprozesse, machen aber auch selbst einen Lernprozess im Sinne des „Expertenlernens“ mit. Unter diesem Begriff werden in der Pädagogik „Lernsettings und Lernanlässe verstanden, in denen Schüler*innen sich zu einem klar abgegrenzten Inhaltsbereich oder Lerngegenstand eine Expertise aneignen“ und darauf basierend in bestimmten didaktisch-methodischen Arrangements „ihr zuvor angeeignetes Wissen ihren Mitschüler*innen vermitteln.“ (Espelage, 2021, S. 581)

In Bezug auf interreligiöses Begegnungslernen an einem Begegnungstag birgt Expertenlernen Chancen und Risken: Es bietet die Chance, dass Schüler*innen sich mit einem bestimmten Aspekt des Themas intensiv beschäftigen, eine geeignete und sachgemäße Präsentation vorbereiten und diese – im Idealfall methodisch geschickt – ihren Mitschüler*innen präsentieren. Das Risiko des Expertenlernens besteht darin, dass die Vermittlung des angeeigneten Wissens ihre Wirkung verfehlt und den Mitschüler*innen keinen dem Thema angemessenen Zugang eröffnen könnte, sei es, dass sie nicht sachgemäß, zu oberflächlich oder schlicht zu wenig interessant gestaltet wäre, sodass daran nicht das gelernt würde, was gelernt werden sollte.

Auf diesen Umstand beziehen sich Einwände gegen Expertenlernen im Kontext von interreligiösem Begegnungslernen an Schulen (Langenhorst, 2016, S. 99; Zimmermann, 2015, S. 44):

Zum einen wurde darauf hingewiesen, dass Schüler*innen aufgrund fehlender religiöser Sozialisation mit ihrer Herkunftsreligion so wenig vertraut sein könnten, dass sie nicht imstande seien, als Expert*innen einen Aspekt ihrer religiösen Tradition sachgemäß zu präsentieren oder sich aufgrund eigener Erfahrung dazu zu äußern (Espelage, 2022, S. 583). Die Kritik verweist zurecht auf einen Aspekt von Religionsunterricht, mit dem man realistischerweise rechnen muss. Dem kann erwidert werden, dass auch religiös distanzierte Schüler*innen dazu in der Lage sind, sich in ihrem Religionsunterricht ein Thema aus der Perspektive ihres Faches zu erarbeiten, sich dazu in Beziehung zu setzen und es anderen möglichst verständlich zu präsentieren (Boehme, 2023, S. 384).

An der Sachgemäßheit der Präsentationen kann in der Erarbeitungsphase produktiv gearbeitet werden, wenn entsprechende Überarbeitungsschleifen von der Religionslehrkraft vorgesehen und gut begleitet werden, und die Schüler*innen sich bemühen, der Aufgabe gerecht zu werden. Individualisierte Aussagen zum religiösen Thema jedoch, die sich auf persönliche Erfahrungen oder Überzeugungen beziehen, lassen sich, wenn diese fehlen, durch keine Vorbereitung generieren. Bei religiös stark distanzierten Schüler*innen sind solche Aussagen nicht zu erwarten. Sie können aber bspw. religionskritische Äußerungen einbringen, die ebenfalls starke Impulse zu interreligiösem Lernen geben können und mit denen dementsprechend konstruktiv umzugehen ist.

Zum anderen wurde kritisch darauf eingegangen, dass Schüler*innen im Expertenlernen in die Rolle von Fachleuten gedrängt werden könnten und damit vereinnahmt würden (z.B. Langenhorst, 2016, S. 99; Zimmermann, 2015, S. 44; Meyer, 2019, S. 74). Dies ist ein wichtiges Argument. Kritiker*innen des Begegnungslernens übersehen dabei aber, dass Schüler*innen sich auf diese Rolle ja vorbereiten. Sie werden angeleitet, sich in einem selbsttätigen Lernprozess ein Thema ihres Religionsunterrichts so zu erarbeiten, dass sie es ihren Mitschüler*innen präsentieren können. Für dieses eine konkrete Thema sind sie „Expert*innen auf Zeit“, aber keinesfalls Repräsentant*innen ihrer Religion.

Wer sich dazu so in Beziehung setzt, dass sich daraus subjektauthentische Aussagen zum Thema der Begegnung ergeben, kann damit Aha-Effekte bei den Teilnehmer*innen des IRBT auslösen. Das hat das Forschungsprojekt zum IRBT gezeigt. Solche individualisierten und mitunter emotionalisierten Aussagen intensivieren das Gespräch und führen zu interessiertem Nachfragen oder auch zum Widerspruch und damit zur Auseinandersetzung.

In jedem Fall handelt es sich hierbei um empirische Fragen, welche nur durch weitere Forschung geklärt werden können. Expertise kann nicht einfach vorausgesetzt werden. Vielmehr gilt es die Modi von Expertise genau zur reflektieren, um die Stärken und Schwächen eines solchen Zugangs für die Gestaltung eines IRBT reflektiert einsetzen zu können.

4 Fazit

Im Rückblick auf das Wiener Schulprojekt lassen sich aus (religions-)pädagogischer Perspektive eine ganze Reihe von didaktisch relevanten Punkten erkennen, die für das Gelingen eines IRBT entscheidend sind. Das sind:

  • die Wahl des Themas, das mehreren Ansprüchen gerecht werden muss;

  • die Bereitstellung ausreichender Zeitressourcen;

  • die Rücksicht auf das begrenzte Aufnahmevermögen von Schüler*innen;

  • die Vorbereitung des Begegnungstags im Fachunterricht, die religionskundliche Vorkenntnisse vermitteln oder reaktivieren muss;

  • die Beobachtung, dass nicht nur das Präsentieren, sondern auch das Fragen-Stellen einzuüben ist; und schließlich

  • die Feststellung, dass eine differenzierte Darstellung von Religion (in ihrer institutionellen und individuellen Dimension) dezidiert gefördert werden sollte.

Andererseits gibt es strukturelle Rahmenbedingungen und inhärente Probleme des Modells, die zu berücksichtigen sind, auch wenn sie sich – wenn man dem Modell folgt – nicht verändern lassen. Dies sind:

  • die Grundierung des IRBT durch die an der Schule präsenten Religionsunterrichte;

  • das Gegenüber von religiöser Mehrheit und religiösen Minderheiten;

  • die Gleichsetzung des Ethikunterrichts mit den Religionsunterrichten;

  • die Heterogenität der Religions- und Ethikunterrichtsgruppen sowie

  • die Chancen und Risken von Expert*innenlernen.

In nuce kann somit festgehalten werden: Interreligiöses Begegnungslernen an Schulen nach dem Modell eines Begegnungstages (IRBT) ist ein anspruchsvolles Projekt, das eine gute und reflektierte Kooperation der beteiligten Religions- und Ethiklehrer*innen voraussetzt und eine gründliche Vorbereitung benötigt. Dabei sollten die genannten Gelingensbedingungen und strukturellen Gegebenheiten mitbedacht werden. Gelingt dies, so ist es ein Projekt, das den Aufwand lohnt, von Schüler*innen positiv aufgenommen wird und interreligiöses Lernen in Kooperation von Religions- und Ethikunterricht fördert.

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Kurzbiografien der Autoren:

Mag. Dr. Alfred Garcia Sobreira-Majer, Professor der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/Krems im Ruhestand.

HS-Prof. Dr. Karsten Lehmann, Hochschulprofessor am Institut Forschung und Entwicklung der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/Krems und Leiter des Spezialforschungsbereich ‚Interreligiosität‘ ebendort.