1 Die Perspektive der Beobachtung
In unserer Rolle der Tagungsbeobachtung besinnen wir uns in einer doppelten Beobachtungsperspektive sowohl auf die Kernthese des Projektes „Über die anderen unterrichten: Mindsets und Praktiken im fremdreligiösen Unterricht an der Hochschule” als auch auf eigene Erfahrungen in einem noch relativ neuen und spannungsreichen Handlungsfeld der universitären interreligiösen Lehrtätigkeit. Dies betrifft in erster Linie die Lehrtätigkeit im Bereich der Ausbildung von Lehrkräften für den Religionsunterricht. Die Kernthese des Projektes geht von einer herausfordernden Differenz zwischen den schulischen Anforderungen und den Lernmöglichkeiten der Studierenden an der Hochschule aus. Aus eigener Erfahrung können wir uns zustimmend auf die Kernthese des Projektes einlassen und wollen uns intensiver einigen Wesensmerkmalen dieser herausfordernden Differenz aus einer interreligiös-dialogischen Perspektive widmen.
Über die Empirie und die eigenen Erfahrungen spannen wir einen Horizont der Verständigung auf, in dem wir über eine Reihe von Spannungsfeldern reflektieren, die v. a. in Anlehnung an die strukturtheoretische Professionalisierungstheorie als ein konstitutives Merkmal (religions-)pädagogischen Denkens und Handelns betrachtet werden. Die Differenz von Mindsets und Praktiken stellt demzufolge für uns eines von mehreren Spannungsfeldern dar, die für Professionelle nicht aufhebbar sind und deshalb nur reflexiv gehandhabt werden können. Mit anderen Worten: Eine Zielsetzung akademischer und praxisorientierter Lehrkraftausbildung im Kontext interreligiösen Lernens kann nicht in der Illusion bestehen, die Differenzen zu überwinden bzw. eine Art religiös-indifferente Homogenität zu konstruieren. Ebenfalls kann es nicht im Sinne einer professionellen Lehrkraftausbildung zielführend sein, die Antinomie von Praxis und Theorie aufzuheben.
Die Differenz – so unsere Position der Beobachtung – ist an und für sich zum reflexiven Gegenstand interreligiöser Reflexion im Rahmen religionspädagogischer Lehrkraftausbildung avanciert. Die Differenz als Gegenstand spiegelt zahlreiche Widersprüche und Spannungsfelder von Mindsets und Praktiken der Lehrenden und Studierenden in der Ausbildungsphase sowie auch viele Widersprüche und Spannungsfelder unserer gesellschaftlichen religiös und weltanschaulich pluralen Realität. Es ist vor diesem Hintergrund – so unsere allgemeine Einschätzung der Projektidee – dem Forschungsteam sehr gut gelungen, die Komplexität und die Reichweite eines gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozesses mit der exemplarischen Untersuchung von Mindsets zu markieren. Es macht unserer Meinung nach Sinn die Fragestellung des Projektes in diesem größeren Handlungsrahmen, in dem sich übergreifende Strukturprobleme ausbilden, zu verorten, um ein entsprechendes Problembewusstsein für Potenziale und Grenzen interreligiöser (Selbst-)Bildung bei angehenden Theolog*innen und Religionspädagog*innen zu schaffen.
Ein solches Problembewusstsein ist paradoxerweise nicht primär durch Gewissheit und Handlungssicherheit geprägt. Es ist ganz im Gegenteil durch Ungewissheiten und Irritationen dominiert, die wir allerdings im positiven Sinne zur Ausbildung eines reflexiven Habitus professionellen Lehrkrafthandelns auf dialogischer Basis als besonders bedeutsam erachten. Es klingt – geben wir offen zu – sehr anmaßend und technologisch, von einer Umpolung oder Neukonstruktion der Mindsets zu sprechen. Für die Ausgestaltung von hochschuldidaktischen Bildungsprozessen kann die herausfordernde Leitfrage sein: Wie lassen sich Wissensstrukturen, Handeln und eigener Lebensstil so ausrichten, dass künftige Generationen Interesse, Freude und Neugier entwickeln, sich am Entstehungsprozess neuer interreligiös ausgerichteter Mindsets zu beteiligen?
Diese Frage kann sicherlich nicht nur auf die Motivationsebene – so wichtig wie sie ist – reduziert werden. Die Frage muss genau so gesellschaftspolitisch und bildungspolitisch einem gewissen Entscheidungsdruck standhalten, warum nun bei zunehmender Säkularisierung der Mehrheitsgesellschaft, bei zunehmendem Interesse an einen religionskundlichen Unterricht (für alle) und bei dem parallel dazu abnehmenden Interesse an Gott als Referenzpunkt unseres demokratischen Zusammenlebens dennoch interreligiöse Bildung gefördert werden soll. Vertreter*innen interreligiöser Bildung in Theorie und Praxis stehen im weitesten Sinne der Gesellschaft, dem Bildungssystem, der eigenen religiösen Tradition und nicht zuletzt den Adressat*innen ihrer Arbeit in der Begründungsverpflichtung, der hohen Priorität interreligiöser Bildungsprozesse eine plausible Legitimität zu liefern, die – etwas zugespitzt in Bezug auf die Einrichtung der Islamischen Theologie an deutschen Universitäten als Beispiel – vielen Vertreter*innen aus Gesellschaft, Wissenschaft und Politik nicht unmittelbar einleuchtet. Eine visionäre Denkrichtung muss deshalb her, die – in Anlehnung an Zygmunt Bauman (1996) – auf die Einsicht in die totale Ambivalenz als Konzept und Vision im Umgang mit dem Phänomen der Mehrdeutigkeit in der Moderne setzt.
An diesem Gedankengang entzündet sich für unsere gemeinsame Beobachtung der Differenz als Gegenstand interreligiöser Bildungsprozesse die Diskussionsfrage: Soll man nun die Gemeinsamkeiten oder die Differenzen betonen, wie und wozu soll dies geschehen? Es gibt keine konkrete Antwort auf diese reflexive Frage, die man in diesem Beitrag erwarten kann. Die Frage will in einem doppelten Habitus von Wissenschaft und Praxis dazu anregen, interreligiöse Bildungsprozesse auf der Mikroebene in einen Reflexionsprozess von Spannungsfeldern auf der Makroebene einzubinden und damit für die Entstehung, Dynamik und Wirkungsformen von Mindsets zu sensibilisieren (Der Begriff Mindsets wird in dem Beitrag von Naciye Kamcili-Yildiz & Mariana Dobras definiert).
a) Positionalität und Dialog
Ein differenziertes Wahrnehmen von Bildungsprozessen auf Mikroebenen kann für eine bildungspolitische Makroebene grundlegend sensibilisieren. Interreligiöse Arrangements im Rahmen von Lehrkraftausbildung geben dem abstrakten Konzept von Mindsets konkrete Gestalt. Die Interreligiosität wird für angehende Lehrkräfte erfahrbar. Die Studie entfaltet Positionalität und Dialog auf Mikroebenen und differenziert, reflektiert und problematisiert dadurch das ‚Wie‘ der bildungspolitischen Makroebene. In der gegenwärtigen gesellschaftlichen, religionspädagogischen und kirchenpolitischen Diskussion ist die Frage nach Positionalität von Lehrkräften und Dialog von verschiedenen Konfessionen, Religionen und Weltanschauungen eine zentrale und konkretisiert sich in verschiedenen Modellvisionen von Religions- und Weltanschauungsunterricht in Deutschlands Schulen.
In den Studien werden Positionalität und Dialog auf mindestens fünf verschiedenen Ebenen gedacht: Als erste und vielleicht grundsätzliche Ebene wird die hermeneutische Ebene angesprochen, die sich vor allem auf die Begrifflichkeit Dialog bezieht und das Verständnis von Dialog als Containerbegriff in den verschiedenen Lehrinterviews zum Thema macht. Die Analyse der Mikroebenen zeigt, dass zunächst mit allen Beteiligten geklärt werden muss, was überhaupt unter Dialog verstanden werden kann, um fruchtbar und symmetrisch in einen solchen einzutreten. Auf einer zweiten Ebene werden Inhalte von Positionierungen und im Dialogverständnis analysiert. Auf dieser Ebene ist in diesem Spannungsfeld ein Oszillieren zwischen Auslassen (z. B. Wahrheitsfrage, persönliche Position zu religiöser Pluralität[1]) und Bestärken (z.B. Kritik von Antisemitismus) von Positionalität und Dialog wahrzunehmen. Dieses Oszillieren ist eng verbunden mit der dritten methodisch-didaktischen Ebene im Spannungsfeld und wird auch gerade im Vergleich mit der ersten Studie deutlich (z.B. unterschiedliche Vehemenz von Positionierungen und Unterschiede in der Seminardidaktik von christlichen und muslimischen Lehrenden). Auf einer vierten Ebene wird das Spannungsfeld in seiner horizontalen Dimension hinterfragt, indem es Symmetrien und Asymmetrien in Positionen und im Dialog aufdeckt und in den Kontext von Machtfragen, Minderheits- und Mehrheitsverhältnissen, Otheringsprozessen, verschiedenen Berufsbiographien und unterschiedlichen Professionalisierungsverständnissen stellt. Diese Perspektiven sind untrennbar verbunden mit der fünften Ebene, der individuellen existentiellen Positionierung im gesellschaftlichen Kontext.
Die Ausdifferenzierung der Mikroebenen zeigt eine Verbindung und wechselseitige Beeinflussung der Ebenen. Es dient zur Klärung von Kommunikation in Bildungsprozessen, aufzudecken, wie thematische Inhalte mit didaktischen Ausformungen und dem je eigenen Habitus und Kontext der Lehrperson verbunden sind. Bei der grundsätzlichen Frage nach dem Angehen von Differenzen und Gemeinsamkeiten im interreligiösen Lehren und Lernen hat uns als Hochschullehrende das Projekt veranschaulicht, wie wichtig es ist zu reflektieren, welche Ebenen wir jeweils fokussieren und welche wir gerade ausblenden. Allgemeines Reden über Dialog bzw. Positionalität von Lehrenden und Studierenden ist durch die immanente Komplexität daher kaum möglich und oftmals wenig zielführend. Diese Schwierigkeit sollte bei Verallgemeinerungen von Dialog und Positionalität auf Makroebene im bildungspolitischen Kontext um die Ausgestaltung von Religionsunterricht und universitären Fachbereichen immer mit bedacht werden.
Die Wechselwirkung der Ebenen birgt in dem Fall Gefahren von Verwirrung und Desinteresse, wenn die Vielschichtigkeit der Thematik seitens der Teilnehmer*innen an einem interreligiösen Seminar als erdrückend komplex wahrgenommen und erlebt wird. Das Gefühl der Erdrückung durch die Komplexität kann auch bis zu einer völligen Sprachlosigkeit von Studierenden führen, die meinen, keine Worte mehr finden zu können, ohne alle Ebenen mit einzubeziehen. Die Problematik der knappen Zeitfenster und begrenzten Begegnungsmöglichkeiten im Studium dürfte bekannt sein und verschärft sich je nach Status und Organisationsstruktur von unterschiedlichen Studiengängen. Wie man es auch aus der Schule kennt, ist es im Hochschulwesen mittlerweile kaum anders, wenn es darum geht, mehr Zeit für den Dialog einzuräumen. In einem Erweiterungsstudiengang, dem Studium eines weiteren Unterrichtsfaches oder dem Bildungsangebot zum Erwerb von Zusatz- oder Schlüsselqualifikation, in dem z. B. in lediglich sechs Modulen fachwissenschaftliche und fachdidaktische sowie religionspädagogisch und gesellschaftlich relevante Inhalte vermittelt werden sollen, kann das o. a. Oszillieren zwischen Auslassen und Bestärken zu einem echten Dilemma werden. Aus studentischen Evaluationsbögen kennt man beide Extreme eines solchen Dilemmas von zu viel und zu wenig. Die Inhalte können zu viel sein, sodass ich mich dazu in einem Seminar nicht eindeutig positionieren kann, und sie können zu wenig (oder sogar oberflächlich) sein, sodass sie kaum eine Vertiefung ermöglichen. Denn Studiengänge, die nicht ganzheitlich dialogisch aufgestellt und konzipiert sind, haben in der Regel maximal jeweils eine Lehrveranstaltung für die Begegnung mit dem Judentum und dem Islam (In christlichen Studiengängen nimmt die Begegnung mit dem Judentum in Lehrveranstaltungen zur Bibel als einer jüdisch-christlichen Schrift noch einmal eine besondere Rolle ein.).
Der Konsens müsste sein bzw. müsste zunächst (hart) erarbeitet werden, dass man im akademischen Rahmen der Lehrkraftausbildung nicht von einem missionarischen Dialogbegriff ausgeht. Diese Perspektive muss thematisiert werden, um die intentionalen Grenzen des eigenen Engagements wahrzunehmen. Zu den interessanten Diskussionen in diesem ersten Annäherungsschritt gehört die Frage, ob wir (als interreligiöse Gruppe) etwas Neues entdecken oder zustande bringen können. Alles sei bekannt, und es gibt eine kaum überschaubare Fülle an christlichen und muslimischen Werken zum Dialog zwischen Christentum und Islam. Beobachtungen und Erfahrungswerte aus interreligiöser Hochschullehre bestätigen die extrem hohe Bedeutung des hermeneutischen Vorverständnisses. Das Spannungsverhältnis von Positionalität und Dialog in einem interreligiösen Bildungskontext regt in einem neuen Bekenntnis zum gemeinsamen Anliegen an, einen neuen Horizont im Sinne der NEU-Positionalität und des INNEREN-Dialogs zu eröffnen. Sich neu in Bezug auf das mitgebrachte Vorverständnis zu positionieren, setzt im Grunde voraus, dass der Dialog mit dem eigenen Selbstverständnis und der Reflexion des eigenen Kontextes ansetzt. Aus muslimischer Sicht empfiehlt sich an dieser Stelle ein klares Abrücken von einem Dialogverständnis im Sinne der Verkündigung einer absoluten Wahrheit zugunsten eines am Verstehensprozess gekoppelten Dialogverständnisses. Aus christlicher Sicht empfiehlt sich an dieser Stelle ein klares Abrücken von einem Dialogverständnis unter Annahme der gleichen Ausgangslage; die vierte Ebene zu bedenken, die Asymmetrien im Gespräch beleuchtet, dürfte wichtig sein.
Am Beispiel der Rückfrage einer muslimischen Studierenden zum Input ihres christlichen Kommiliton*innen zum Thema Jesus ist für uns gestorben, ob er „für mich auch als Muslimin gestorben sei?“, setzt sich nach einer Reflexion des Dialogablaufs in der Gruppe ein Verstehensprozess in Gang, in dem eine mögliche Ausgrenzung von Nicht-Muslimen als Aufforderung an die eigene Positionalität im Sinne einer Neu-Positionalität thematisiert wird. Diese Neu-Positionalität scheint u. E. auch im bezeichnenden Wechsel der Sprachform auf: Zunächst generalisiert der christliche Kommilitone die christliche Perspektive (für uns). Die Nachfrage der muslimischen Studierenden ist dagegen persönlich adressiert (für mich). Solche Sprachwechsel können auf den Prozess des Findens von neuen persönlichen Positionen hinweisen. Ähnlich ist dies der Fall, wenn Muslime mit einer gewissen Selbstverständlichkeit ihr Glaubensbekenntnis (shahada) aussprechen: Es gibt keinen Gott außer Allah…. Ein verstehender Dialogbegriff, dem eine Aufforderung zur Neu-Positionalität innewohnt, schafft eine konstruktive Grundlage im Umgang mit diesem Spannungsfeld.
b) Gewissheit und Loslassen
Das Beispiel mit der Reflexion der mitgebrachten Position in Bezug auf Glaubensaussagen führt zum nächsten Spannungsverhältnis, das wir zwischen religiöser Gewissheit und Loslassen religiöser Inhalte sehen. Wir bleiben bei dem oben begonnenen Gedankengang der Wechselwirkung der o. g. Ebenen und betrachten in diesem Spannungsfeld die individuelle Bindungskraft der Beteiligungen an die mitgebrachten Inhalte (wohlgemerkt religiösen Inhalte). Die mitgebrachten Inhalte stellen religiöse Gewissheiten dar, die in dem Moment des Eintretens in den dialogischen Verstehensprozess zunächst eine radikale Relativierung erfahren. Die eigene Gewissheit – so die persönliche Wahrnehmung aus der Studierendenperspektive – bedeutet zunächst nichts für meine*n Dialogpartner*in. Die Erfahrung der radikalen Relativierung kann – verständlicherweise – zur Bildung einer radikalen Position führen. Sie kann aber auch dafür als neuer Horizont dialogischen Verstehens investiert werden, indem diese zunächst persönliche Betroffenheit durch die Relativierung eines meiner Glaubensgrundsätze zum gemeinsamen Erfahrungshorizont mit dem Anderen oder der Anderen gemacht werden kann. Denn für alle Beteiligten an einem interreligiösen Dialogprozess werden gleiche oder ähnliche Krisen durch die Relativierung ihrer theologischen Mindsets ausgelöst.
Das Beispiel „ob Jesus auch für mich als Muslima gestorben sei?“, markiert die eigene Gewissheit aus der Binnenperspektive, dass dies (in der islamischen Theologie) nicht der Fall ist. Im (bisher bekannten und tradierten) Dialog im Modus der gegenseitigen Verkündigung eigener Positionen wäre das Augenmerk darauf zu richten, entweder eine Gegenposition aufzubauen oder die „Behauptung“ mithilfe theologischer Argumentationen zu entkräften. Wie bereits angesprochen, gilt dies genauso für die theologische Position der muslimischen Studierenden, dass die Rettung des edlen Propheten Jesus für die Muslime mit dem Schutz des Wortes Gottes[2] gleichzusetzen ist. Wie man (schon lange) im außeruniversitären Dialog der Religionen erfahren hat, kann der interreligiöse Dialog an dieser Stelle wegen der Unvereinbarkeit beider Positionen in eine Sackgasse geraten. Die Erfahrung veranlasst nachzufragen: Was können universitäre Lehr- und Lernprozesse im Kontext religiöser Bildungsprozesse anders oder besser leisten?
Die Einbindung solcher interreligiöser Bildungsprozesse in den Diskurs der Wertebildung macht sicherlich Sinn. Allerdings läuft diese Strategie Gefahr, moralisierend zu werden. Die universitäre Bildung kann im Spannungsfeld von Gewissheit und Loslassen dazu ermutigen, in Richtung der Emergenz neuer Gewissheiten zu gehen. Die Hochschule als Ort für Wissenschaft und (Selbst-)Bildung hat insofern die kritisch-konstruktive Gestaltungsmöglichkeit, als sie das Spannungsfeld von Kritik und Konstruktion so ausbauen kann, dass sie den inneren Öffnungsprozess bei Interessierten an interreligiösen Dialogen einleiten kann. In diesem Kontext reden wir – in Anlehnung an den muslimischen Theologen und Philosophen Falaturi (1926–1996) – von der Entwicklung einer Haltung der Öffnung. Die Veränderung der eigenen Haltung bzw. die Entwicklung einer neuen ist eine Bildungsaufgabe. (Es wird immer mehr in christlichen Lehramtsstudiengängen zur Aufgabe, bei einem Teil der Studierenden überhaupt erst einmal eine christliche Haltung zu entwickeln, ehe eine Haltung der Öffnung zu anderen Religionen sich einstellen kann.) Die Haltung der Öffnung stellt – um dies mit dem oben skizzierten verstehenden Dialogbegriff zu verbinden – einen Anspruch an Wissenschaft und Bildung im Umgang mit der eigenen (theologischen und identitätspolitischen) Tradition des Faches dar. Mit Gewissheit und Loslassen ist somit eng verbunden, an Mut und Courage zu denken.
c) Konsens und Dissens
An eine Haltung der Öffnung schließt eine erforderliche Reflexion des (Nicht-)Vertrauten in Bezug auf das Spannungsfeld von Konsens und Dissens bzw. von Gemeinsamkeiten und Unterschieden an. Ein verstehender Dialog gibt sich – im Sinne der Förderung emergenter Mindsets – nicht zufrieden mit einer „einfachen“ Auflistung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Interreligiöse Lehr- und Lernprozesse im universitären Kontext können eine neue Grundlage für die Betrachtung von Konsens und Dissens bilden. Wie anfangs erwähnt gehen wir von der erforderlichen Einsicht in die totale Ambivalenz aus. Diese Ambivalenz wurde oben unter dem Spannungsverhältnis von Gewissheit und Loslassen exemplarisch in Bezug auf religiöse Inhalte problematisiert. Im Spannungsfeld von Konsens und Dissens können Potenziale und Grenzen der dialogischen Offenheit reflektiert und markiert werden.
Der Geist des Islams als die jüngste der drei Offenbarungsreligionen ist immer von dem unmittelbaren Dialog mit dem Judentum und Christentum getragen gewesen. Der Dialog v. a. mit den monotheistischen Religionen ist ein konstitutives Merkmal islamischer Theologie. Der Islam würde sogar – etwas zugespitzt formuliert – seine theologische Integrität einbüßen, wenn er sich nicht aktiv in den dialogischen Horizont der Offenbarungen einbindet. Die vielen theologischen Brücken, die der Islam zum Beispiel zu biblischen Propheten und Glaubensgestalten im Sinne der Verbundenheit mit einer großen Glaubensgemeinschaft des Monotheismus schlägt, wären ohne eine dialogische Haltung des Respektes, der Anerkennung und Wertschätzung dem Anderen gegenüber unbegehbar. Aus der Binnenperspektive des Islams fußt diese offene Haltung zum religiösen Pluralismus auf mehreren theologischen Fundamenten: erstens die Bekräftigung einer allgemeinen Heilsmöglichkeit für all jene, die in wahrer Gottesfurcht und Rechenschaft leben, auch wenn sie nominell keine Muslime sind (Suren 2: 62, 112, 213; 5:72; 20: 112); zweitens die Überzeugung, dass Gott kein Volk ohne erforderliche Offenbarung beziehungsweise prophetische Rechtleitung gelassen hat (Suren 5:19, 48; 10:47; 14:4; 35:24); drittens das Bekenntnis zu der alle menschlichen Ausdrucksformen übersteigenden Transzendenz Gottes (Suren 17:43; 37:180; 112) (Amirpur, 2017, S. 455–456; Badawia, 2019, S. 233–234).
Das Verhältnis des Christentums zu den beiden monotheistischen Buch-Religionen Judentum und Islam zu bestimmen, ist etwas komplexer und unterscheidet sich grundlegend in der jeweiligen Verhältnisbestimmung zum Judentum bzw. zum Islam. Die Auseinandersetzung zwischen Judentum und Christentum ist durch eine Asymmetrie gekennzeichnet, die für den Dialog der beiden Religionen konstitutiv ist und immer mitbedacht werden muss: Das Christentum kommt in der Heiligen Schrift des Judentums (TeNaK/Altes/Erstes Testament) nicht vor; das Christentum dagegen stößt in beiden Testamenten seiner Heiligen Schrift ständig auf das Volk Israel und das jüdische Volk und die zentrale Figur des Christentums Jesus von Nazareth war Jude (Joh 4,9). Das Christentum ist demnach ohne den Dialog mit dem Judentum als seiner Wurzel nicht denkbar (Röm 11,18). In das Verhältnis von Judentum und Christentum kann in anderer Perspektive von vornherein der Islam miteinbezogen werden. In dieser Perspektive ist das Gespräch miteinander als Trialog der monotheistischen Religionen verstehbar. Dieser Trialog wird als abrahamisch unter Bezugnahme auf Abraham (Gen 12-22) bezeichnet, der explizit im Christentum als Stammvater charakterisiert wird (Röm 4,1) (Langenhorst, 2016, S. 120). Dabei ist für den Trialog eine Vielschichtigkeit mitgedacht, es geht nicht um platte Vereinnahmung, sondern um das Herausstellen von Konsens und Dissens der Religionen.
Aus der christlichen Binnenperspektive steht im Zentrum der Verkündigung Jesu im zweiten Teil der Bibel das Reich Gottes. Gott wendet sich gütig den Ungütigen und Bösen zu (Lk 6,35) und Gott lässt regnen über Gerechte und Ungerechte (Mt 5,45). Nach Gal 3,28 betrifft die Erlösung durch Jesus Christus alle Menschen unabhängig von ihrem Glauben, von ihrem sozialen Status oder von ihrem Geschlecht. Im ersten Teil der Bibel betrifft das befreiende Wirken Gottes die Kinder Israels und alle Völker gleich (Am 9,7). Als zentraler Aspekt von Gottes Schöpfung wird in Gen 1,27 hervorgehoben, dass alle Menschen bei geschlechtlichen Unterschieden in ihrer Pluralität im Blick Gottes gleich würdig sind.
Obwohl die Bibel in den aufgeführten Stellen die Anerkennung der Pluralität betont, beruhte die christliche Identität in der Kirchengeschichte durch ihre Orientierung am Neuen Testament vornehmlich auf (feindlicher) Abgrenzung vom Judentum wie die Diffamierung jüdischer Leseweise des „Alten Bundes“ (2Kor 3,12–15) und die typologische und allegorische Auslegung von Perikopen (Gal 4, 21–31: Kinder der Magd versus Kinder der Freien). Ebenso kann in Bezug auf den Koran angemerkt werden, dass er zwar den Grundsatz der Pluralität betont, aber man trifft sowohl im Koran als auch in mehreren Aussagen des Propheten Muhammads auf mehrere Aussagen über die „Anderen“, die eine gewisse Härte und Ausgrenzung suggerieren bzw. sie als kuffar (Nicht-Gläubige) kennzeichnen. Über diese „kommt Gottes Zorn, und sie haben eine gewaltige Strafe zu erwarten“ (vgl. Sure 16:106). In der klassischen Literatur der islamischen Normenlehre trifft man auf Kommentare, in denen diese Haltung des Nicht-Glauben-Wollens nicht als religiöse bzw. theologische Fragestellung betrachtet, sondern lediglich in der Logik der damaligen Staatsgewalt im 6. und 7. Jahrhundert unter dem Sicherheitsaspekt eruiert wird.
Der Koran spricht im Klartext u. a. von den gläubigen Juden, Christen und Sabäern (vgl. K 2:62). Ihnen wird auch der Glaube an Allah und an die Offenbarung bestätigt, dabei „sind sie demütig gegen Allah und verschachern die Zeichen Allahs nicht. Denen steht bei ihrem Herrn ihr Lohn zu […].“ (Sure 3:199). Christen und Juden, die bekanntlich zwar an Gott glauben, aber die Prophetie Muhammads und den göttlichen Ursprung des Korans nicht anerkennen, werden im Allgemeinen als ahlu-al-kitab (Schriftbesitzer) bezeichnet. Der Koran verwendet – um das Gesamtbild herzustellen – in seiner theologischen Konsequenz auch in diesem Zusammenhang den Ausdruck kufr (Nicht-Gläubig) zur Bezeichnung von Christen (Sure 5:73). Allerdings wird dieser Begriff ausschließlich zum einen in Bezug auf die Sohnschaft Jesus (Sure 5:17) sowie in Bezug auf die Dreifaltigkeitslehre (Sure 5:73) verwendet. Beide Konzepte schließt der Koran nämlich aus dem monotheistischen Glaubensverständnis des Islams aus. In Bezug auf das Judentum ist das genauso, wenn der Koran die Idee des Auserwählten Volkes Gottes revidiert, für überholt erklärt und darin einen nichtvertretbaren Widerspruch zur Universalisierbarkeit des Monotheismus in seiner umfassenden Form von Adam bis Mohammad sieht.
Ein verstehender Dialog klammert solche Dissensaspekte und Auslegungstraditionen nicht aus und ist um eine klärende Tiefe im Umgang mit der Ambivalenz und Mehrdeutigkeiten theologischer Aussagen sehr bemüht. Die Pluralität – so pluralitätssensible Deutung der mehrdeutigen Bibel- und Koranstellen – wird unter den Schutz des Schöpfers gestellt und somit zu einem hohen Gut deklariert. Den verschiedenen religiösen Gewissheiten kann dementsprechend nur dann mit Gelassenheit und anerkennenden Weltoffenheit begegnet werden, wenn sie auf die Pluralität als ein hohes Gut bezogen werden. Damit wird die Pluralität zum Ausgangs- und Bezugspunkt der Wahrheitsfindung definiert. Dieser Perspektivenwechsel, den wir als eines der wichtigsten Ziele interreligiöser Bildung betrachten, kollidiert trotz der theologisch eindeutigen Ausgangslage sicherlich mit einer Reihe von Strukturproblemen, die genauso stark den Dialog beeinflussen wie die Theologie.
d) Theorie und Praxis
Das Projekt hat einen doppelten Adressat*innenkreis auf der Mikroebene. Auf einer Ebene stellt es die Mindsets von Hochschullehrenden in andersreligiösen Lehrveranstaltungen in den Fokus und auf einer anderen Ebene kommen die angehenden Lehrkräfte in den Blick, wie sie die in den Lehrveranstaltungen sich angeeigneten Kompetenzen für ihren späteren Beruf in der Schule fruchtbar werden lassen können. Zentral von der zweiten Ebene, den Lehramtsstudierenden ist die Frage, was bringt mir dieses Hochschul- Projekt für meine spätere Praxis in der Schule? Dieser wiederkehrende und zum Teil laut geäußerte Wunsch nach Praxisbezug ist uns als Hochschullehrende im Lehramtsstudium mit allen problematischen Implikationen bekannt – nicht nur im Bereich des interreligiösen Lernens. Wir sehen auf der didaktischen Ebene durch die Aufgliederung in verschiedene Ebenen eine Chance, mit der empirischen Datensammlung des Projektes die oft von den Studierenden als Graben empfundene Trennung zwischen Theorie und Praxis anzugehen. Das Projekt nimmt als Ausgangpunkte zur Theoriebildung Aussagen von Hochschullehrenden zu ihrer eigenen hochschuldidaktischen Lehrpraxis und konkrete Videographien ihrer Seminare. Die Praxis ist auf der ersten Ebene als Hochschul-Lehrpraxis definiert. Auf der zweiten Ebene sind Lehramtsstudierende, deren Studium auf eine spätere Schulpraxis ausgerichtet ist. Eine dritte Ebene bezieht den spezifischen Forschungsgegenstand des interreligiösen Lehrens und Lernens mit ein, indem der theoretische Lerngegenstand in der didaktischen Anlage und der inhaltlichen Füllung konkreter Seminar-Praxis entfaltet wird. Der theoretische Lerngegenstand prägt die Seminarpraxis in ihrer Didaktik z. B. hinsichtlich der Förderung von Dialogkompetenz oder Begegnungslernen. Eine vierte Ebene fokussiert wieder die Adressat*innen der Seminarpraxis, indem deren eigene Lebenspraxis hinsichtlich Positionierungen, Verhaltensweisen und Haltungen in interreligiösen Feldern eingeübt werden soll. Auf der ersten Ebene fehlen bisher interreligiöse Module der Hochschuldidaktik für Hochschullehrende. Das Projekt stößt mit der Herausschälung von Idealtypen religiöser Pluralität von Lehrenden in diese Lücke. Unter Einbeziehung der dritten Ebene, der Reflexion des eigenen Habitus, können Hochschullehrende eigene Lehrsettings analysieren. Generalisierungen helfen dabei, eigene komplexe Denk- und Handlungsstrategien zu systematisieren und zu fokussieren. Zukunftsweisend wäre über die Implementation eines interreligiösen Moduls in der Hochschuldidaktik für Lehrende in den Theologien nachzudenken. In einem weiteren Schritt wäre auch der Einbezug von Lehrenden in der Philosophie denkbar, analog zum Fächerverbund Religionen und Weltanschauungen in schulischen Curricula.
Das Forschungsprojekt basiert neben Interviews auf Videographien von Seminarsitzungen, die die Lehr-Lernprozesse valide und zuverlässig dokumentieren und die Datenbasis für standardisierte Auswertungen bieten. Die Videographien könnten in einer dritten Funktion als Lernmaterial eingesetzt werden, da sie in der Lage sind bei Lehrenden „Flexibilität im Nachdenken über alternative Handlungsmöglichkeiten“ zu fördern und damit „differenziertes und bewegliches Wissen“ zu entwickeln und den Aufbau handlungsnaher Kompetenzen zu unterstützen (Janik, Minařiková & Najvar, 2013). Die Videographien sind dabei weder Staged-Videos noch Best-Practice Videos, sondern bilden zufällige Seminarsitzungen in ungeschnittener oder bearbeiteter Form ab. Als behavioristisches Lernen am Modell auf dem Hintergrund von Beobachtungslernen könnten Sequenzen aus den Videos sich als Best-Practice für die Hochschuldidaktik erweisen. Das Potenzial liegt gerade im Fremdvideo und nicht Eigenvideos, da Eigenvideos nach Studien der Unterrichtsdidaktikerin Tina Seidel 2011 weniger kritisch kommentiert und dabei weniger Handlungskonsequenzen identifiziert werden. Außerdem liegen in Verlangsamung, Segmentierung und Mikrostudien von Seminarprozessen Potenziale zur genaueren Beobachtung.
Ein grundlegendes Problem ergibt sich auf erster und zweiter Ebene aus der mangelnden Verfügbarkeit von Mitschnitten von Seminarsitzungen (nicht nur) in den Theologien und (nicht nur) von Religionsunterricht. Wissenschaftliche Forschungs-Projekte wie das vorliegende, das mit dem Instrument der Videographie und entsprechender Auswertungssoftware betrieben wird, sind weder für die hochschuldidaktische Ausbildung von Lehrenden noch für die Ausbildung an Studienseminaren verfügbar. Es wäre daher grundlegend zu überlegen, ob diese Videographien nicht einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden könnten, um Hochschuldidaktik und Lehramtsausbildung unterstützen zu können. Die Grundhaltung des forschenden Lernens (Ludwig Huber & Gabi Reinmann) würde bei Lehrenden wie auch Studierenden angeregt. Diese Grundhaltung ist am Leitbild des reflektierenden Praktikers (Donald Schön) orientiert und lässt Theorie und Praxis in ihrem Spannungsfeld oszillieren.
Zu einem*r reflektierenden Praktiker*in gehört nicht nur die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Glaubenstradition und Positionalität, sondern auch die Reflexion des spezifischen Kontextes, in dem man den Dialog führt. Die oben herausgeschälte vierte Ebene im Bereich der Positionalität und des Dialogs ist gekennzeichnet durch Otheringsprozesse, Aus- und Eingrenzungen, Machtverhältnisse und Minderheits- und Mehrheitsverhältnisse. Unsere bisherigen Spannungsfelder tangierten vor allem individuelle Sichtweisen, unser Blick muss sich noch auf die gesellschaftliche Verortung der Mindsets richten.
e) Minderheit und Mehrheit
Aufgefallen an den Ergebnissen der Studie mit muslimischen Kandidat*innen ist eine gewisse Zurückhaltung oder Reserviertheit im Umgang mit einem interreligiösen Bildungsangebot. Dieser Befund wirkt vor dem Hintergrund des sonst erkennbaren Engagements im Forschungsprojekt etwas paradox. Es wirkt deshalb paradox, weil man theologisch – wie oben dargestellt – nicht nur von einem offenen, unverbindlichen Dialoggebot der islamischen Theologie ausgehen kann, sondern von einer allgemeinen dialogischen Ausrichtung der islamischen Theologie. Dies rührt u. a. daher, dass die Frühgeschichte des Islams in Fragen der Offenbarung und Kontinuität prophetischer Botschaften dialogisch geprägt war. Wenn man nun vor diesem theologischen Hintergrund an den o. g. empirischen Befund der Zurückhaltung von manchen Muslim*innen denkt, macht es unseres Erachtens Sinn, diesen Befund vor dem Verhältnis von Minderheit und Mehrheit zu reflektieren.
Das gesamtgesellschaftliche Anliegen, die religiöse Pluralität im säkularen Staat zu gestalten, veranlasst gesellschaftliche Institutionen, die Annäherung an die Eingewanderten zu suchen. Die Partizipation der Eingewanderten an den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen gilt inzwischen als ein wichtiger Schritt zur strukturellen und sozialen Integration von Zugewanderten. Die Institutionen der Aufnahmegesellschaft suchen nun nach Repräsentant*innen der Einwanderer*innen und ebenso bemühen sich die verschiedenen Interessenvereine, Initiativen, Organisationen und Spitzenverbände der Migrant*innen um Fragen der Repräsentation von Einwander*innen. Im Rahmen eines solchen Annäherungsprozesses eröffnen sich zwar neue dialogische Perspektiven zum Austausch und politischer Partizipation, aber diese dialogischen Kommunikationsstrukturen können bei fehlender Klärung der Erwartungen, Prioritäten und Dringlichkeiten von Problembehandlungen zum entgegengesetzten Effekt der Ausgrenzung führen.
Muslim*innen stehen gegenwärtig – objektiv betrachtet – im Status einer religiösen Minderheit. Diese Minderheit hat migrationsgeschichtlich ihre besonderen Erfahrungen mit der Rolle und Funktion der Religion als identitätsstiftender Faktor gemacht. Es ist nicht der Platz in diesem Beitrag, diese Aspekte auszuführen. Aber es sei kurz auf eine sensible Erfahrung hingewiesen: Der Dialog, der im Wesentlichen die Absicht eines kommunikativen Austausches auf gleicher Augenhöhe voraussetzt, ist bei fehlender Gleichberechtigung nicht wirkungsvoll. Es entstehen Pseudo-Dialoge, die letztendlich zur politischen Legitimation dienen und das Ziel der strukturell „Mächtigen“ verfolgen, die Eingeladenen vom Wert der eigenen Argumente zu überzeugen und sich selbst eine vermeintliche Dialogfähigkeit zu attestieren. Das Idealmodell einer dialogischen Begegnung, das vor allem die Gleichheit unter den Teilnehmenden voraussetzt, verwandelt sich folglich in eine Szene der Präsentation kultureller, argumentativer und politischer Überlegenheiten, welche aus der Perspektive der Eingeladenen (in diesem Fall die Eingewanderten) als Ausschlussmechanismen, d. h. diskriminierend wirken. Mit anderen Worten: Beim Fehlen von Offenheit, Interesse an den Argumenten des Gegenübers, Symmetrie zwischen den Gesprächspartner*innen und letztendlich bei fehlender Anerkennung entsteht im Dialogprozess das strukturelle Problem, dass die lediglich für politische Zwecke inszenierten Partizipations- und Dialogangebote zu einer Diskriminierungspraxis zu werden drohen. Diese in Erinnerung zu rufen, scheint uns entscheidend zu sein, um ein Gefühl für die aktuell dringenden Bildungsbedürfnisse und -erwartungen dieser religiösen Minderheit zu bekommen. Nun die Frage: Genießt interreligiöse Bildung die Priorität im Orientierungsmuster von Migrant*innen? Die Erfahrungen – keine systematische, empirische Erfassung – lassen Zweifel zu, dass dies der Fall ist. Viele Erfahrungen mit muslimischen Studierenden machen u. a. zweierlei deutlich:
1) Das Thema ist so selbstverständlich, dass sie dementsprechend eine solche Relevanz im Rahmen eines universitären Hochschulstudiums für ALLE genießen soll (vgl. im vorherigen Punkt die Idee eines interreligiösen Moduls der Hochschuldidaktik außerhalb der Theologien). Diese Botschaft ist allerdings zweideutig. Das Thema komparative Theologie oder Dialog der Religionen ist ein – in der Lehrtradition theologischer Studiengänge in sog. islamischen Ländern – Schwerpunkt im Studium der Theologie. Man kann Theologie studieren und den Schwerpunkt im Hauptstudium im Bereich des Dialogs“ bzw. „der komparativen Theologie wählen. Eine subjektorientierte Hochschuldidaktik des interreligiösen Dialogs dürfte – so die Einschätzung aufgrund vieler Erfahrungen mit Klientel der Islamischen Theologie in Deutschland – dermaßen fremd sein, dass sie Grund sein kann, die empirisch konstatierte gewisse Skepsis und Zurückhaltung unter Muslim*innen aufzuklären.
2) Der gegenwärtige öffentliche Diskurs über den Islam ist aggressiver geworden und läuft auf Ausgrenzung hinaus, denn er operiert mit einem Begriff des Islams, der als etwas Gegenteiliges zum „Deutschen“, „Westlichen“, „Abendländisch-christlichen“ dargestellt wird. Aufgrund der aktuellen islamophoben Stimmung und zunehmender Islamisierung des Islams (Bauer, 2011) in der Öffentlichkeit sehen sich viele muslimische Studierende mit „dringenderen“ Fragen des sozialen Aufstiegs, der Diskriminierung, des Islamismusverdachts, der Umwälzungen innerhalb der muslimischen Community und einer Reihe innermuslimischer Problemlagen so konfrontiert, dass das Thema der interreligiösen Bildung mehr oder minder als ein Luxus-Problem der „Anderen“ vorkommen kann.
Interreligiöse Bildungsprozesse können – so die Quintessenz dieser Überlegung – über einen Umweg einen enormen Beitrag dazu leisten, das Verhältnis von sozialem Statut (Position der Stärke oder der Schwäche) zur Dringlichkeit und Notwendigkeit von Dialog reflektieren. Interreligiöse Bildungsprozesse können – wenn es auch nicht primär ihre Zielsetzung zu sein scheint – dennoch zu einer kritischen Selbstprüfung im Sinne der Aufarbeitung und Dekonstruktion von Vorurteilen, Opfer-Rollen und der Neu- und Umdeutung herkömmlicher Textgrundlagen anregen.
Interreligiöse Bildungsprozesse setzen unter Bedingungen der Pluralität alle konkurrierenden Ideen und Konzepte für ein gemeinsames Miteinander – mehr oder minder zwangläufig – in Beziehung zueinander. Mit dem Tübinger Theologen und Religionspädagogen Karl Ernst Nipkow sei an dieser Stelle lediglich auf eine der Grundkonfliktlinien des Pluralismus hingewiesen, wenn die „Definition des Eigenen durch die Abgrenzung von Anderen“ geschieht (Nipkow, 1998, S. 35). Interreligiöse Bildungsprozesse können zur Dekonstruktion eines solchen dualen Denkmusters beitragen, indem sie stärker für Erfahrungen von Minderheit und Mehrheit in Geschichte und Gegenwart von Christ*innen und Muslim*innen sensibilisieren.
Literaturverzeichnis
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Die Vermeidung persönlicher Positionierungen in weiten Bereichen und das Rekurrieren auf gesellschaftliche Rollenerwartungen erinnern an das in den christlichen Religionspädagogiken benannte Phänomen des Religionsstunden-Ichs von Schüler*innen, wenn diese in eine „angepasste Rolle“ im Religionsunterricht schlüpfen. (Roth, 2018)
Verstanden im Sinne von Jesus ist Gottes Abgesandter, Gottes Wort und ein Geist von Ihm (vgl. exempl. Sure 4, Vers 171)