Wie nehmen wir unsere Gesellschaft ganz allgemein und konkret unsere Disziplin, die Religionspädagogik, wahr? Wie fassen wir die Wahrnehmung in Worte? Prägend für unsere Sicht sind u.a. Erzählungen in einem weiteren Sinne, Narrative mit pointierten, charakteristischen Brennpunkten; sie legen einen roten Faden durch unwegsames Gelände oder setzen eine Mitte zur Orientierung in heterogenen, vielschichtigen Feldern. Der Ausdruck „Narrativ“ hat sich über die englische Übertragung von Lyotards „méta récits“ als „grand narrative“ etabliert. Narrative schaffen den Blick für das Große und Ganze. Sie müssen beobachtet, erklärt und gedeutet werden, sie bedürfen im Kontext unserer Fachdisziplin aber auch immer wieder der Revision, zum Teil auch der Kritik und des Widerspruchs. Sie laden dazu ein, nicht im Kleinklein der Forschung stecken zu bleiben, sondern weitere Horizonte ins Auge zu fassen. Das macht sie jedoch auch angreifbar.
Das letzte Jahrhundert hatte hier einiges zu bieten. Die Erzählung vom „Heiligen“ (Rudolf Otto), das aller Religion zugrunde liege, bestimmte noch vor einigen Jahrzehnten Diskurse der Religionswissenschaft und die vieler angrenzender Disziplinen wie der Religionspädagogik. Generationen arbeiteten sich daran im Für und Wider ab.
Neutestamentliche Forscher:innen suchten nach der „Mitte“ von Jesu Botschaft, seiner ipsissima vox und sprachen von späteren Hellenisierungen. Auch hiervon war die Religionspädagogik berührt. Soziolog:innen erzählten uns vormals, dass wir von Klassendenken bestimmt sind, und diagnostizieren heute, dass wir in einer Gesellschaft der Singularitäten leben (Andreas Reckwitz), dass uns liberale Eliten führen (Carlo Strenger) usw.
In dieser Themenausgabe von theo-web gehen wir von der Frage nach soziologischen „méta récits“, spezifisch der Rede von dem „Verlust der Mitte“ der Gesellschaft heute aus und fragen weiter nach Narrativen in der Religionspädagogik.
Den Artikeln liegen Vorträge auf einer Konferenz in Trier vom 10. bis 12. September 2021 zugrunde, die in ökumenischer Zusammenarbeit von AKRK (Arbeitsgemeinschaft für Katholische Religionspädagogik und Katechetik) und GwR (Gesellschaft für wissenschaftliche Religionspädagogik) ausgerichtet wurde. Die Dokumentation beginnt mit der allgemeinen soziologischen Fragestellung (1), kommt dann auf die Schüler:innen mit ihrer Lebenswelt zu sprechen (2), um als dritten Schritt religionspädagogische Forschung selbst unter die Lupe zu nehmen (3). Zwei Workshopberichte vermitteln Impressionen gegenwärtiger Projekte (4). Der Blick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unserer Disziplin und eine bilanzierende Gesamtschau auf die Tagung runden den thematischen Teil ab (5). Als Besonderheit dieser Dokumentation schließt sich noch ein eigener Abschnitt mit knapp skizzierten, aktuellen Forschungsbeschreibungen an, die auf den Posterpräsentationen der Tagung beruhen (6).
1 Der Eingangsartikel und die beiden Entgegnungen widmen sich zunächst unserer Gesellschaft und ihrer Verortung von Religion.
1.1 Der Soziologe Clemens Albrecht beschreibt, wie das Narrativ „Verlust der Mitte“ wiederholt im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Krisen auftritt, aber in verschiedenen Ländern kulturell unterschiedlich bewertet wird. Die eigene Forschung über das studentische Milieu der „Bobos“ zeigt Paradoxien auf, die dazu führen, dass eine Vermittlung zwischen gesellschaftlichen Gruppen nicht mehr mit der Suche nach der Mitte gelingen wird. Eine Vermittlung ist nach Albrecht in einem formalisierten Dritten zu suchen und zwar: dem Verfahren selbst.
1.2 Mirjam Schambeck fragt im Anschluss an Clemens Albrecht danach, wer überhaupt auf welche Weise die Mitte einer Gesellschaft und ganz spezifisch die Mitte des religionspädagogischen Diskurses bestimmt bzw. bestimmen könnte. Dabei weist sie unserer Disziplin die Aufgabe eines ideologischen Stachels zu – nicht zuletzt auch gegenüber den eigenen Narrativen.
1.3 Manfred Pirner stellt konkrete Rückfragen an den Vortrag von Clemens Albrecht und spricht u.a. das Verhältnis von Soziologie und Theologie bzw. Religionspädagogik an. Ein Impuls der Soziologie könnte beispielsweise von einem autoethnographischen Ansatz ausgehen, der also in den eigenen Bezügen ethnographisch forscht und durch den auch die Selbstaufklärung in der Religionspädagogik gewinnen würde.
2 Pädagogisch sollte die Sicht auf die Schüler:innen ein eigenes Gewicht bekommen. Mit ihnen verbundenen Narrativen gehen die folgenden drei Artikel nach.
2.1 Hans Mendl wirft auf der Basis empirischer Erkenntnisse einen differenzierten Blick auf heutige Lehramtsstudierende im Fach Religion und hinterfragt die hier verbreiteten Narrative. Das Narrativ „Verlust der Mitte“ beschreibt seiner Ansicht nach diese Personengruppe kaum ausreichend.
2.2 Ebenso problematisiert Susanne Schwarz kritisch anhand empirischer – auch eigener – Studienergebnisse, inwiefern sich das Narrativ „Verlust der Mitte“ auf Schüler:innen übertragen lässt. Dabei zeigt sie, dass Schüler:innen das Fach Religion als „gemittet“ wahrnehmen und fordert die Religionspädagogik dazu auf, randständige Schüler:innen stärker konzeptionell zu berücksichtigen.
2.3 Der Beitrag von Steffi Fabricius und Johannes Heger geht methodisch noch einmal anders vor und greift einen spezifischen Ausschnitt der Lebenswelt von Jugendlichen heraus. Anhand der beiden Serien „The Vampire-Diaries“ und „Game of Thrones“ werden Narrative aktueller Jugendmedien vorgestellt. Unter Bezugnahme auf die Theorien des conceptual blendings und des korrelativ geprägten Begegnungsraums arbeiten sie religiöse Implikationen dieser Narrative heraus und konturieren mögliche religionspädagogische Verwendungszusammenhänge.
3 Die Wissenschaft der Religionspädagogik selbst steht nicht außerhalb der Bildung von Narrativen; sie ist im Gegenteil vielfach selbst daran beteiligt. Damit verbundene Analysen und Differenzierungen zu aktuellen Fachstrukturen nehmen Joachim Willems und Oliver Reis vor.
3.1 Im Zentrum des Beitrags von Joachim Willems stehen entsprechende „méta récits“ in religionspädagogischer Forschung. Am Beispiel des interreligiösen Lernens fragt er nach dem zugrunde liegenden Narrativ, seiner Wirkweise und den damit verbundenen ,blinden' Flecken.
3.2 Oliver Reis konzentriert sich nach einem kurzen Überblick ebenfalls exemplarisch auf ein Narrativ, die Subjektorientierung, und analysiert mittels dieses Beispiels Modellierungen und Funktionen narrativer Strukturen. Er plädiert für eine selbstreflexive Rekonstruktion wissenschaftlicher Narrative, also dafür, „die Erzählmechanismen im eigenen Diskurs“ zu erkennen und kritisch zu reflektieren.
4 Exemplarisch für viele weitere Projekte zu Narrativen skizzieren zwei Workshopberichte gegenwärtige Forschung, der erste zu christlicher Selbstinszenierung in Social Media, der zweite zu Storytelling in Erklärfilmen um interreligiöse Themen.
4.1 Im Werkstattbericht zum Workshop „#dnkgtt – Christliche Selbstinszenierung in Social Media als Narrativ der Glaubenskommunikation“ von Rebekka Burke und Lena Tacke werden zunächst zentrale Aspekte des religiösen Influencing umschrieben, bevor anschließend wichtige Erkenntnisse der gemeinsamen Diskussion mit den Teilnehmenden skizziert werden. Die beiden Autorinnen arbeiten in dem Bericht abschließend heraus, dass eine differenzierte Betrachtung des christlich religiösen Influencing ebenso von Bedeutung ist wie die weitere religionspädagogische Forschung an diesem Phänomen und Desiderat.
4.2 Ausgehend von dem mediendidaktischen Grundsatz, dass Erzählen besser als Erklären sei, beschäftigt sich David Käbisch in seinem Beitrag mit dem Storytelling in religionsbezogenen Erklärfilmen. An ausgewählten Beispielen verdeutlicht er nicht nur die typischen Merkmale des Erzählens in Digitalen Medien (Tutorials, virale Spots etc.), sondern kritisiert auch die Dramaturgie vieler Erklärfilme. Anschließend steht relithek.de als ein Frankfurter Lehrprojekt im Zentrum. Am Ende der Ausführungen wird deutlich, dass bislang nicht nur das didaktische Potential von Erklärfilmen, sondern auch die Möglichkeiten Virtueller Realität (VR) kaum wissenschaftlich erprobt und untersucht wurden.
5 Der Blick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Religionspädagogik mit ihren Pointierungen und möglichen zukünftigen Schneisen bildet den fünften Teil. Vier solcher Pointierungen stecken dabei das weite Feld exemplarisch ab. Anschließend ziehen Vera Uppenkamp und Christian Höger eine Tagungsbilanz.
5.1 Stefanie Lorenzen stellt den Begriff der Entscheidung als ein Strukturmoment religionspädagogischen Denkens mehrperspektivisch vor und analysiert wie dekonstruiert exemplarisch einen Text zur Elementarisierung auf dieses Strukturmoment hin. Aufgrund der Dekonstruktion wird die Tendenz zur Unentschiedenheit hervorgehoben.
5.2 Silvia Arzt untersucht in ihrem Beitrag „Gender in der Religionspädagogik“ das vielschichtige Verhältnis Feministischer Theologien zur allgemeinen Geschlechterforschung und zum Ansatz der Intersektionalität. Dabei kommen u.a. die Initiative Maria 2.0, der Synodale Prozess der Katholischen Kirche und die gewachsene Sensibilität gegenüber Macht-, Herrschafts- und Normierungsverhältnissen in Kirche und Gesellschaft zur Sprache. Sie fordert, dass religionspädagogische Forschung soziale Strukturen, Praktiken und Identitäten thematisieren müsse, um diese nicht (ungewollt) zu reproduzieren.
5.3 Evrim Erşan Akkılıç erläutert in ihrem Aufsatz gegenwärtige Narrative über Migrant:innen hinsichtlich der Dynamik von Zugehörigkeit und Abgrenzung, Inklusion und Exklusion. Erşan Akkılıç zeichnet eine langfristige Verschiebung des Migrationsdiskurses im deutschsprachigen Raum nach, durch welche die Religionszugehörigkeit als Differenzmarker an Bedeutung gewinnt. Besonderes Gewicht legt der Aufsatz auf die aktive Rolle, die Migrant:innen gegenüber Migrationsnarrativen einnehmen, nicht zuletzt im Modus des Widerstands.
5.4 Andrea Lehner-Hartmann und Martin Rothgangel beschreiben schließlich fünf zukunftsträchtige Themenfelder. Neben den Aufgaben religiöser Bildung unter pluralen Bedingungen kommen dabei in besonderer Weise junge Menschen in prekären Verhältnissen, das Verhältnis von Gender und Religion, Nachhaltigkeitsfragen und die Digitalisierung als Herausforderungen der religionspädagogischen Forschung und Lehre in den Blick. Die Ausführungen basieren auf der Delphi-Studie, deren Ergebnisse zusammengefasst und auf das Tagungstheend ma bezogen werden.
5.5 In ihrem "Tagungsrückblick mit Augenzwinkern" fassen Vera Uppenkamp und Christian Höger die unterschiedlichen Ansatzweisen und Perspektiven der Konferenz und ihrer Diskussionen zusammen. Dabei zeigen sie mit Rückgriff auf die Vorträge pointiert und mit einem Schuss Ironie die Grenzen des Narrativs der Mitte auf, das sehr unterschiedlich bearbeitet wurde, aber gerade dadurch fruchtbare Diskussionen anregte.
6 Erstmals können in diesem Format der Tagungsdokumentation auch aktuelle Forschungsprojekte aufgenommen werden, die auf der Konferenz selbst als Poster vorgestellt wurden. Christiane Caspary (Friedensfrage), Rebecca Deurer (Hinduismus in Schulbüchern), Felicitas Held (Tod in der Konfi-Arbeit), Simon Kluge (Game-Analysen), Eileen Küthe (Digitales für inklusiven RU), Karin Peter (conceptual change-Ansatz: Opfer), Maria Rehm (Lehrerbiographien/Heterogenität), Silke Reindl (milieubezogene Unterrichtsforschung) und Teresa Trynogga (katholische Jugendtreffs) haben ihre neun Forschungsprojekte für einen kurzen Überblick zusammengefasst.
Das Herausgeberteam
Dr. Angela Kaupp, Professorin für Religionspädagogik an der Universität Koblenz-Landau
Dr. Karlo Meyer, Professor für Religionspädagogik an der Universität des Saarlandes, Saarbrücken
Dr. Annegret Reese-Schnitker, Professorin für Religionspädagogik an der Universität Kassel
Dr. Susanne Schwarz, Professorin für Religionspädagogik an der Universität Koblenz-Landau
Dr. David Käbisch, Professor für Professor für Religionspädagogik und Didaktik des evangelischen Religionsunterrichts an der Goethe Universität Frankfurt a. M.
Julian Miotk, M.A. Dozent für Religionspädagogik an der Universität Luzern
Moritz Emmelmann, Studienreferendar am Gymnasium Tellkampfschule, Hannover