Auf den Vortrag einer Kollegin oder eines Kollegen zu respondieren, ist keine einfache Sache, zumal wenn der Vortrag facettenreich ist wie dieser, mit vielen unterschiedlichen Setzungen arbeitet, die in einem bestimmten Ansatz wie dem des Kollegen zwar gut funktionieren, bei der Erstbeschäftigung aber zunächst in ihrer Verflochtenheit dechiffriert und dann auch noch religionspädagogisch gewendet werden sollen.

Der Schachtelsatz zu Beginn markiert damit mehr als nur eine in manchen Leser:innenaugen vielleicht wenig geglückte und etwas umständlich geratene Einleitung. Dem Motiv „form follows function“ entsprechend bettet er die folgenden Überlegungen in einen Erwartungshorizont ein, der nicht leicht zu bestimmen ist. Damit ist zugleich so etwas wie eine Entschuldigung formuliert, nur auf einen Teil der Ausführungen replizieren und diese zudem nur höchst subjektiv ausdeuten zu können. Die Leser:innen mögen sich – so die Moral der Geschicht', die gleich zu Anfang verraten werden soll, – ihr Urteil damit selbst bilden, wenngleich ich mir erlauben möchte, ein paar Impulse zur Urteilsbildung beizusteuern.

Begonnen werden soll deshalb mit zwei Bemerkungen zu einer Grundsatzfrage, die im Vortrag des Kollegen mitschwang, nämlich der Beschreibung, dass sich die Mitte unserer Gesellschaft auflöse und dies auch Konsequenzen für die aktuellen Narrative zu Religion habe.

1 Ruth Bader Ginsberg oder: Wissenschaftstheoretische Präliminarien

Als RBG 1993 als eine der ersten Frauen in den Supreme Court der Vereinigten Staaten berufen wurde, schätzte sie sich selbst – und ihre eher skeptisch auf Frauen als Oberste Richterinnen blickenden Kollegen taten es ihr gleich – als konservativ ein.

Im Laufe der Zeit und v.a. durch die von den republikanischen Präsidenten (Ronald Reagan, George Bush) berufenen Richter fand sich RBG nach und nach in der Mitte des Höchsten Gerichts wieder und galt seitdem als liberal und konsensorientiert.

Freilich fände ich es interessant, weiter über RBG zu reden und was in Amerika momentan los ist, aber in dem Vortrag und der Gesamtkonferenz geht es um Narrative zu Religion und Gesellschaft unter dem Titel „Wenn sich die Mitte auflöst …“.

1.1 Deutungsansprüche sind Glaubensgeschichten mit Machtambitionen, denen mit einer Hermeneutik des Verdachts zu begegnen ist

Mit dem RBG-Phänomen möchte ich an die Soziologie, die dieses Narrativ der verschwindenden Mitte transportiert und wirkmächtig in unsere Gegenwartsbeschreibungen einträgt, die Frage richten genauso wie an alle anderen mit diesem Konstrukt arbeitenden Disziplinen: Wer bestimmt, was die Mitte und was die Ränder sind? Wem wird die Macht zugestanden, eine Sprecher:innenposition in der Mitte zu verorten oder an die Ränder zu verlagern? Wer ist überhaupt sprachfähig und diskursbestimmend, um dies verfügen zu können? Wer definiert, was universal gilt und was nicht?

Und wie ist das in unserer Disziplin der Religionspädagogik? Wer wird in der Mitte und damit in einer bestimmenden und zuteilenden Position verortet und ist das richtig so bzw. besser formuliert: Hilft das? Welche Studien machen das Hauptaugenmerk und damit die Mitte unserer Beschäftigung aus und führt das weiter?

Mit dem RBG-Phänomen bzw. der Frage nach Deutungsansprüchen ist man also sehr schnell an den soziologischen Urfragen nach Niklas Luhmann (1993) angekommen: 1. Was ist der Fall? Und: 2. Was steckt dahinter?

Wer gewinnt und wer verliert, wenn das Narrativ, dass sich die stabilisierende Mitte auflöst, keiner näheren Begründung mehr zu bedürfen scheint, weil es die Alltagserfahrungen rundum bestätigen? Was steckt hinter dem Phänomen der „sich auflösenden Mitte“ und wer springt in das Vakuum, wenn der vordem geglaubte Konsens, was in unserer Gesellschaft selbstverständlich gilt – wie demokratisches Grundverhalten, Wertschätzung andersgläubiger und insbesondere jüdischer Mitbürger:innen, Sozial- und Rechtsstaat – jeden Tag neu korrumpiert wird, wenn Juden Kippot von den Köpfen gerissen und migrantisch gelesene Menschen diskriminiert werden?

Wie ist das, wenn allgemeine Selbstverständlichkeiten und damit der soziale Kitt verloren gehen und an deren Stellen Singularitäten treten, wie Andreas Reckwitz (2018; 2020) das formuliert bzw. wie Kollege Albrecht schlussfolgert, in den sog. Bobos Gestalt angenommen haben? Wie können die Einstellungen der Bobos zu Religion charakterisiert werden? Ist deren ethisches Verhalten die route de marche, auf die die Dinge nicht nur zulaufen, sondern auch zulaufen sollen? Oder ist hier doch Skepsis angebracht, wenn die Bobos zwar einerseits das eigene Wir weitertreiben auf andere, wie z.B. schutzbedürftige Geflüchtete, sich andererseits aber sehr wohl in ihrem Wir segregieren, um aus einer selbst definierten moralischen Besserposition andere zu taxieren oder sogar zu deklassifizieren?

Sind die Bobos damit nicht einfach eine bestimmte Variante juveniler Subtypen, die egal wie alt sie sind, die meiste Kraft darauf verwenden, herauszubekommen, wer sie selbst sind in Abgrenzung zu anderen?

Auch die Soziologie hat ihre „Glaubensgeschichten“ und gibt das auch zu, indem sie diese reflexiv bricht. Die Frage stellt sich damit an die Religionspädagogik, was die soziologischen Urfragen und ihre Anwendung auf das Narrativ der sich „auflösenden Mitte“ austragen:

1.2 Religionspädagogische Herausforderungen und Potenziale

Kommen wir zunächst zur zweiten der Luhmann-Fragen: der Bedeutungsfrage und damit nochmals zu der eingangs gestellten und die Tagung dominierenden Frage: Wie ist das mit der Mitte – auch bei uns in der Religionspädagogik?

1.2.1 Religionspädagogik als ideologiekritischer Stachel – auf mehreren Ebenen

Als theologische Disziplin, die sich einer Gottrede stellt und verdankt, die den Menschen in die Mitte rückt, hat die Religionspädagogik die Aufgabe, ideologiekritischer Stachel zu sein. Es geht darum, Narrative nicht einfach hinzunehmen, sondern zu überprüfen: Sind die „Geister der neuen Mitte/Macht“ Lebensgeister oder Dementoren, die den Einzelnen wie den Gesellschaften das Leben aussaugen? Mobilisiert das Narrativ der sich auflösenden Mitte Kräfte, sich in einer vielfältigen Gesellschaft unter neuen Voraussetzungen darüber zu verständigen, was gelten soll, oder müssen wir zugestehen, dass solche Redeweisen ihren Beitrag dazu leisten, Entgleisungen an den Rändern noch eher hinzunehmen, weil sich die Mitte ja sowieso auflöst und Abstruses und Absurdes je öfter es vorkommt umso mehr zu sedieren scheint?

Es ist eine Herkulesaufgabe, im Spiel der Deutungen präsent zu bleiben und die theologische Rede als orientierende und trostreiche Kraft einzubringen, ohne in die Fallen verkappter Deutungshoheiten mit exklusiven und unverständlichen Sprachspielen zu tappen (Ghettoposition) oder einer Mattigkeit zu erliegen, die der theologischen Rede nichts mehr zutraut.

Was hier theoretisch formuliert ist, wird in jeder Unterrichtsstunde – und ich würde auch sagen Seminarsitzung und Vorlesung – praktisch. Wir brauchen ein Wissen um das, was der Fall ist. Aber die Spitzenfrage – sowohl im Ranking der Wissenschaften und damit auch der Geldzuteilungen als auch der gesellschaftlichen Debatten, wie wir leben wollen – sollte m.E. diejenige um die Bedeutungen sein. Welche Deutung kann Plausibilität für sich beanspruchen und warum? Welche wird gehört und welche nicht und warum? Was und wer setzt sich durch und warum?

Dieses Feld nicht allein ökonomischen Logiken oder Interessen Einzelner zu überlassen, lohnt sich um der Menschen willen, für die wir arbeiten.

1.2.2 Religionspädagogik als empirische Mitbeschreiberin, was der Fall ist

Damit sind wir bei der ersten Luhmann-Frage angelangt: Was ist der Fall? Mittlerweile kann die Religionspädagogik seit gut 50 Jahren auf eine Geschichte zurückblicken, sich als Mitbeschreiberin zu begreifen, was in Bezug auf Religion empirisch der Fall ist.

Es ist in großem Maße ihr zu verdanken, dass die soziologische Rubrizierung von Religion über die Inanspruchnahme und Häufigkeit von religiösen Praktiken ausdifferenziert wurde[1] und Religiositäts-Indikatoren wie z.B. die Frage „Was kommt nach dem Tod?“ eine Rolle in religionssoziologischen Untersuchungen spielen (Bertelsmann Stiftung, 2008, S. 7).

Dass Religion überhaupt als nach wie vor bedeutsames Phänomen im Leben von Einzelnen als auch gesellschaftlich untersucht wird, ist ebenfalls zu einem großen Stück der Religionspädagogik zuzuschreiben. Die Frage stellt sich aber, ob sich die Religionspädagogik trunken vom Erfolg darin erschöpfen darf.

1.2.3 Wie soll das Zueinander von empirischer Beschreibung und Bedeutungsfragen in der Religionspädagogik zukünftig austariert werden?

M.E. stellt sich als eine der Gretchenfragen in der Religionspädagogik, wie das Zueinander von empirischen Studien und der Arbeit an den Bedeutungsfragen austariert wird. Freilich entsteht keine empirische Beschreibung ohne theoretischen Impuls und Ertrag; und hoffentlich erfolgen hermeneutische Überlegungen nicht im luftleeren, weil empirisch nicht geerdeten Raum. Dennoch meine ich in unserer Disziplin einen Trend auszumachen, der den Studien, die sich um das „Was der Fall ist“ mühen, mehr Plausibilität und Berechtigung zugesteht als denjenigen, die sich den Bedeutungsfragen widmen.

Dass dies nicht einfach eine Meinung ist, sehe ich darin bestätigt, dass es kein Geheimnis ist, dass Forschungsvorhaben nur dann versprechen drittmittelgefördert zu werden, wenn sie historisch oder eben empirisch angelegt sind. Systematisch-hermeneutische Grundlagenforschung wird m.W. momentan so gut wie gar nicht gefördert. Das scheint mir doch eine bedenkenswerte Schieflage zu sein, wenn stimmt, dass wir in einer Zeit leben, in der Orientierungswissen wie selten zuvor gefragt ist.

Diese Grundsatz- und Richtungsfrage in der Religionspädagogik müssten wir, meine ich, dringend angehen und damit uns selbst auch die Frage gefallen lassen, was die Mitte unserer Studien und daher unserer Arbeitskraft sowie unserer Ressourcen ausmacht.

Diese eher grundsätzlichen, durch die Mitte- und Machtdebatte aufgeworfenen Fragen sollen im Folgenden durch Überlegungen zu den im Vortrag benannten Thesen erweitert werden.

2 Die Großkirchen als Akteure universalistischer Orientierungen mit der Verve, Partikularismen institutionsinkludierend zu entwerfen und die Religionspädagogik als vermittelnde Kraft in sozialen Spaltungen zu zeichnen

Dieses Zutrauen und Vertrauen, das der Vortrag sowohl gegenüber den beiden Großkirchen als auch der Religionspädagogik formuliert, schmeichelt natürlich einer Leser:innenschaft wie der unsrigen. Als eine, die den Sternenhimmel faszinierend findet, weiß ich aber, dass Sterne dann besonders hell leuchten, wenn sie kurz vor dem Explodieren und damit ihrer Vernichtung stehen. Insofern möchte ich diese Setzungen etwas deutlicher ins Visier nehmen.

2.1 Von der fehlenden Anschauung oder: Gesagt wird viel, geglaubt wird, was getan wird (eine andere 3G-Regel)

Da ist zum einen die Beschreibung, dass die Großkirchen bzw. zumindest deren repräsentative Gruppen universalistische Orientierungen vertreten. Wenn damit gemeint ist – wie Kollege Albrecht (2019, S. 23) das andernorts ausgeführt hat –, dass sie eine der wirkmächtigsten Universalismen der europäischen Neuzeit mitgetragen und in der Geistesgeschichte implantiert haben, nämlich die Idee der Gleichheit, dann könnte ich dem zustimmen: Ja, die institutionalisierte Form christlichen Glaubens, also die Kirchen, sind zu nichts anderem da, als die befreiende Botschaft Gottes weiterzusagen, dass alle Menschen gleich sind, sprich von gleicher Würde, ohne Ansehen der Person, des Geschlechts, der ethnischen Zugehörigkeit etc., und dass ihre Würde unantastbar ist.

Zugleich – und das ist ein Widerspruch und damit mehr als eine Paradoxie – gibt es jenseits totalitärer Regime überall auf der Welt wohl kaum eine Institution in Europa, die diese Gleichheitsidee jeden Tag aufs Neue so augenfällig mit Füßen tritt wie die katholische Kirche: Wenn Frauen nach wie vor aufgrund ihres Geschlechts vom Zugang zu Weiheämtern kategorisch ausgeschlossen werden, wenn Sakramente als Verdichtungen der Zusage, dass Gott als Rettender gegenwärtig ist, Menschen vorenthalten werden, weil sie wiederverheiratet geschieden sind oder sich als gleichgeschlechtliche Paare das Sakrament der Ehe spenden bzw. (nur) gesegnet werden wollen, dann korrumpiert dies die Aussagen von der gleichen Würde aller Menschen auf erschreckende und aufrüttelnde Weise.

Da gibt es mitten in Westeuropa eine Institution, die aus der Idee der gleichen Würde aller lebt, und sie gleichzeitig partikularisiert auf Männer, Heterosexuelle, Geweihte. Gesagt wird viel, praktisch eingelöst zu wenig. Insofern bin ich skeptisch, dass die universalistische Orientierung, die die katholische Kirche im Wort verkündet, angesichts der konterkarierenden Praxis noch viele erreicht. Es stellt sich sogar die Frage, ob es sich ein Staat und damit eine Gesellschaft weiterhin leisten können, angesichts von Art. 1,1 GG eine Institution bedingungslos zu subventionieren und stellenweise auch zu finanzieren, die kategorisch diskriminiert. Gesagt wird viel, aber Kant variierend gilt nach wie vor: Wenn die Anschauung fehlt, bleiben die Begriffe blind.

Mindestens Skepsis ist also angezeigt gegenüber der These, die katholische Kirche als Akteurin universalistischer Orientierungen zu kennzeichnen, die lediglich paradoxal oder inkonsistent partikularisiert. M.E. müssen sich die beiden Großkirchen – und hier erlaube ich mir die evangelische miteinzubeziehen – die Frage gefallen lassen, ob sie die Weite des Geistes, die im Evangelium wurzelt, faktisch noch in unserer demokratischen Gesellschaft verstehbar und sozusagen schon von Weitem und unverstellt sichtbar zur Geltung bringen. Nicht nur junge Menschen, wenn die auch besonders, gehen mit Ansprüchen pragmatisch um. D.h., sprechen dem Geltung zu, was auch faktisch wirkt.

2.2 Die Botschaft glaub' ich wohl, allein mir fehlt der Wille – Eine Goethevariation

Damit bin ich bei einer weiteren Setzung des Vortrags angekommen: Weil alle unter dem Zwang zur Häresie stehen, müssten die Großkirchen zumindest Sorge tragen, institutioneninkludierend zu agieren. Die Botschaft glaub' ich wohl und wer könnte ihr widersprechen, allein mir fehlt der Wille, diese Zuschreibung an die Großkirchen gelten zu lassen, weil ich die wirkenden Ausschlussmechanismen sehe und nicht weiterhin bereit bin, sie undiskutiert mitzutragen. Ich frage mich, was helfen könnte, Ausschlussmechanismen zu vermeiden, wenn die Kirchen über Jahrhunderte hinweg ihre Machtansprüche über Exklusionen gefestigt haben.

Mit anderen Worten: Wie sollen Institutionen ihre ureigenen (Lebens-)Mechanismen plötzlich so verändern können, dass sie nicht mehr ausgrenzen, sondern zum Raum für alle werden?

Dazu bräuchte es einen Quantensprung, wie ihn Paulus im Galaterbrief formuliert hat: Im römischen Gesellschaftssystem, das ebenfalls über die Privilegierung der Einen und den Ausschluss der anderen funktionierte, beschreibt er, dass durch Jesus eine neue Ordnung angefangen habe: Da gibt es „nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus.“ (Gal 3,28) Revolutionär – in der Tat –, und doch nach wie vor so notwendig wie nie. Momentan scheint allerdings der Wille zur paulinisch angezeigten Veränderung vielerorts zu fehlen und ich frage mich, was wir als Wissenschaftler:innen anderes tun können, als dafür zu werben und überzeugende Argumente beizubringen. Angesichts der Dringlichkeit und Brisanz dieses nötigen Umbaus überfällt mich eine Unruhe, dass dies zu wenig sein könnte und wir zu spät kommen.

Und damit komme ich zu einer dritten Setzung des Vortrags, nämlich die Religionspädagogik als vermittelnde Kraft in sozialen Spaltungen zu verstehen.

3 Beim Umzug der Götter helfen (Wolfgang Eßbach)

Der Freiburger Soziologe Wolfgang Eßbach – erlauben Sie mir diesen Lokalpatriotismus – charakterisiert Religion in seinem religionssoziologischen Fundamentalwerk (2014) als transformative Kraft, die bei der Bearbeitung gesellschaftlicher Erfahrungen hilft und sich dazu selbst transformieren muss. Sein Diktum „Wenn gesellschaftliche Erfahrungen verarbeitet werden, ziehen auch die Götter um.“ illustriert das ganz gut.

Das ruft wiederum die zwei Luhmann'schen Urfragen der Soziologie auf den Plan, nämlich die Fragen, welche gesellschaftlichen Erfahrungen zu verarbeiten sind, was dahintersteckt und welcher Umzug der Götter ansteht.

In der Tat ist die Religionspädagogik im theologischen Fächerkanon eine der gegenüber kulturellen Verschiebungen sensibelsten Disziplinen. Ein großer Teil von uns beschäftigt sich mit der Erforschung juveniler Lebens- und Religiositätsstile und welche transformative Kraft darin für die Neuformulierung der Gottrede steckt.

Wir schaffen es jedoch kaum, den Umzugsort, den wir für die Götter identifiziert haben, auch wirkmächtig anzuzeigen. Eher kommt es mir so vor, dass wir zwar aufgrund unserer Analysen von Religion und Religiosität, von Kulturalität und den Selbstverständnissen der Menschen eine Ahnung haben, wohin die Götter gezogen sein könnten bzw. wo wir sie heute zu suchen haben; wie einsame Rufer:innen in der Wüste schaffen wir es aber nicht, unsere Kolleg:innen beispielsweise aus der Systematischen Theologie davon zu überzeugen, dass die alten Wasserquellen vertrocknet sind und sie dringend weiterziehen müssten, um nicht zu verdursten.

Mit anderen Worten haben wir sowohl innerhalb der Theologie ein religionspädagogisches Rezeptionsproblem als auch in Bezug auf die Bildungswissenschaften und nochmals mehr auf (religions-)politische Entscheidungen hin gelesen.

Ist es damit nicht zu hoch gegriffen, der Religionspädagogik zuzusprechen, das bislang fehlende vermittelnde Dritte zu sein, um „Fridayler“ und „Frömmler“ zueinander zu bringen? Ich bin überzeugt wie Sie – und das ist meine Glaubensgeschichte –, dass Bildung nach wie vor der beste und menschenfreundlichste Weg ist, dass Menschen zu freien und selbstbestimmten Personen werden. Aber als Religionspädagogin weiß ich auch, dass ich dann, wenn ich Bildung ernst nehme, nichts anderes tun kann, als Denk- und Erfahrungsräume zu öffnen, Argumente beizubringen, um die Entscheidungsmöglichkeiten von Menschen zu weiten. Entscheiden müssen die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen jedoch selbst.

Und damit erlaube ich mir, noch eine letzte der im Vortrag transportierten Setzungen ins Gespräch zu bringen.

4 Die Wahrheitsfragen werden im Gesellschaftspolitischen ausgetragen – oder: Warum es doch lohnt, über das Narrativ der „sich auflösenden Mitte“ nachzudenken

Man muss schon viel aufbieten, um der These zu widersprechen, dass Wahrheitsfragen postmodern gesprochen ihren ureigenen Ort im gesellschaftlichen Diskurs gefunden haben. Wahrheit ist zu dem geworden, was viabel ist, plausibel, intersubjektiv vermittelbar. Wahrheit ist dann v.a. das, was gesellschaftlich gilt und gelten soll und recht schnell identisch mit normativen Setzungen. So weit, so gut, und in einer demokratischen Gesellschaft, die auf den Diskurs und die Vernunft als Mittel setzt, auszuhandeln, was eine Sozietät trägt, auch eine Hochform guten Zusammenlebens.

Mindestens seit den Habermas'schen Debatten wissen wir aber auch, dass Wahrheitsfragen in Form von Geltungsansprüchen und damit Deutungen etwas damit zu tun haben, wer die Macht hat, zu sprechen, zu überzeugen und sich somit auch durchzusetzen.

Sind es überzeugte Europäer:innen, die bei uns sprechen dürfen und die wissen, dass wir nicht mehr vorankommen werden, wenn wir weiterhin nur die leidigen „Firsts“ promulgieren? Sind es die Klimaschützer:innen, die mahnen, dass uns und unseren Kindern und Enkeln das Höher, Schneller, Weiter alles kosten wird?

Sind es diejenigen, die darauf hoffen, dass es in unserem Leben mehr gibt als das, was wir zählen, wägen und messen können, und dass es etwas zu hoffen bzw. auf jemanden zu vertrauen gibt? Oder sind es die Überzeugten, dass nur Deutschland zählt und alle anderen rausgeworfen werden sollen? Dass wir nur dann gut leben können, wenn unsere Grenzen hochgezogen und „Andere“ kleingehalten werden?

Insofern ist es nicht egal – und damit komme ich zu den wissenschaftstheoretischen Präliminarien zurück –, wer in der Mitte ist und wer das Sagen hat und ob dort Menschen sind, die sich nicht nur vor der Instanz ihres eigenen Ich zu verantworten haben. In diesem Streit um die besten Deutungen mitzumachen und Sorge dafür zu tragen, dass die Mitte nicht durch nichtigende oder gar menschenverachtende Größen besetzt wird, ist uns allen aufgetragen – und die Religionspädagogik als Verbunddisziplin und damit vielperspektivische Wissenschaft könnte hier vieles einbringen. Es lohnt sich also weiterzumachen.

Literaturverzeichnis

Albrecht, C. (2019). Universalismen – Partikularismen. Zur Kultursoziologie von Geltungsansprüchen. In P. Geiss, D. Geppert & J. Reuschenbach (Hrsg.), Eine Werteordnung für die Welt? Universalismus in Geschichte und Gegenwart (S. 27–43). Baden-Baden: Nomos.

Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) (2008). Religionsmonitor 2008. Europa. Überblick zu religiösen Einstellungen und Praktiken. URL: https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Presse/imported/downloads/xcms_bst_dms_25787_25788_2.pdf [Zugriff: 22.10.2021].

Eßbach, W. (2014). Religionssoziologie 1. Glaubenskrieg und Revolution als Wiege neuer Religionen. Paderborn: Wilhelm Fink.

Luhmann, N. (1993). „Was ist der Fall?“ und „Was steckt dahinter?“ Die zwei Soziologien und die Gesellschaftstheorie. Zeitschrift für Soziologie,22 (4), S. 245–260.

Reckwitz, A. (2018). Die Gesellschaft der Singularitäten. Zur Kulturalisierung des Sozialen. In H. Busche, T. Heinze, F. Hillebrandt & F. Schäfer (Hrsg.), Kultur – interdisziplinäre Zugänge (S. 45–62). Wiesbaden: Springer VS

Reckwitz, A. (2020). Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin: Suhrkamp. Schmidtchen, G. (1979). Was den Deutschen heilig ist. Religiöse und politische Strömungen in der Bundesrepublik Deutschland. München: Kösel-Verlag.

Mirjam Schambeck sf, Dr. theol. habil., Professorin für Religionspädagogik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

  1. Vgl. noch die religionssoziologischen Untersuchungen in den 1970ern beispielsweise von Schmidtchen, Gerhard, Was den Deutschen heilig ist. Religiöse und politische Strömungen in der Bundesrepublik Deutschland, München 1979.