1 Forschungshintergrund und Zielsetzung
In der aktuellen Diskussion um Schule und Unterricht sind Inklusion und Digitalisierung als zwei Schwerpunktthemen auszumachen, die auch in einem zukunftsfähigen Religionsunterricht eine zentrale Rolle spielen. Beide Themen werden jedoch in der wissenschaftlichen Diskussion häufig getrennt voneinander betrachtet, obwohl sich viele Synergieeffekte aufweisen lassen (Bosse, 2019). Allerdings konnten empirische Studien zeigen, dass digitale Medien an und für sich keinen Einfluss auf den Lernerfolg der Schüler*innen haben. Ausschlaggebend für die Wirkung ist immer das zugrundeliegende didaktische Konzept.
Solche didaktischen Konzepte, die Digitalisierung und Inklusion im Kontext religiöser Bildung in der Grundschule zusammendenken, fehlen bisher. Angesichts dieses Desiderats ist es für die Religionspädagogik von hoher Relevanz, empirisch begleitete didaktische Modelle für den digitalen Religionsunterricht in inklusiven Settings zu entwickeln. Ilona Nord und Jens Palkowitsch-Kühl (2017) formulieren die Herausforderung der Religionspädagogik und -didaktik dahingehend, dass es deren Aufgabe sei, „die Integration digital vernetzter Medien in Theorie und Praxis zu konzeptionieren und zu reflektieren“ (Nord & Palkowitsch-Kühl, 2017, S. 60). Einen Beitrag dazu möchte das hier vorgestellte Projekt leisten. Das vorliegende Forschungsvorhaben hat das Ziel, eine adaptive, digitale Lernumgebung für den inklusiven Religionsunterricht zu konzipieren, die empirisch begleitet wird und über das rein religionskundliche Lernen hinausgeht, sodass eine kompetenzorientierte Auseinandersetzung mit der Exoduserzählung als biblisches Narrativ gewährleistet wird.
Dazu wurden zunächst vier prototypische Lerntypen gebildet, denen differenzierte Lernwege und Zugänge zur Verfügung gestellt werden. In der Praxis gilt es festzustellen, ob diese Lerntypen die Schüler*innen der Klasse und deren religiöse Kompetenzen ausreichend abbilden oder, ob eine Anpassung der Lerntypen notwendig ist. Die Einteilung zu den verschiedenen Lerntypen und Niveaustufen erfolgt durch ein adaptives System, das die Einteilung, nach einer ersten Einschätzung durch die Lehrkraft, mit Hilfe eines Quotienten aus Fehlerquote und Lerntempo vornimmt. Die Fehlerquote bemisst sich dabei einerseits aus der Bewertung durch das System und andererseits durch die Bepunktung der Lehrkraft. Diese ist notwendig, da aufgrund der kompetenzorientiert angelegten Aufgabenstellungen nicht alle Formate zur automatisierten Bewertung geeignet sind, sodass individuelle Bewertungskriterien aufgestellt werden müssen. Das Besondere der Lernumgebung ist die Durchlässigkeit, sodass die einmal erfolgte Zuweisung zu einem Lerntyp nicht statisch ist, sondern als dynamischer Prozess gesehen werden kann, der im Zusammenspiel zwischen Lernumgebung und Lehrkraft adaptiv gestaltet wird.
2 Methodologischer Rahmen
Als methodologischer Rahmen der Forschung wurde der Design-Based Research (DBR) gewählt. Innerhalb des Forschungsprozesses werden sowohl die Praxisoptimierung als auch die Theorieentwicklung in den Blick genommen und miteinander verknüpft. So soll zum einen die Qualität des Religionsunterrichts durch die Konzeption der konkreten digitalen Lernumgebung gesteigert werden und zum anderen empirisch gestützte lokale Theorien entstehen, die für die Religionsdidaktik fruchtbar gemacht werden können und sich mit der individuellen Auseinandersetzung der Schüler*innen mit der biblischen Narration rund um die Figur Mose beschäftigen.
Um diese Ziele zu erreichen, verläuft der Forschungsprozess ausgehend vom theoretischen Kontext in mehreren praktischen Erprobungsphasen. Die digitale Lernumgebung soll dabei in max. drei Erprobungsphasen in der Praxis überprüft und anschließend (weiter-)entwickelt werden, indem sowohl Interviews mit der jeweiligen Lehrkraft durchgeführt werden als auch die Lernprozesse beobachtet und die Lernergebnisse im Sinne der Kompetenzorientierung analysiert werden.
3 Religionsdidaktische Gestaltprinzipien
Um die digitale Lernumgebung in der Praxis erproben und anschließend anschlussfähige Theorien entwickeln zu können, ist es im Kontext des DBR zentral, didaktische Gestaltprinzipien zu generieren, die im Folgenden exemplarisch dargestellt werden.
Thematisch orientiert sich die digitale Lernumgebung an der Exoduserzählung, welche im Rahmen der Dissertation als eigenständige narrative Einheit verstanden und thematisiert wird. Als narrative Einheit ist dabei ganz im Sinne Helmut Utzschneiders zwar eine Geschlossenheit, nicht aber eine Abgeschlossenheit zu verstehen (Utzschneider & Oswald, 2013, S. 23), sodass das biblische Narrativ innerhalb der digitalen Lernumgebung zwar als eigenständige Einheit dargeboten, bei der Konzeption jedoch immer im Gesamtkontext der Bibel betrachtet wird.
Die didaktische Konzeption der in der digitalen Lernumgebung präsentieren Aufgabenformate orientiert sich an der konstruktivistischen Religionsdidaktik, wodurch eine subjektorientierte Erforschung des Unterrichtsgegenstands erreicht wird, die das aktive Arbeiten am gleichen Gegenstand mit individuellen Lernwegen und Zugängen ermöglicht, ohne zu stigmatisieren (Büttner & Mendl, 2012, S. 39–40). Es gilt allerdings zu prüfen, inwiefern der konstruktivistische Ansatz vor allem für lernschwächere Schüler*innen genutzt werden kann.
Die inhaltliche Auseinandersetzung mit der biblischen Narration geht dabei, wie bereits erwähnt, über das rein religionskundliche Lernen hinaus. Vielmehr wird eine kompetenzorientierte Auseinandersetzung mit den Inhalten angeregt, die eine Verknüpfung von Text- und Lebenswelt auf Seiten der Schüler*innen gewährleistet. Zentral sind dabei besonders die Deutungs-, Wahrnehmungs- und Gestaltkompetenz, die in differenzierten Aufgaben gefördert werden. Wember (2014) hält fest, dass eine Vielfalt von variierenden Aufgaben „materialer Kern einer Lernumgebung“ (Wember, 2014, S. 5) für inklusive Settings ist, sodass eine digitale Lernumgebung für den inklusiven (Religions-)Unterricht multiple Möglichkeiten des Forderns und Förderns darbieten sollte. Besonders wichtig ist es jedoch, dass die Schüler*innen trotz der individuellen Förderung und Bereitstellung von differenziertem Material am gleichen Gegenstand arbeiten, sodass während des Lernens in der digitalen Lernumgebung immer auch Phasen des gemeinsamen Lernens im Plenum und der Kooperation in Kleingruppen möglich sind. So soll die im inklusiven Kontext oft diskutierte Spannung zwischen Individualisierung und Kooperation mitbedacht und entschärft werden. Zudem sind besonders für Kinder im Grundschulalter Bildschirmpausen wichtig. Jede Station beinhaltet dementsprechend mind. eine analoge sowie eine (analoge) kooperative Aufgabe zur Verknüpfung von analogem und digitalem Lernen sowie zur Förderung der Sozialkompetenz, die einen zentralen Stellenwert im Inklusionsdiskurs einnimmt.
In ihrer Forschung zu biblischen Geschichten konnte Juliane Keiser (2020) zeigen, dass „Gespräche zur Bedeutung der [biblischen] Texte auf einer Metaebene, die über die konkrete Erzählhandlung hinausgehen“ (Keiser, 2020, S. 120) nur in seltenen Fällen Bestandteil des Religionsunterricht sind. Angesichts dieses Ergebnisses liegt ein besonderes Augenmerk der digitalen Lernumgebung auf der kritischen Auseinandersetzung mit dem Wesen biblischer Texte und der daraus resultierenden Bedeutung der Exoduserzählung. Für viele Schüler*innen ist der schulische Kontakt mit der Bibel der Erstkontakt, sodass eine besondere Bedeutung der bibeldidaktischen Prozesse im Religionsunterricht deutlich wird (ebd., S. 112). Ziel ist es, die Schüler*innen mit dem Besonderen der biblischen Narration vertraut zu machen, sodass sie in der Lage sind, sich im Spannungsfeld zwischen realgeschichtlichen Verweisen auf der einen Seite und verdichteten Glaubenserzählungen auf der anderen Seite zu bewegen, diese zu deuten und auf ihr eigenes Leben zu beziehen. Dazu sollen sie zwischen Fiktion und Realität unterscheiden und die Exoduserzählung als Erzählung über Glaubenserfahrungen von Menschen mit Gott wahrnehmen.
Bereits vor der konkreten Auseinandersetzung mit dem Bibeltext wird den Schüler*innen ein Erklärvideo mit dem sozialgeschichtlichen Hintergrund der Exoduserzählung präsentiert, welches ihnen die Welt hinter dem Text (Brieden, Mendl, Reis & Roose, 2020, S. 8–10) offenlegt und das Eintauchen in die Lebenswelt der israelitischen Familien in Ägypten erleichtert, die den Ausgangspunkt zum Verstehen des Exoduserzählung darstellt. Solche Erklärvideos werden im Laufe der Lernprogression immer wieder eingesetzt, um den Schüler*innen den geschichtlichen Hintergrund der Erzählung näherzubringen.
Um anschließend eine an persönliche Erfahrungen anknüpfende, kindgerechte, religiöse Auseinandersetzung mit dem Bibeltext anzubahnen, muss auch die Textgrundlage an die Kompetenzen der Schüler*innen im Grundschulalter und deren Lebenswelt angepasst werden, was dazu führt, dass die kindliche Textgrundlage didaktische Modifikationen gegenüber dem ursprünglichen Bibeltext beinhaltet. Dabei werden die Texte auf Basis einer exegetischen Auslegung vierfach differenziert dargeboten, um allen Schüler*innen einen Zugang zum Text zu ermöglichen. Dabei ist zu bedenken, dass veränderte Texte immer subjektive Filterprozesse durchlaufen haben, die verschiedene Herausforderungen mit sich bringen (Wuckelt, 2018, S. 102–103). Dennoch ist es für inklusiven Religionsunterricht unabdingbar, die Texte an die sprachlichen Voraussetzungen der Schüler*innen anzupassen, da ansonsten keine Teilhabe am biblischen Narrativ ermöglicht werden kann. Die Textgestaltung ist dabei für alle Lerntypen so anzulegen, dass die zentralen (Glaubens-)Aussagen der Exoduserzählung im Text enthalten sind, sodass so viel wie nötig aber so wenig wie möglich geändert wird. Eine reine Orientierung an Regeln der Leichten Sprache ist somit nicht sinnvoll. Vielmehr geht es darum, die biblische Sprache in eine kindgerechte, religiöse Sprache zu übersetzen. Damit soll verhindert werden, dass zu stark vereinfachte Texte, die bspw. strikt nach den Regeln der Leichten Sprache verfasst wurden, exkludierend wirken, indem sie den Schüler*innen Zugang zu einer religiösen Sprache verwehren. Wuckelt gibt in ihrem Beitrag zur Leichten Sprache zu bedenken, dass sie „die Ausgrenzung von Menschen mit Lernschwierigkeiten fördern kann, wenn diese auf den zunehmend normierten Schreib- und Sprachstil der ‚Leichten Sprache‘ hin sozialisiert werden“ (ebd., S. 109). Innerhalb der Erprobungsphase(n) geht es dementsprechend darum, zu überprüfen, ob die Modifikationen der einzelnen Textteile lernfördernd und adressat*innengerecht sind und gleichzeitig das Elementare der Exoduserzählung mit Hilfe religiöser Sprache sichtbar machen können.
Zusätzlich zu der rein sprachlichen Differenzierung wird die Teilhabe aller Schüler*innen durch die Multimedialität digitaler Medien gefördert, indem die einzelnen Bibeltexte für Lerntyp C und D neben der visuellen Darstellungsform auch audiovisuell zur Verfügung stehen. Zudem besteht die Möglichkeit, sich die Erzählteile in Gebärdensprache darbieten zu lassen. So erhalten auch Schüler*innen mit Leseschwierigkeiten sowie Schüler*innen mit Hörbeeinträchtigungen, für die die Schriftsprache meistens die erste Fremdsprache ist, Zugang zum biblischen Narrativ. Um die Kommunikationsform des Erzählens dabei für alle Schüler*innen in den Fokus zu rücken, werden einzelne Passagen der Exoduserzählung als Video präsentiert. Durch die multimediale Darbietung verschiedener Zugänge zum biblischen Narrativ erhalten alle Schüler*innen die Gelegenheit, am religiösen Lernprozess teilzunehmen und sich den Bibeltext zu erschließen.
4 Ausblick
Anfang 2022 findet die erste Erprobungsphase in der schulischen Praxis statt, bei der die erste Station der digitalen Lernumgebung im Religionsunterricht der dritten Klasse erprobt, die oben aufgeworfenen Fragen geklärt sowie die angeschnittenen Gestaltprinzipien zur religionsdidaktischen Konzeption gefestigt und/oder weiterentwickelt werden. Im Anschluss daran erfolgt die didaktische Konzeption der zweiten Station, die die Ergebnisse aus der ersten Erprobungsphase integriert.
Literaturverzeichnis
Bosse, I. (2019). Digitalisierung und Inklusion. Synergieeffekte in der Schulentwicklung. SCHULE inklusiv. Vielfalt nutzen – Bildungsgerechtigkeit schaffen, (4), S. 4–9.
Büttner, G. & Mendl, H. (2012). Lernumgebung – religionspädagogisch durchbuchstabiert. In G. Büttner, H. Mendl, O. Reis & H. Roose (Hrsg.), Religion Lernen. Jahrbuch für konstruktivistische Religionsdidaktik (Bd. 3, S. 39–51). Babenhausen: LUSA.
Brieden, N., Mendl, H., Reis, O. & Roose, H. (2020). Biblische Welten: Einleitung. In ders. (Hrsg.), Biblische Welten. Jahrbuch für konstruktivistische Religionsdidaktik (Bd. 11, S. 7–10). Babenhausen: LUSA.
Keiser, J. (2020). „Müssen wir das jetzt so wörtlich nehmen?!“ – Eine Rekonstruktion der Bedeutungskonstruktion der Exodus-Erzählung im RU der Grundschule. In N. Brieden, H. Mendl, O. Reis & H. Roose (Hrsg.), Biblische Welten. Jahrbuch für konstruktivistische Religionsdidaktik (Bd. 11, S. 110–120). Babenhausen: LUSA.
Nord, I. & Palkowitsch-Kühl, J. (2017). RELab digital. Ein Projekt über religiöse Bildung in einer mediatisierten Welt. Heidelberg Journal of Religions on the Internet, (12), S. 60–92.
Utzschneider, H. & Oswald, W. (2013). Exodus 1–15. Stuttgart: Kohlhammer.
Wember, F. (2014). Lern- Lernmittel im inklusiven Unterricht. Begründete Vorschläge für einige zentrale Qualitätskriterien. URL: https://docplayer.org/106853906-Lehr-und-lernmittel-im-inklusiven-unterricht-begruendete-vorschlaege-fuer-einige-zentrale-qualitaetskriterien-franz-b-wember.html [Zugriff: 13.11.2021].
Wuckelt, A. (2018). Sprache schafft Wirklichkeit. Leichte Sprache – Inklusion oder Exklusion? In G. Büttner, H. Mendl, O. Reis & H. Roose (Hrsg.), Heterogenität im Klassenzimmer. Jahrbuch für konstruktivistische Religionsdidaktik (Bd. 9, S. 102–115). Babenhausen: LUSA.
Eileen Küthe, wiss. Mitarbeiterin und Doktorandin in der Religionspädagogik unter besonderer Berücksichtigung der Fachdidaktik, Institut für Katholische Theologie, Universität Vechta.