Der im November 2023 veröffentlichte Übersichtsband der sechsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD, 2023) bietet eine säkularisierungstheoretische Deutung des im Herbst 2022 erhobenen Datensatzes, die sich eng an die Arbeiten des Schweizer Religionssoziologen Jörg Stolz (2014 und 2021) anlehnt. Auf der Basis umfangreicher Cluster-Analysen unterscheidet Stolz vier Gestalten des (Un-)Glaubens:
„Die ‚Institutionellen‘ weisen eine Religionszugehörigkeit […] auf und messen dieser Zugehörigkeit auch eine persönliche Bedeutung für die eigene Religiosität, religiöse Praxis und Identität zu.
Die ‚Distanzierten‘ halten ebenfalls eine Religionszugehörigkeit (meist Kirchenzugehörigkeit) aufrecht, ohne allerdings diese Zugehörigkeit mit einer intensiveren persönlichen religiösen Überzeugung und Praxis im Alltag zu leben.
Die ‚Alternativen‘ verhalten sich spiegelbildlich zu den ‚Distanzierten‘: Sie gehören zwar zumeist keiner Kirche (mehr) an bzw. fühlen sich ihr nicht mehr zugehörig, pflegen aber individuell durchaus Formen von Spiritualität (z. B. holistische, synkretische und naturverbundene Glaubensüberzeugungen und Praktiken), die jenseits der offiziellen Angebote der großen Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften angesiedelt sind.
Die ‚Säkularen‘ zeigen sich im Gegensatz zu den anderen weder religionsgebunden noch ‚spirituell‘“. (Stolz, 2021, 115; vgl. dazu bereits Stolz, 2014, 65-78)
Das Schwinden von institutionalisierter Religion (im Blick sind vor allem die Kirchen in der Schweiz) wird nach Einschätzung des Forschungsteams um Stolz nicht durch individuelle oder alternative Formen von Religion ersetzt, worin eine Widerlegung der Individualisierungs- und Pluralisierungstheorie von Religion gesehen werden kann. Die „religiös-säkulare Konkurrenz in der Ich-Gesellschaft“ (Stolz, 2014, 20) habe u.a. zur Folge, dass es eine Reihe an Unvereinbarkeitskonflikten zwischen Kirchlich-Religiösen und den Säkularen gibt, die nicht nur bei Konfessionslosen zu der Einstellung führen, dass ein Leben ohne Religion grundsätzlich friedlicher verlaufen dürfte.
Die Kritik an der Kirche hat auch eine historische Dimension und kristallisiert sich nicht selten an der Zahl der Toten in den Kreuzzügen, an den Opfern der Konfessionskriege und an der Kriminalisierung von Frauen mit besonderen Begabungen, den sog. Hexenverfolgungen und -verbrennungen in der frühen Neuzeit. Entscheidend ist bei den drei ‚Ks‘ (und anderen religionsbezogenen Konflikten) der Eindruck, den diese hervorrufen: Eine Religion steht „gegen andere, eine Richtung innerhalb einer Religion streitet mit einer anderen, und die Ablehnung aller Religion kann sich als bessere Alternative gegenüber dem permanenten Streit der Religionen und religiösen Richtungen profilieren“ (Dalferth, 2011, 9). Zur Konflikthaftigkeit von Religion heißt es in der Schweizer Studie:
„Es sind heute aber weniger die alten konfessionellen Gräben als vielmehr neue politische Konflikte um religionsbezogene Themen und soziale Identitäten, die dem Faktor Religion seine zum Teil konfliktive Wirkung in der Schweizer Politik verleihen. Dort, wo Religion und Religionspolitik strittig und konfliktbeladen sind, speist sich der Konflikt zudem stärker aus der Politik selbst als aus dem religiösen Feld. Diese Einsichten dürften Konsequenzen sowohl für eine angemessene gesellschaftliche Problembearbeitung der Streitfragen als auch für die Revision des verbreiteten, aber falschen Bildes der Religionsgemeinschaften als Konfliktursache haben“ (Stolz, 2021, 144).
Die These von der Konkurrenz- und Konflikthaftigkeit von Religion ist nicht neu und führt zu der Frage nach dem Verhältnis ethischer und religiöser Bildung im Religionsunterricht. Die Beschäftigung mit Kriegen und Konflikten der Vergangenheit und Gegenwart erscheint zunächst als eine Kernaufgabe historischer und ethischer Bildung. Ausgehend von einem Frankfurter Verbundforschungsprojekt, das sich unter dem Titel „Dynamiken des Religiösen“ mit den vielfältigen Prozessen des Verstehens, des Missverstehens und der Verständigung in jüdischen, christlichen und islamischen Kontexten beschäftigt,[1] soll in diesem Beitrag ein anderer Akzent gesetzt werden: Es geht in den vier Hauptteilen des Beitrags vor allem um die verschiedenen Facetten des Verstehens und Missverstehens zwischen religiösen und nichtreligiösen Menschen auf der Mikro-Ebene der sozialen Interaktion. Wechselseitiges Verstehen gilt vielfach als eine Voraussetzung für gelingende Kooperation, während wechselseitiges Missverstehen Konkurrenzverhältnisse begründen und zu Konflikten führen kann. Konkurrenzverhältnisse sind in pluralistischen Gesellschaften der Normalfall und beleben – in der Sprache der Ökonomie – das Geschäft, auch auf dem religiösen Markt. Konflikte haben demgegenüber oft einen destruktiven Charakter.
Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit der „religiös-säkularen Konkurrenz“ als Kontext und Thema des Religionsunterrichts. Für eine „angemessene gesellschaftliche Problembearbeitung“ (Stolz, 2021, 144) in schulischen Kontexten erscheinen dafür die folgenden Leitfragen als weiterführend:
Welche Wertorientierungen und (alltags-)ethischen Einstellungen und Konfliktlinien sind typisch für Evangelische, Katholische und Konfessionslose in Deutschland?
Welche religionsbezogenen Konflikte lassen sich in konkreten Praxis- und Lebenszusammenhängen beschreiben?
Welche szientistischen, religionskritischen und ethischen Einstellungen führen zu Konflikten?
Welche religionsbezogenen Konflikte sind Folge eines Wertewandels oder Werteverfalls in der Gesellschaft?
Die Daten der KMU VI eröffnen eine Möglichkeit, diese Fragen evidenzbasiert zu beantworten und mit einer Auswahl vorhandener Studien in Beziehung zu setzen (im folgenden Beitrag vor allem Feige & Gennerich, 2008; Dalferth, 2011 und Wohlrab-Sahr, 2011). Die repräsentative, von forsa durchgeführte Datenerhebung fand im Herbst 2022 mit 5.282 Befragten statt (zum Design der KMU VI siehe EKD, 2023, 8-15 sowie Wunder, 2024). Zum Zeitpunkt der Datenerhebung zählte die amtliche Statistik in Deutschland 23 % Evangelische, die formal Mitglied in einer der 20 Landeskirchen der EKD sind (sog. EKD-Protestanten), 25 % Katholische, die der römisch-katholischen Kirche angehören, und 43 % Konfessionslose, die entweder aus einer Kirche ausgetreten sind oder nie einer Kirche angehört haben (EKD 2023, 9). Ca. 9 % der Bevölkerung gehören einer anderen Religionsgemeinschaft an, darunter eine nicht amtlich exakt erfasste Zahl an Muslimen, Juden und Jüdinnen, orthodoxe Christinnen und Christen und andere christliche Gemeinschaften wie die armenische und georgische Kirche und sog. Freikirchen. Dieses prozentuale Verhältnis im Rahmen der Gesamtbevölkerung bildet die KMU VI ab, sodass 1.225 Befragte Mitglieder einer evangelischen Landeskirche, 1.342 Befragte Mitglieder der römisch-katholischen Kirche und 2.277 keiner Religionsgemeinschaft zugehörig sind. 438 weisen ferner eine andere Religionszugehörigkeit auf. Erstmals wurden umfangreiche Daten zur wahrgenommenen Praxis religiöser Erziehung, Bildung und Sozialisation in Familien, Schulen und Gemeinden erhoben und ausgewertet. Allein 20 Items zum schulischen Religionsunterricht erlauben weiterführende, konfessionsvergleichende Analysen zu diesem Lernort (vgl. Ilg, 2023; Kießling, 2023; Hock. 2023; Hock & Käbisch, 2023a; Hock & Käbisch, 2023b; Hock, Käbisch, Kießling & Wunder, 2024). Mit Bezug auf diese Analysen werden in der Zusammenfassung des Beitrags Konsequenzen skizziert, die sich aus der „religiös-säkularen Konkurrenz“ für die Aufgaben ethischer und religiöser Bildung im Religionsunterricht ergeben.
1 Wertorientierungen und (alltags-)ethische Einstellungen: keine Konfliktlinien zwischen Evangelischen, Katholischen und Konfessionslosen
In bildungspolitischen Texten zur Zukunft des Religionsunterricht findet sich häufig die Aussage, dass konfessionell-kooperative Formate wichtig sind, um von bestehenden Differenzen zu lernen, konfessionelle Gräben zu überwinden oder zumindest Brücken des Verstehens zu bauen. Vergleichbare Metaphern finden sich auch in Texten zum gemeinsamen Lernen mit Konfessionslosen. Theologischer Ausgangspunkt der Argumentation für konfessionell-kooperative Formate des Lernens sind u.a. kontroverstheologische Themen wie das Kirchen-, Amts- und Sakramentenverständnis in den römisch-katholischen und evangelischen Kirchen oder gegenläufige kirchenamtliche Stellungnahmen zu umstrittenen ethischen Themen wie dem Schwangerschaftsabbruch, der sog. Sterbehilfe, der Segnung gleichgeschlechtlicher Paare oder der Flüchtlingspolitik. In entsprechenden Stellungnahmen wird deutlich, dass die beiden Großkirchen nach wie vor für sehr unterschiedliche Werte und ethische Prinzipien stehen können.
Fragt man demgegenüber nach den subjektiven Wertorientierungen, Kontrollüberzeugungen und (alltags-)ethischen Einstellungen von Evangelischen, Katholischen und Konfessionslosen, dann lassen sich keine Konfliktlinien zwischen Evangelischen, Katholischen und Konfessionslosen identifizieren. An Evidenz gewinnt dieser Sachverhalt bei Betrachtung der Mittelwerte zu diesen drei Aspekten. Abbildung 1 zeigt die Mittelwerte der drei Probandengruppen zu der Frage, wie sie selbst die Ähnlichkeit zu den zehn beschriebenen Personen einschätzen. Der Wertebereich erstreckt sich von Eins bis Sechs, wobei Eins keine Identifizierung mit der beschriebenen Person indiziert und Sechs eine vollkommene Identifizierung. Insbesondere bezüglich der Werte Universalismus, Wohlwollen und Sicherheit ist ein hohes Identifikationspotenzial zu konstatieren, das sich zwischen Evangelischen, Katholischen und Konfessionslosen nicht unterscheidet. Diese Tendenz führt sich bei den Fragen zur Konformität, Stimulation, Leistung, Hedonismus, Macht und Selbstbestimmung fort, die ebenfalls marginale Unterschiede in den Mittelwerten zeigen. Lediglich beim ersten Item, bei dem explizit Religion ins Spiel kommt, gibt es eine signifikant geringere Zustimmung auf Seiten der befragten Konfessionslosen.
Abbildung 1: Mittelwerte zu den zehn Items der Werteskala von Shalom Schwarz, Datensatz der KMU VI (2022)
Ein vergleichbares Bild ergibt sich in Abbildung 2, die die Mittelwerte zu externalen und internalen Kontrollüberzeugungen in einem Wertebereich von Eins bis Fünf visualisiert. Während der kleinste Wert eine geringe externale oder internale Kontrollüberzeugung widerspiegelt, zeigt der größte Wert eine hohe externale oder internale Kontrollüberzeugung an. Die externale Kontrollüberzeugung ist sowohl bei Konfessionsgebundenen als auch bei Konfessionslosen im Mittel auf einem niedrigen Niveau, dies betrifft gleichermaßen sozial-externale wie fatalistisch-externale Kontrollüberzeugungen. Internale Kontrollüberzeugen sind demgegenüber in allen Gruppen auf einem hohen Niveau.
Abbildung 2: Mittelwerte zu externalen und internalen Kontrollüberzeugungen, Datensatz der KMU VI (2022)
Zu einem vergleichbaren Bild gelangt die Auswertung der Mittelwerte zur Zustimmung zu ethischen Fragen wie dem Klimawandel, der Gleichstellung der Geschlechter, der Ehe von gleichgeschlechtlichen Paaren und dem Umgang mit Fremden in Abbildung 3. Die Mittelwerte, die in einem Wertebereich von Eins bis Vier liegen können, unterscheiden sich zwischen Evangelischen, Katholischen und Konfessionslosen lediglich marginal.
Abbildung 3: Mittelwerte zu Einstellungen zum Klimawandel, zur Gleichstellung der Geschlechter, zur Ehe von gleichgeschlechtlichen Paaren und zum Umgang mit Fremden, Datensatz der KMU VI (2022)
Bereits in Abbildung 1 wurde deutlich, dass Items durchschnittlich eine geringere Zustimmung von Konfessionslosen erhalten, sobald Religion explizit ins Spiel kommt. Dieses Bild gewinnt an Schärfe, wenn weitere Items mit religiöser Semantik betrachtet werden. Exemplarisch wird in Abbildung 4 die Zustimmung zu verschiedenen Arten des Gottesglaubens in prozentualen Häufigkeiten dargestellt, die deutliche Unterschiede im Antwortverhalten von Konfessionsgebundenen und Konfessionslosen zeigt. So befindet sich die Zustimmung bei Konfessionslosen zu einem christlichen Gottesglauben sowie zu einem Gottesglauben ohne Jesus Christus unter 10%. Konfessionsgebundene können beiden Arten des Gottesglaubens deutlich häufiger zustimmen. Diese Konkurrenz im Gottesglauben zeigt sich ferner in der Negation eines Gottes und einer höheren Macht. Dem können über 75% der Konfessionslosen zustimmen, während Katholische mit circa 69% und Evangelische mit circa 65 % dem widersprechen. Lediglich bei dem Item zum unbestimmten Glauben an eine höhere Macht gab es bei allen Befragten eine gleich geringe Zustimmungsquote.
Abbildung 4: Zustimmung in prozentualen Häufigkeiten zu Arten des Gottesglaubens, Datensatz der KMU VI (2022)
Insgesamt bestätigen die Daten der KMU VI die Ergebnisse einer 2008 erschienen Studie von Carsten Gennerich und Andreas Feige, in der über 8.000 evangelische, katholische, muslimische und konfessionslose Jugendliche an berufsbildenden Schulen befragt wurden. Hier und in der KMU VI lassen sich keine signifikanten Unterschiede im Antwortverhalten zwischen ost- und westdeutschen Konfessionslosen ausmachen. Konfessionslose und Konfessionsgebundene teilen weitgehend dieselben Wertvorstellungen, wobei neben den genannten Items aus der KMU VI in der Berufsschulstudie auch nach Präferenzen bei der Kindererziehung, der Paarbeziehung und beim Umgang mit Konflikten gefragt wurde. Konfessionslose gehen in beiden Studien auf Distanz, sobald in der Fragestellung oder in den Antwortmöglichkeiten eine religiöse Semantik ins Spiel kommt, ganz gleich, ob sie aus Ost- oder Westdeutschland stammen.
2 Konflikte in konkreten Praxis- oder Lebenszusammenhängen: Taufe und Konfirmation/Firmung, kirchliche Trauung und Bestattung sowie Ostern und Weihnachten
Die bisher besprochenen Items repräsentieren Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Denken der befragten Menschen. Konkurrierende Einstellungen und Wertorientierungen müssen nicht zwangsläufig zu Konflikten im Leben führen. Sie werden erst dann „zu Konflikten, wenn es um Vollzüge geht, in denen sie sich nicht gleichzeitig realisieren lassen, wenn also in konkreten Praxis- oder Lebenszusammenhängen Unterschiede aktiv so aufeinander treffen, dass es durch Unvereinbarkeiten im Was (Sachkonflikte), Wie (Methodenkonflikte), Wegen (Begründungskonflikte), Wozu oder Wofür (Zielkonflikte) zur Behinderung oder Verhinderung der betreffenden Vollzüge kommt“ (Dalferth, 2011, 9).[2]
Ausgehend von dieser Unterscheidung können auf der Basis der KMU-Daten Situationen auf der Mikro-Ebene der sozialen Interaktion analysiert werden, die bei Konfessionslosen (und keineswegs nur bei diesen) zu einer Ablehnung von Religion in konkreten Praxis- oder Lebenszusammenhängen führen können. Zur Differenzkompetenz, die zunächst eine Unterscheidung von religiösen und nichtreligiösen Welterschließungsperspektiven und damit eine Orientierung im Denken ermöglicht (vgl. Dressler, 2015 und 2020, in beiden Artikel in Abgrenzung zu einem Verständnis von Religionsunterricht als Ort der Wertevermittlung), muss damit eine altersangemessene Konfliktkompetenz treten. Diese bezieht sich auf interpersonelle Konflikte in der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen (vgl. Käbisch, 2023 und im Folgenden 2014, 132-138). Nichtreligiöse Lebensformen sollten daher im Religionsunterricht nicht abstrakt als Religionskritik, Atheismus oder Säkularismus unterrichtet werden. Konkrete Lebenszusammenhänge, in denen sich eine religiöse und nichtreligiöse Lebensorientierung konflikthaft unterscheiden, sind dafür besser geeignet. Stärker, als es bei den Items zu den Wertorientierungen und (alltags-)ethischen Einstellungen im ersten Teil dieses Beitrags der Fall war, soll daher am Beispiel der klassischen ‚Familienfeste‘ Taufe und Konfirmation/Firmung, kirchliche Trauung und Bestattung sowie Ostern und Weihnachten die konkrete Handlungsebene von religionsbezogenen Konflikten in den Blick kommen. Für diese Schwerpunktsetzung sprechen u.a. die Ergebnisse der KMU VI: „Auffällig ist, dass selbst dreiviertel der Konfessionslosen (73%) [einmal im Jahr] Kasualgottesdienste besuchen. Dazu passt, dass der Kasualgottesdienst nicht nur bei den Kirchlich-Religiösen (93%) großen Anklang findet, sondern auch bei den Distanzierten (90%), den Alternativen (82%) und den Säkularen (82%)“ (Hörsch et al., erscheint 2024, mit Bezug auf die eingangs vorgestellte Typologie von Stolz, 2014 und Stolz, 2021).
Bezogen auf die Taufbereitschaft sind die Differenzen zwischen den befragten Evangelischen und Katholischen der KMU VI gering. Sie unterscheidet sich jedoch signifikant von den Konfessionslosen, so dass Fragen nach dem Warum, Wozu oder Wofür der Taufe, d.h. Begründungs-und Zielkonflikte vor allem in Partnerschaften mit einem konfessionsgebundenen und konfessionslosen Elternteil typisch sind: „Während die Taufbereitschaft bei konfessionell homogenen Partnerschaften bei jeweils ca. 75% und bei evangelisch-katholischen Partnerschaften noch bei 62% liegt, beträgt die Taufbereitschaft lediglich 36%, wenn die Partnerschaft aus eine:m Konfessionslosen und aus eine:m Kirchenmitglied besteht und sogar nur 6% bei homogen konfessionslosen“ (Fuhrmann, Gutmann, Jacobi, Lämmlin, erscheint 2024). Abbildung 5 zeigt entsprechend die Taufbereitschaft von Evangelischen, Katholischen und Konfessionslosen in prozentualen Häufigkeiten, die bei Konfessionsgebundenen etwa viermal so hoch ist wie bei Konfessionslosen.
Abbildung 5: Taufbereitschaft in prozentualen Häufigkeiten, Datensatz der KMU VI (2022)
Deutliche Unterschiede zeigen sich bei den angegebenen Gründen und Zielen der Konfirmation bzw. Firmung zwischen den älteren und jüngeren Befragten, so dass auch hier mit typischen Begründungs-und Zielkonflikte zu rechnen ist: „Während bei den über 70-Jährigen die familiäre Konvention (‚Weil das in meiner Familie so üblich ist‘) von drei von vier evangelischen Befragten bejaht wird (‚trifft voll zu‘), sinkt die Zustimmung dazu bei den 14- bis 29-Jährigen auf knapp die Hälfte. Umgekehrt wächst die Zustimmung zum Grund des familiären Festes (‚Weil ich das damit verbundene Familienfest feiern wollte‘) von etwas mehr als der Hälfte bei den 60- bis 69-Jährigen (‚trifft voll und trifft eher zu‘) auf drei von vier bei den 14- bis 29-Jährigen“ (Fuhrmann, Gutmann, Jacobi, Lämmlin, erscheint 2024). Abbildung 6 und 7 zeigen entsprechend die Zustimmung zu Konfirmations- bzw. Firmungsgründen bei Evangelischen, Katholischen und Konfessionslosen in prozentualen Häufigkeiten.
Abbildung 6: Manifeste und latente Zustimmung zu Gründen für die Konfirmation in prozentualen Häufigkeiten, Datensatz der KMU VI (2022)
Abbildung 7: Manifeste und latente Zustimmung zu Gründen für die Firmung in prozentualen Häufigkeiten, Datensatz der KMU VI (2022)
Bezogen auf kirchliche Trauungen zeigt sich ein ähnliches Bild wie bei der Taufbereitschaft. Auch hier ist daher mit Begründungs- und Zielkonflikten vor allem in Partnerschaften mit einem konfessionsgebundenen und konfessionslosen Teil zu rechnen. Bei konfessionell homogenen Partnerschaften liegt der Anteil kirchlicher Trauungen noch vergleichsweise hoch, sinkt bei Partnerschaften mit einer bzw. einem Konfessionslosen und ist am geringsten bei homogen Konfessionslosen. Gemeinsam ist allen Paaren heute in der Regel der Wunsch nach einer sorgfältigen Inszenierung der eigenen Hochzeit; fraglich ist jedoch, ob zum Erreichen dieses Ziels die „Dienstleistung“ einer Kirchgemeinde oder Pfarrperson notwendig sind, was sich als Methodenkonflikt, d.h. als Konflikt um das Wie der Inszenierung beschreiben lässt. Unverkennbar ist der abnehmende Anteil evangelischer Trauungen an der Gesamtzahl: „2015 lag der Anteil evangelischer Trauungen in Deutschland bei 11%, nachdem er 1990 noch bei 27% und 2000 bei 17% gelegen hatte“ (Fuhrmann, Gutmann, Jacobi, Lämmlin, erscheint 2024). Abbildung 8 zeigt entsprechend den Wunsch von Evangelischen, Katholischen und Konfessionslosen nach einer kirchlichen Trauung in prozentualen Häufigkeiten, der bei Konfessionsgebundenen etwa siebenmal so hoch ist wie bei Konfessionslosen.
Abbildung 8: Bereitschaft zur kirchlichen Trauung in prozentualen Häufigeiten, Datensatz der KMU VI (2022)
Wenn eine verstorbene Person nicht die Umstände der eigenen Trauerfeier vor dem Tod geregelt hat, kommt es häufig zu Konflikten unter den Angehörigen. Diese müssen sich nun in kurzer Zeit über eine kirchliche oder nichtkirchliche Trauerfeier verständigen. Wie bei Taufen und Trauungen setzen sich dabei in der Tendenz die Wünsche derjenigen durch, die mit Kirche und Religion wenig anfangen können. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Items zur kirchlichen Bestattung als Mitgliedschaftsgrund. Die Aussage, „Ich bin in der Kirche, weil ich einmal kirchlich bestattet werden möchte“, bejahen in der KMU VI 36 % der Evangelischen und 35% der Katholischen, was eine Halbierung dieses Mitgliedschaftsgrundes gegenüber der KMU V (2012) darstellt (Fuhrmann, Gutmann, Jacobi, Lämmlin, erscheint 2024). In den beiden letzten KMUs wurde zudem gleichlautend die Frage „Wünschen sie sich selbst einmal eine kirchliche Bestattung?“ gestellt. Abbildung 9 zeigt entsprechend die Mittelwerte der Zustimmung von Evangelischen, Katholischen und Konfessionslosen zu dieser Frage in prozentualen Häufigkeiten, die sich mit dem Wunsch nach einer Taufe sowie nach einer kirchlichen Trauung vergleichen lassen.
Abbildung 9: Kirchlicher Bestattungswunsch in prozentualen Häufigkeiten, Datensatz der KMU VI (2022)
Neben Kasualgottesdiensten gehört der Kirchgang zu Weihnachten und Ostern zu den am häufigsten genannten Gottesdienstanlässen in der KMU VI. Auch hier gibt es vor allem in der Adventszeit einen von allen geteilten Wunsch nach einer sorgfältigen Inszenierung des Familienfestes. Abbildung 10 zeigt entsprechend den Besuch von Weihnachts- und Ostergottesdiensten von Evangelischen, Katholischen und Konfessionslosen, die mindestens einmal im Jahr Gottesdienste besuchen, Abbildung 11 deren Besuch differenziert nach vier Formen des (Un-)Glaubens von Stolz in prozentualen Häufigkeiten. Hervorzuheben ist, dass der Weihnachtsgottesdienst für Konfessionslose eine vergleichbar hohe Bedeutung wie für Konfessionsgebundene hat. Ferner besuchen neben den Kirchlich-Religiösen auch die sog. Distanzierten, die Säkularen und die Alternativen Weihnachtsgottesdienste. Der Besuch von Ostergottesdiensten ist gegenüber Weihnachtsgottesdienste weniger beliebt, führt aber ebenfalls zu interessanten Ergebnissen. So wird auch der Ostergottesdienst nicht allein von Kirchlich-Religiösen besucht, sondern mit jeweils etwa 40% auch von Distanzierten und Alternativen (siehe auch Hörsch u.a., erscheint 2024, mit Bezug auf die Typologie von Stolz 2014 und Stolz 2021). Die Ergebnisse differenzieren den Eindruck eines radikalen Traditionsabbruches auf Seiten der Konfessionslosen und Säkularen und machen deutlich, dass religiöse Praktiken auch jenseits der kirchlich-religiösen Kerngemeinde verbreitet sind.
Abbildung 10: Besuch des Oster- und Weihnachtsgottesdienstes in prozentualen Häufigkeiten, Datensatz der KMU VI (2022)
Abbildung 11: Besuch des Oster- und Weihnachtsgottesdienstes in prozentualen Häufigkeiten, Datensatz der KMU VI (2022)
Ausgehend von den beschriebenen ‚Familienfesten‘ kann dann von einem interpersonellen Konflikt gesprochen werden, wenn zwei oder mehr Menschen in eine Situation geraten, in denen sich zwei Lebensformen bzw. -orientierungen nicht gleichzeitig realisieren lassen. Man kann nicht ein Kind taufen und gleichzeitig nicht taufen, den Konfi-Unterricht besuchen und zugleich nicht besuchen, vor den Traualtar treten und gleichzeitig fernbleiben oder eine Pfarrperson um die Bestattung eines Angehörigen bitten und gleichzeitig nicht. Auch der gemeinsame Gang in einen Weihnachts- oder Ostergottesdienst erfordert eine Entscheidung für das Eine oder das Andere. Die dahinterstehenden Lebensorientierungen lassen sich gleichzeitig nur an verschiedenen Orten oder nacheinander am selben Ort realisieren (Dalferth, 2011, 12-13). In konkreten, d. h. zeitlich und räumlich definierten Lebenszusammenhängen können daher Unterschiede so aufeinandertreffen, dass Menschen nicht nur Differenzen zwischen dem eigenen und fremden Denken und Fühlen erkennen, sondern auf der Handlungsebene in Unvereinbarkeitskonflikte geraten. Die postmoderne Konfliktvermeidungsstrategie des Sowohl-als-Auch stößt daher auf dem Feld der religiösen Praxis an Grenzen. Ganz gleich, ob die beschriebenen Konflikte eher auf der Sach-, Methoden-, Begründungs- oder Zielebene liegen: Stets brechen dabei auch „Machtfragen auf, weil ein Vollzug nur möglich wird, wenn sich das eine gegen das andere oder ein Drittes gegen beides durchsetzt“ (Dalferth, 2011, 9). Die aktuelle KMU macht dabei erneut deutlich: In den von „Machtfragen“ begleiteten Aushandlungsprozessen bei der Gestaltung von Familienfesten setzten sich tendenziell die Konfessionslosen mit ihren Vorstellungen durch.[3]
3 Szientistische, religionskritische und ethische Einstellungen bei Evangelischen, Katholischen und Konfessionslosen: Religionsbezogene Sachkonflikte im Ost-West-Vergleich
Unterschiedliche Vorstellungen bei der Gestaltung von Familienfesten können „zur Behinderung oder Verhinderung der betreffenden Vollzüge“ führen, die manchen wichtig sind, anderen hingegen nicht;neben den beschriebenen Methoden-, Begründungs- und Zielkonflikten können dabei auch „Unvereinbarkeiten im Was“, d.h. sog. Sachkonflikte eine Rolle spielen (zu dieser Unterscheidung nochmals Dalferth, 2011, 9). Am Beispiel von szientistischen und religionskritischen Einstellungen kann ein Sachkonflikt auf dem Feld der Religion näher beschrieben werden. Abbildung 12 zeigt dazu die prozentualen Zustimmungswerte der in der KMU VI befragten Evangelischen, Katholischen und Konfessionslosen zu drei Items, die sich auf szientistische und religionskritische Einstellungen beziehen. Szientistische und religionskritische Einstellungen finden bei Konfessionslosen die höchste Zustimmung, während sie bei Evangelischen und Katholischen deutlich geringer ausfällt.
Abbildung 12 Manifeste und latente Zustimmung zu szientistischen und religionskritischen Einstellungen in prozentualen Häufigkeiten, Datensatz der KMU VI (2022)
Szientistische und religionskritische Einstellungen können in Ostdeutschland als eine Nachwirkung der staatlich forcierten Säkularisierung in der DDR gelten. Auf der Grundlage von 24 Familiengesprächen, an denen in der Regel drei Generationen einer ostdeutschen Familie teilgenommen haben, und 24 narrativen Einzelinterviews konnten Monika Wohlrab-Sahr, Uta Karstein und Thomas Schmidt-Lux (2009) nachweisen, dass „das Label der ‚erzwungenen Säkularisierung‘ zwar als Beschreibung der politischen Maßnahmen und ihrer Effekte angemessen sein mag, dass es den sozialen Prozess, der damit verbunden war, aber nur unzureichend erfasst“ (Wohlrab-Sahr, 2011, 160). Denn auch in einer Diktatur seien die Menschen in der Lage gewesen, sich aktiv mit den staatlich propagierten Religionstheorien und vermeintlich objektiven Kirchenaustrittsgründen auseinanderzusetzen. Die Nachhaltigkeit der staatlich forcierten Säkularisierung in Ostdeutschland könne demnach nur damit erklärt werden, dass sie bei den Menschen auf Akzeptanz stieß und subjektiv angeeignet wurde. Dazu schreibt das Forschungsteam um Wohlrab-Sahr: „Auch wenn diese Konfliktebene große Nähe zu den offiziellen ideologischen Programmen [in der DDR] aufweist, erwies sie sich in unserem Material für die Frage nach der subjektiven Aneignung insofern als relevant, als sie – jenseits der politischen Programmatik – anschließt an die Perspektiven der Aufklärung und des alle Schranken überwindenden ‚Wissens‘, die für die befragten Personen auch subjektiv relevant waren“(Wohlrab-Sahr, Karstein & Schmidt-Lux, 2009, 151).
Abbildung 13 gibt vor dem Hintergrund der Einsichten der qualitativen Interviewstudien einen Einblick in die Zustimmungsquote zu szientistischen und religionskritischen Einstellungen in den vier Großregionen, die in der KMU VI unterschieden werden. Erwartungsgemäß finden die beiden Aussagen, dass das moderne wissenschaftliche Weltbild Religion überflüssig gemacht habe und Religion mehr schade als nütze, in Ostdeutschland die höchste Zustimmung (jeweils ca. 52 %), gefolgt vom Norden (ca. 44% und ca. 46%), mittleren Westen (ca. 38% und ca. 41%) und Süden (ca. 36% und ca. 39%). Marginale Unterschiede zwischen den Regionen bestehen demgegenüber bei der Aussage, dass es misstrauisch mache, wenn Menschen sehr religiös seien.
Abbildung 13: Manifeste und latente Zustimmung zu szientistischen und religionskritischen Einstellungen in prozentualen Häufigkeiten, Datensatz der KMU VI (2022)
Neben szientistischen und religionskritischen Einstellungen identifizierte das Forschungsteam um Wohlrab-Sahr in den ostdeutschen Familieninterviews auch einen Sachkonflikt um Ethik und Moral im Gewand eines ethischen Universalismus. In einigen Passagen brachten die Interviewten die Einschätzung zum Ausdruck, dass es im Christentum und im Sozialismus „ja doch um die gleichen moralischen Prinzipien“ gehe; dieses Argument sei „im Kern kein universalistisches, sondern eines, das letztlich auf die Überflüssigkeit der christlichen Prinzipien zielt, weil sie im Kommunismus ohnehin aufgehoben seien“ (Wohlrab-Sahr, 2011, 152-153).
Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein erneuter Blick auf die Abbildungen 1, 2 und 3 zu den in der KMU VI untersuchten Wertorientierungen und (alltags-)ethischen Einstellungen. Aus den Daten geht hervor, dass Evangelische, Katholische und Konfessionslose die gleichen Werte teilen und bei ethischen Fragestellungen (Klimawandel, Gleichstellung der Geschlechter, Ehe von gleichgeschlechtlichen Paaren und Umgang mit Fremden) zu ähnlichen Einschätzungen gelangen. Bezogen auf ethische Einstellungen bestehen als keine Unvereinbarkeiten im Was (sog. Sachkonflikte), sondern im Wie (sog. Methodenkonflikte). Man kann also, vereinfacht gesagt, auch ein guter Mensch sein, ohne einer Kirche anzugehören. Das gemeinsam erkannte Gute lässt sich auch ohne christlichen Glauben erreichen.
4 Konflikte zwischen „Offenheit“ für Neues und „Bewahrung“ von Bewährtem, „Selbst-Steigerung“ und „Selbst-Transzendenz“: Die These vom Wertewandel auf dem Prüfstand
Die Daten der KMU VI können nicht nur dabei helfen, potentielle Konfliktlinien im Umfeld von Familienfesten zu beschreiben sowie szientistische, religionskritische und ethische Einstellungen zu analysieren. Sie sind auch dazu geeignet, die komplexen Zusammenhänge mit den dahinterstehenden Wertorientierungen in den Blick zu nehmen. Wird mit Helmut Klages (1984) von einem kontinuierlichen Wandel konkurrierender Werte in der modernen Gesellschaft ausgegangen, dann kann vermutet werden, dass eine religiöse Lebensorientierung nicht mit neuen Werten vereinbar sei. Die Kirche wird in dieser Perspektive gleichsam ein Opfer des unaufhaltsamen Wertewandels, wenn sie sich nicht den Selbstentfaltungswerten in der „Ich-Gesellschaft“ (Stolz, 2014, 20) öffnet und Werte wie die konsequente Gleichstellung von Mann und Frau bejaht (zum Begriff „Wertewandel“ siehe Wagensommer, 2020, 115-119). Einen anderen Akzent als Klages setzt demgegenüber die Theorie allgemeiner menschlicher Werte nach Shalom H. Schwartz (1992). Schwartz widerspricht der These vom Wertewandel und geht davon aus, dass sich Wertkonflikte zeit- und kulturübergreifend immer zwischen zwei Polpaaren abspielen: Einerseits zwischen den Polen „Offenheit“ für Neues und „Bewahrung“ von Bewährtem, andererseits zwischen den Polen „Selbstentfaltung“ bzw. „Selbst-Steigerung“ und „Selbst-Transzendenz“.
Selbstentfaltungswerte sind heute längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen und bestimmen den gesellschaftlichen Mainstream (Ahrens, 2014, 296). Ausgehend von der These vom Wertewandel stellt sich daher die Frage, welche Entwicklungstrends sich bei den Wertorientierungen seit der Jahrtausendwende nachweisen lassen (zu dieser Fragestellung siehe auch Wagensommer, 2020, 127-128). Für die Beantwortung dieser Frage wurden in der KMU VI sieben Items nach Klages ausgewählt, die mit dem ALLBUS von 2002 und 2012 in Beziehung gesetzt werden können (vgl. Ahrens, Anselm, Gennerich & Käbisch, 2024). Abbildung 14 zeigt die Mittelwerte zu diesen wertbezogenen Items, wobei Eins eine Ablehnung und Sieben eine Zustimmung zu dem jeweiligen Wert indiziert. Zu konstatieren ist, dass seit 2002 keine grundlegenden Veränderungen bei den Wertorientierungen nachgewiesen werden können. Hohe Zustimmung erfahren nach wie vor die Werte „Nach Sicherheit streben“ (Pflicht- u. Akzeptanz) und „eigene Fantasie und Kreativität entwickeln“ (Selbstentfaltung), während materialistische Orientierungen (Lebensstandard, Macht und Einfluss) in der Selbsteinschätzung der Befragten von nachgeordneter Bedeutung sind.
Abbildung 14: Wertorientierungen nach Klages 1984 im Zeitvergleich aus Ahrens, Anselm, Gennerich, Käbisch, 2024, Datensatz der KMU VI (2022)
Abbildung 15 dokumentiert die Mittelwerte zu den sieben wertbezogenen Items nach Klages bei Evangelischen, Katholischen und Konfessionslosen in der KMU VI. Analog zu der vorherigen Abbildung spiegelt der niedrigste Wert eine Ablehnung wider, während der höchste Zustimmung indiziert. Dabei wird das Gesamtbild bestätigt, das sich bereits aus den Abbildungen 1, 2 und 3 in diesem Beitrag ergeben hat: Zwischen Evangelischen, Katholischen und Konfessionslosen lassen sich keine nennenswerten Unterschiede auf dem Feld der Wertorientierungen belegen.
Abbildung 15: Mittelwerte zu Wertorientierungen nach Klages 1984 differenziert nach Konfessionszugehörigkeit, Datensatz der KMU VI (2022)
Ausgehend von diesem Befund lohnt es sich daher abschließend, nochmals einen Blick auf die Items der Werteskala von Shalom H. Schwarz (siehe Abbildung 1) zu werfen und diese im Wertefeld zwischen „Offenheit“ und „Bewahrung“ sowie zwischen „Selbst-Steigerung“ und „Selbst-Transzendenz“ zu verorten. Abbildung 16 macht in diesem Zusammenhang deutlich, dass die Daten der KMU VI in Bezug auf Schwartz' theoretisches Modell eine starke Übereinstimmung aufweisen. So wird auch in dem vorliegenden Datensatz die Konkurrenzstruktur zwischen den differierenden Wertorientierungen deutlich. Die erste Dimension umfasst zwei verschiedene Wertetypen, "Offenheit für Wandel" und "Bewahrung". In dieser Dimension stehen Werte, die unabhängiges Denken und Handeln sowie Vielfalt und Chancen betonen, im Gegensatz zu Werten, die Gehorsam und Selbstbeschränkung, die Erhaltung und die Wahrung von Sicherheit und traditionellem Handeln hervorheben. Die zweite Dimension wird durch die Wertetypen "Selbst-Transzendenz" und „Selbst-Steigerung“ gebildet. Hier werden Werte, die die Akzeptanz anderer als gleichberechtigte Individuen und das Wohlwollen gegenüber anderen hervorheben, Werten gegenübergestellt, die ein Streben nach persönlichem Erfolg und Dominanz über andere repräsentieren (Schwartz & Sagiv, 1995, 95). Lediglich die Items zu Macht und Konformität weichen im Datensatz der KMU VI marginal von den Positionen im Modell ab, wobei diese Abweichungen jedoch keinen wesentlichen Einfluss auf den Inhalt der Wertedimensionen haben.
Abbildung 16 Plot der Faktorladungen der zehn ipsatierten Werteitems[4] nach Schwartz, aus Ahrens, Anselm, Gennerich, Käbisch, 2024, zu den zehn Items der Schwartz-Skala vgl. Abbildung 1, Datensatz der KMU VI (2022).
Ausgehend von diesen Befunden veranschaulicht Abbildung 17, dass Evangelische, Katholische und Konfessionslose keine konkurrierenden Positionen einnehmen, sondern vielmehr in allen Feldern mehr oder weniger gleichmäßig vertreten sind. Dass die Konkurrenz in den Gruppen und nicht zwischen ihnen stattfindet, könnte über den Fokus dieses Beitrags hinaus zusätzlich durch Standardabweichungen in Abbildung 1,2,3 verdeutlicht werden. In der Gruppe der Statussuchenden, die stärker als andere an den Werten „Bewahrung“ und „Selbst-Steigerung“ orientiert sind, sind beispielsweise die Katholischen mit 25% am häufigtsten vetreten, knapp gefolgt von den Evangelischen mit 22% und den Konfessionslosen mit 22%.
Abbildung 17: Evangelische, Katholische und Konfessionslose im Wertefeld zwischen „Offenheit“ und „Bewahrung“ sowie zwischen „Selbst-Steigerung“ und „Selbst-Transzendenz“, Datensatz der KMU VI (2022)
Auch wenn eine ausführliche Diskussion dieser Daten an dieser Stelle nicht möglich ist, wird deutlich, dass die Wertorientierungen und ethischen Einstellungen von Protestanten, Katholiken und Konfessionslosen nahe beieinander liegen und sich nur graduell, aber nicht kategorial voneinander unterscheiden (dazu ausführlich Ahrens, Anselm, Gennerich & Käbisch, 2024).[5]
5. Zusammenfassung und Thesen
Im Spiegel der sechsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD kann die „religiös-säkulare Konkurrenz“auf der Mikro-Ebene der sozialen Interaktion differenziert beschrieben werden. Dabei wurde deutlich, dass nicht jede Konkurrenz im Denken (Wertorientierungen, Einstellungen etc.) zu einem Konflikt im Leben führen muss. Jede Konkurrenz birgt jedoch (z.B. bei der Entscheidung eines Paares für oder gegen die Taufe und/oder Konfirmation/Firmung eines Kindes, aber auch bei anderen ‚Familienfesten‘) ein Konfliktpotential in sich.
Bezogen auf die Wertorientierungen und (alltags-)ethischen Einstellungen von Evangelischen, Katholischen und Konfessionslosen wurde deutlich, dass zwischen diesen Gruppen keine wertbezogenen Konfliktlinien bestehen. Religionsbezogene Konflikte zwischen „Offenheit“ für Neues und „Bewahrung“ von Bewährtem bzw. zwischen „Selbst-Steigerung“ und „Selbst-Transzendenz“ werden vielmehr in diesen Gruppen ausgetragen und liegen damit quer zur Konfessionszugehörigkeit. Einen weiteren Anlass für religionsbezogene Konflikte bieten darüber hinaus szientistische und religionskritische Einstellungen, die vor allem für die Gruppe der „Säkularen“ unter den Konfessionslosen (Stolz 2014) typisch sind. Auch wenn szientistische und religionskritische Einstellungen bei Konfessionslosen eine höhere Zustimmung finden, zeigt sich auch hier, dass die Konfliktlinien prinzipiell nicht zwischen, sondern innerhalb der drei Gruppen verlaufen.
Die didaktischen Konsequenzen, die sich aus den beschriebenen religionsbezogenen Konflikten und der „religiös-säkularen Konkurrenz“ (Stolz 2014) für die Aufgaben ethischer und religiöser Bildung im Religionsunterricht ergeben, sollen in Übereinstimmung mit den vier Leitfragen abschließend in Thesenform zusammengefasst werden:
Bezogen auf Wertorientierungen und (alltags-)ethische Einstellungen sollten im Religionsunterricht keine Konfliktlinien zwischen Evangelischen, Katholischen und Konfessionslosen konstruiert werden. Vielmehr sollten Aufgabenformate im Zentrum stehen, in denen Stereotype, Vorurteile und Ressentiments gegenüber den vermeintlich typischen Wertorientierungen und Einstellungen anderer Menschen zum Thema werden. Diese stellen insbesondere für die Gruppe der religionsfeindlichen Säkularen (Stolz, 2014) und für das interreligiöse Lernen eine didaktische Herausforderung dar. Der Verweis auf gemeinsam geteilte Werte kann in diesem Zusammenhang ein erster Schritt sein, um Stereotype, Vorurteile und Ressentiments abzubauen und konstruierte Feindbilder zu dekonstruieren (vgl. dazu Khorchide, Lindner, Roggenkamp, Sajak & Simojoki, 2022).
Die Beschäftigung mit dem Thema im Religionsunterricht sollte sich nicht auf die großen religionsbezogenen Konflikte in historischer Perspektive beschränken (Kreuzzüge, Konfessionskriege etc.). Es gilt vielmehr, religionsbezogene Konflikte in lebensweltnahen Anforderungssituationen zu thematisieren und mit entsprechenden Fall-Vignetten qualitativ zu erforschen. Dafür bieten sich in besonderer Weise Konflikte im Umfeld der Taufe, Konfirmation/Firmung, Trauung, Bestattung sowie Ostern und Weihnachten an, da diese ihren ‚Sitz im Leben‘ in der Familie haben. Unter religionsdidaktischen Gesichtspunkten ist dabei darauf zu achten, dass Unterrichtssetting gefunden werden, in denen sich religiöse und nichtreligiöse Festsymbole, Symbolhandlungen, Rituale und Narrative wechselseitig erschließen können.
Szientistische und religionskritische Einstellungen müssen im Religionsunterricht thematisiert werden, da sie nicht nur in der Gruppe der Säkularen (Stolz, 2014) auf Zustimmung stoßen. Das besondere Potential einer Didaktik des Perspektivenwechsels besteht in diesem Zusammenhang darin, dass keine Konkurrenz zwischen religiösen und nichtreligiösen Modi der Welterschließung konstruiert wird. Schülerinnen und Schüler können vielmehr durch geeignete Aufgabenformate lernen, was sich an der Bewertung eines Sachverhalts oder (scheinbaren) Konflikts ändert, wenn er aus einer naturwissenschaftlichen, politischen, rechtlichen, ökonomischen, ästhetischen, ethischen oder religiösen Perspektive betrachtet wird. Religionsunterricht in diesem Sinn ist kein Werte-, sondern Welterschließungsunterricht (vgl. Dressler, 2015).
Da Konflikte zwischen „Offenheit“ für Neues und „Bewahrung“ von Bewährtem sowie zwischen „Selbst-Steigerung“ und „Selbst-Transzendenz“ innerhalb den Konfessionen und Religionen ausgetragen werden, müssen im Religionsunterricht die Vielfalt an Strömungen, Richtungen und Wertorientierungen innerhalb der Konfessionen und Religionen zur Sprache kommen. Diese Pluralitätssensibilität der Lehrenden betrifft auch die Vielfalt an Strömungen, Richtungen und Wertorientierungen in der Gruppe (bzw. Residualkategorie) der Konfessionslosen bzw. Säkularen.
Die dargestellten Befunde der KMU VI verbieten es, Konfessionsgebundene und Konfessionslose oder „Religiöse“ und „Säkulare“ dichotomisch gegenüberzustellen. Gleichwohl kann von einer „religiös-säkularen Konkurrenz“ (Stolz, 2014) gesprochen werden, da religiöse und nicht-religiöse Lebensorientierungen (z.B. bei der Gestaltung von Familienfesten mit und ohne ‚Religion‘) aneinander geraten können. Eine altersgemäße Konfliktkompetenz darf sich freilich nicht nur auf das Verstehen von Konflikten, d. h. auf das denkerische Nachvollziehen von Konfliktursachen und Konfliktebenen beziehen. Sie sollte auf der Handlungsebene auch einen Weg zum friedensdienlichen Umgang mit Konflikten weisen, und sei es im unterrichtlichen Modus des Probehandelns, das zukünftige Konfliktsituationen antizipiert. Die pädagogisch viel beschworene ‚Anerkennung von Differenzen‘ kann zwar eine konfliktreduzierende oder konfliktregulierende Funktion übernehmen; aber selbst wenn Menschen die Vielfalt und Heterogenität religiöser und nichtreligiöser Lebensformen anerkennen, werden Konflikte unvermeidlich bleiben.
Diese Einsicht in begrenzte menschliche Möglichkeiten ist selbst eine religiöse Grundhaltung bzw. theologische Einsicht, die u.a. in der Bitte um Frieden im Gebet, aber auch in anderen religiösen Symbolen, Symbolhandlungen und Ritualen zum Ausdruck kommen kann. Wenn es dem Religionsunterricht gelingt, diese Dimension von Religion gegenüber nichtreligiösen Modi der Welterschließung und ethischen Strategien der Konfliktbearbeitung zur Geltung zu bringen, leistet er nicht nur einen beliebigen, sondern seinen spezifischen Beitrag zur Allgemeinbildung aller Schülerinnen und Schüler.
Literaturverzeichnis
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Johanna Hock, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Religionspädagogik und Didaktik des evangelischen Religionsunterrichts, Goethe Universität Frankfurt am Main.
Prof. Dr. David Käbisch, Professor für Religionspädagogik und Didaktik des evangelischen Religionsunterrichts, Goethe Universität Frankfurt am Main.
Weitere Informationen zu dem von Birgit Emich und Christian Wiese initiierten und geleiteten Verbundprojekt siehe dynamiken-des-religioesen.uni-frankfurt.de [Lesedatum: 27. Oktober 2023].
Mit den KMU-Daten lassen sich potentielle Konfliktfelder im Umfeld von Familienfesten identifizieren. Die Daten geben jedoch keine Auskunft über tatsächliche Konfliktverläufe bei konkurrierenden ethischen und religiösen Einstellungen oder Wertvorstellungen. In Abgrenzung zu den neun Stufen der Konflikteskalation nach Friedrich Glasl (2022, 99-121), die für die Analyse von macht- und gewaltförmigen Konflikten u.a. im politischen Bereich geeignet sind, folgen wir dem Konfliktbegriff von Dalferth (2011) und Wohrab-Sahr (2011). Bei beiden sind Situationen im Blick, in denen eine Entscheidung zwischen zwei Optionen ausgehandelt werden muss, die sich nicht gleichzeitig realisieren lassen, wobei das Aufschieben oder das Vermeiden einer Entscheidung (z.B. der Taufe eines gemeinsamen Kindes, das später einmal selbst entscheiden soll) als Konfliktvermeidungsstrategie gewertet werden kann.
Für die These, dass sich bei der Entscheidung für oder gegen eine Taufe, kirchliche Trauung oder Bestattung tendenziell Konfessionslose durchsetzen, lassen sich u.a. die folgenden Belege und Indizien nennen: Die statistischen Daten der Meldeämter, die erstmals in die Auswertung der KMU-Daten einbezogen worden, belegen ein klares Gefälle bei der Taufquote. Die Daten bestätigen u.a. ältere Berechnungen von Gert Pickel (2011) auf der Basis von ALLBUS-Daten: „Bereits bei einem konfessionslosen Elternteil erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind ebenfalls konfessionslos [=ungetauft] ist, erheblich. Es ist vor allem die Mutter, welche die zentrale Prägekraft für die Kinder besitzt. Selbst im noch weitgehend konfessionsgebundenen Westdeutschland sind bei Konfessionslosigkeit der Mutter zwei Drittel der Befragten auch konfessionslos. Sind beide Elternteile nicht Angehörige einer Konfession, so ist mit fast hundertprozentiger Sicherheit davon auszugehen, dass auch das Kind konfessionslos ist“ (Pickel, 2011, 58). Bezogen auf eine kirchliche Trauung sei nochmals auf das bereits erwähnte statistische Gefälle zwischen konfessionell homogenen Partnerschaften, Partnerschaften mit einer bzw. einem Konfessionslosen und homogen Konfessionslosen verwiesen (Fuhrmann, Gutmann, Jacobi, Lämmlin, erscheint 2024). Vor dem Hintergrund dieser Daten ist davon auszugehen, dass auch bei der Bestattung vergleichbare Tendenzen (in diesem Fall bezogen auf die Angehörigen) bestehen.
Die grau markierten Werte stellen die erwartete Position im theoretischen Modell dar, die schwarz markierten Werte die tatsächliche Verteilung in der KMU VI. Das Ipsatieren vor der Durchführung der Faktorenanalyse ist notwendig, da Wichtigkeitsbewertungen im Allgemeinen einen erheblichen Anteil an Zustimmungstendenzen bzw. Akquieszenz aufweisen, die durch das Ipsatieren (d.h., das Abziehen des individuellen Zustimmungsdurchschnitts von jedem Element) beseitigt wird.
Die Einstellungen innerhalb der Gruppen sind plural, ohne im Rahmen dieses Artikels der Frage nachgehen zu können, ob die Intrapluralität ggf. bedeutender ist als die Unterschiede zwischen den genannten Gruppen. Für die didaktische Argumentation des vorliegenden Beitrags handelt es sich letztendlich um eine nachgeordnete Fragestellungen: Lehrende und Lernende müssen gleichermaßen dazu qualifiziert werden, mit konkurrierenden ethischen und religiösen Einstellungen oder Wertvorstellungen zu leben und daraus resultierende Konflikte zu regulieren, ganz gleich, ob diese innerhalb einer Gruppe oder zwischen Gruppen ausgetragen werden.