1 Einleitung
Das Credition Research Projekt von Hans-Ferdinand Angel steht für das Neuverständnis von Glaubensvorgängen in Unterscheidung und Abgrenzung von Glaube und Religion und wirbt in seiner aktuellen Publikation „Credition. Fluides Glauben. Kultur- und Wissenschaftsgeschichte von einem blinden Fleck und seinem Ende“ für einen „Paradigmenwechsel“ (Angel, 2022, S. 7, 10, 327, 450−466). Da Paradigmenwechsel keine isolierten Phänomene sind, sondern bestenfalls zahlreiche, wenn nicht alle Wissenschaftsbereiche ergreifen, stellt sich auch die Frage, „ob nicht ganz generell die akademische Theologie ihre Sichtweisen creditionentheoretisch untermauern und kommunizieren sollte“, sodass sich „innovative und anregende Aktualisierungen traditioneller theologischer Denkfiguren gewinnen lassen“ (Angel, 2022, S. 725). Die folgenden Ausführungen nehmen diesen Vorschlag auf und versuchen von der Creditionen-Theorie aus neue Perspektiven für die traditionelle Dogmatik zu entwickeln und so einen Beitrag zur innerdisziplinären „Horizonterweiterung“ (Angel, 2022, S. 318) zu liefern.
Ich zähle mich zu jenen Kreisen in der Systematischen Theologie, die einem Paradigmenwechsel in ihrem Fachbereich nicht abgeneigt sind, da auf den Feldern der evangelischen Dogmatik seit längerem kaum Innovationsfeuerwerke gezündet und nur selten die ausgetretenen Pfade verlassen werden, um Schneisen in Gefilde zu schlagen, die neue, überraschende Aussichten bieten. Anlässe dazu gäbe es genug. Zahlreiche dogmatische Vorstellungsgehalte sind (ebenfalls seit längerem) entweder unplausibel oder stark problembehaftet. Unter den hierunter zu zählenden Kandidat:innen sticht gegenwärtig besonders der Sündenbegriff hervor (Huizing, 2017; Huizing, 2022, S. 107−131). Aber auch die Satisfaktionslehre mit ihrer gewaltsamen Opferidee (Weaver, 2016), der Erlösungsbegriff mit einer problematischen Jenseitsvertröstung (Buntfuß, 2007) und letztlich alle eschatologischen Vorstellungen (Valentin, 2013) kämpfen ebenso um ihre Plausibilität, wie die Suchbewegungen nach einer verantwortlichen Rede von Gott sich nicht selten in den Netzen der Allmachts- und Theodizeefrage verheddern (Klein & Rass, 2017; Moxter, 2020). Ganz zu schweigen von der „christologische[n] Reflexion, [die] mehr oder weniger offen den Charakter von Krisenmanagement angenommen hat, bei dem die tieferen Ursachen der Krise ignoriert werden, um ihre bedrohlichsten Auswirkungen zu begrenzen.“ (Schwöbel, 2002, S. 257).
Ich werde daher zunächst die aus meiner Perspektive wichtigsten Eckpfeiler des Creditionen-Projekts kurz benennen, damit mein Verständnis von Creditionen deutlich wird. Sodann werde ich das Konzept eines dogmatischen Gesamtentwurfs skizzieren, das diese Impulse der Creditionenforschung aufgreift (vgl. die Anregung von Angel, 2022, S. 457). Angel selbst stellt gelegentlich Gedanken dazu an, „traditionelle Glaubenskonzepte […] in zeitlich-prozessuale Konzepte zu transformieren“ (Angel, 2022, S. 551−552, auch 725), so am Beispiel des lutherischen Verständnisses des Rechtfertigungsgeschehens und der fides caritate formata-Konzeption von Thomas v. Aquin (Angel, 2022, S. 551−552). Doch geht es mir nicht darum, die Ergebnisse des Credition Research Projekt lediglich an einzelnen Loci-Stellen als kleinere Stellschrauben zu integrieren, sondern gerade in Hinblick auf den Paradigmenwechsel zu eruieren, welche Umbauten und Neuerungen innerhalb des Dogmatik-Gebäudes mit dem bekannten heilsgeschichtlichen Aufbau von Gotteslehre, Schöpfungslehre, Anthropologie/Hamartiologie, Christologie, Soteriologie, Pneumatologie, Ekklesiologie und Eschatologie erforderlich werden, wenn konsequent creditionentheoretisch gearbeitet wird. Ich erlaube mir dabei hier und da Gedanken vorzutragen, die weniger als „erforderliche Optimierungen“ (Angel, 2022, S. 15), sondern vielmehr als positive Anregungen und Mitarbeit am Creditionen-Projekt zu verstehen sind.
2 Skizze des Creditionen-Ansatzes
Der Neologismus Credition bezeichnet einen einzelnen „innere[n] Glaubensvorgang“ (Angel, 2022, S. 454, S. 560) im Sinne von „while believing“ (Angel, 2022, S. 73), der sich zeitlich begrenzt erstreckt (Angel, 2022, S. 29−30, 529−558, 599, 606). Als „neuronale Vorgänge“ (Angel 2022, S. 10) sind Creditionen allen „Primaten und Wirbeltiere[n]“ (Angel, 2022, S. 568) oder „höher entwickelte[n] – Lebewesen“ (Angel, 2022, S. 602) eigen. Insofern handelt es sich um ein „universelles Phänomen“ (Angel, 2022, S. 7), wie Angel (2022, S. 10, 486−487, 573, 719) mit dem Slogan „Humans are Hardwired for Credition“ mehrmals betont.
Der Neologismus sei erforderlich, erläutert Angel, um alle Verwechselungen mit den gängigen Begriffsauffassungen von Glaube und Religion auszuschließen und deren vorherrschende Dominanz zu brechen. Sie hatten über Jahrhunderte dazu geführt, dass Glaubensvorgänge aus dem Fokus gerieten und zum „blinden Fleck“ wurden (Angel, 2022, S. 9, 109, 213, 315−317, 321, 451, 472): „Der Terminus Religion ist aus Creditionenperspektive völlig unbrauchbar“ (Angel, 2022, S. 327; siehe auch die harten Worte S. 429). Ebenso sei der traditionelle Glaubensbegriff „kein Ausgangspunkt zu den Creditionen“ (Angel, 2022, S. 457). Vielmehr müsse die Glaubensthematik „aus der religiösen Umklammerung herausgelöst werden“ (Angel, 2022, S. 9), damit Glauben erstens als temporaler Vorgang und zweitens als „unvermeidlicher, normaler innerer Vorgang, der in säkularen und religiösen Kontexten ablaufen kann“ (Angel, 2022, S. 561), erkannt werde. Erst dann werde sichtbar, dass unser „gesamter Alltag von einer Unzahl an Glaubenssituationen durchzogen“ ist (Angel, 2022, S. 21) und Glaube „nicht mehr als statisch […], sondern als zeitlich-prozessual“ verstanden werden könne (Angel, 2022, S. 453). Dem Begriff Religiosität steht Angel hingegen sehr viel positiver gegenüber: „Der Weg zu einem Verständnis von Creditionen führt an jenem dunklen Ort vorbei, an dem der Begriff Religiosität ein Schattendasein führt. Aus dem muss er befreit werden.“ (Angel, 2022, S. 429).
Doch der enge Schulterschluss mit den Kognitions- und Neurowissenschaften (Angel, 2022, S. 10, 463, 562) bei der Theorieentwicklung führte dazu, nicht den Religiositätsbegriff zu supporten, zumal „Religiosität nicht ohne ihre neurologische Basis verstanden werden könne“ (Angel, 2022, S. 501), sondern einen Neologismus zu schaffen, der die enge Verknüpfung und Interdependenz der Glaubensvorgänge mit Kognitionen und Emotionen sicht- und hörbar mache. Daher gelte: „Creditions are part of a cognitive theory of mind in process“ (Angel, 2022, S. 563). Die im Verbund mit den Neurowissenschaften (Angel, 2022, S. 502, 620) gestellte Frage: „Was läuft im Menschen ab?“ (Angel, 2022, S. 495) dürfe allerdings nicht mit den unterschiedlichen Spielarten von „Neurotheologie“ verwechselt werden, die „Gott im Gehirn“ lokalisieren oder modische Helm-Accessoires mit dem Label Persinger tragen (Angel, 2022, S. 476−480; siehe aktuell Klemm, 2019). Dem Credition Research Projekt geht es dagegen darum, die anthropologische Funktion von Creditionen herauszuarbeiten. Sie dienen höchstwahrscheinlich der Homöostase, womit nichts anderes gemeint ist als „die Aufrechterhaltung einer inneren Stabilität“ (Angel, 2022, S. 507), bzw.
die „Balance des Selbst“ (Angel, 2022, S. 567, siehe auch S. 509 und 579−580 ohne „Selbst“). Insofern kann geschlossen werden, dass Creditionen und „Glaubensfähigkeit“ einen „evolutionäre[n] Vorteil“ darstellen (Angel, 2022, S. 10, auch 486, sowie 569−573).
In diesem Zusammenhang wird an einigen Stellen von Angel (2022, S. 561, 568) der „Sinn“-Begriff verwendet oder werden die Begriffe „Deutung“ und „Bedeutung“ eingespielt (Angel, 2022, S. 566, 495, 497). Der Bezug zur Stabilisierungsfunktion ergibt sich wie folgt: Herrscht eine „interdependente“ und „untrennbare Beziehung“ innerhalb der „Kognition-Emotion-Credition-Trias“ (Angel, 2022, S. 510−511), folgt daraus, dass „Glaubensvorgänge stets mit Emotionen und inhaltlichen Vorstellungen einhergehen“ – dieser Sachverhalt wird im Model of Credition mit dem Kunstwort Bab eingefangen (Angel, 2022, S. 644−645). Auslöser der Vorgänge sei eine auf Wahrnehmung beruhende „Irritation“, Clam genannt (Angel, 2022, S. 581, 602−603, 638, 643, 668−671). Sie werde in Bedeutungs- und „Bewertungsprozessen (valuations)“ (Angel, 2022, S. 566, siehe auch 581, 621) nach dem Maßstab „worth to living for“ (Angel, 2022, S. 569) in das Selbst/Subjekt integriert oder desintegriert. Dieses „Balancesystem […], welches das Selbst in seiner Autonomie benötigt und welches seine Autonomie garantiert“ (Angel, 2022, S. 567), sei „womöglich die zentrale Charakteristik menschlicher Religiosität“ (Angel, 2022, S. 512).
Der gesamte Vorgang impliziert logischerweise ein Vorher (t1) und Nachher (t2) in Bezug auf die Irritation und dauert bei höher entwickelten Lebewesen offenbar nur Millisekunden (Angel, 2022, S. 599, 606, 608, sowie 613), dafür aber findet der Vorgang häufig, ja permanent statt: „Aus dem Kreislauf von Irritation, bewertender Wahrnehmung, deren Abspeicherung als Repräsentation im Gedächtnis, daraus resultierendem Handeln sowie der Bewertung der Handlungsergebnisse entsteht allmählich stabiler Glaube“, erklärt Angel (2022, S. 628).
Bemerkenswerterweise ist mit dem Wort „stabil“ ein Gegenbegriff zum Titel-Fahnenwort „fluide“ eingeführt und an prominente Stelle gerückt: „Auf der Basis von Creditionen lässt sich einsichtig machen, wie aus fluidem Glauben so etwas wie stabiler Glaube (dispositional belief) entstehen kann“, notiert Angel (2022, S. 464; hier auch der Begriff „verfestigen“). Und daher gelte: „Es ist Folge der stabilizer function of credition, dass aus Glaubensprozessen allmählich Glaube wird“ (Angel, 2022, S. 464). Diese Sätze lassen aufhorchen. Geht es bei dem Projekt insgesamt um die Zielperspektive „stabiler, fester Glaube“? Doch gehen mit den Ausführungen zum stabilen Glauben auch Relativierungen einher: Es herrsche ein System aus „Stabilität und Volatilität“ (Angel, 2022, S. 654), sodass der stabile Glaube niemals monolitisch-statisch zu verstehen sei, sondern in der Vorher-Nachher-Konstellation „immer nur eine momentane Blitzlichtaufnahme (snapshot) permanent fluider Glaubensprozesse“ darstelle (Angel, 2022, S. 464. auch S. 628, 730, bes. S. 317). Aber einige Kapitel später stolpert man abermals: „Stabilität“ lautet die Antwort auf die Frage: „Was bewirkt ein fester Glaube in einem Menschen?“ (Angel, 2022, S. 676, siehe auch S. 605).
Damit sind die wichtigsten Eckpunkte der Creditionen-Theorie aus meiner Perspektive benannt. Zum Abschluss meines Durchgangs durch Angels stilistisch eher rhizomatisch gehaltenen Ausführungen gebe ich zu: Die letztlich prominente Stellung von „stabil“ in einer 749 Seiten umfassenden Monographie mit dem Titel „Credition. Fluides Glauben“ stellt für mich eine nicht kleine Irritation dar. Und ich werde darauf gegen Ende meiner Ausführungen, im Kapitel zur Eschatologie, nochmals zu sprechen kommen.
3 Das Design einer creditionssensiblen Dogmatik: Prolegomena
In den folgenden Abschnitten geht es darum, Angels Theorie der Creditionen mit der Systematischen Theologie ins Gespräch zu bringen. Hierzu gibt es unterschiedliche Wege und Rezeptionsmöglichkeiten: Man könnte Creditionen-Wissensbausteine an einzelnen Stellen einer evangelischen Dogmatik integrieren, naheliegenderweise im Kapitel de fide. Oder man könnte die Creditionen-Theorie innerhalb der Prolegomena bei der klassischen Frage nach dem Verhältnis von Naturwissenschaft und Theologie oder Wissen und Glaube aufgreifen, um das gespannte Verhältnis zu entlasten und ein interdisziplinäres Gespräch zu führen, wie etwa bei Matthias Haudel (2021) oder Weinhardt (2010) und Weinhardt & Weinhardt (2013), allerdings jeweils ohne Bezug auf Creditionen oder die Kognitionswissenschaften. Und schließlich besteht die Möglichkeit, in apologetischer Absicht mit der Creditionen-Theorie einen allgemeinwissenschaftlichen Beweis für „Glauben“ zu führen. Meine Idee ist dagegen, das Design einer (künftigen) evangelischen Dogmatik zu skizzieren, die Angels Theorie der Creditionen insofern konstitutiv berücksichtigt, als dass auch umfangreiche Umbauarbeiten der traditionellen Dogmatik in Kauf genommen werden. Hierbei gilt wiederum, dass es naturgemäß auch ganz anders gemacht werden könnte. Ich lege dabei den heilsgeschichtlichen Dogmatikaufbau zu Grunde: Gotteslehre, Schöpfungslehre, Anthropologie/Hamartiologie, Christologie, Soteriologie, Pneumatologie, Ekklesiologie und Eschatologie. Die Umbauarbeiten könnten aber ebenso gut am trinitarischen Modell (Vater, Sohn, Hl. Geist) vorgenommen werden, ohne dass sich viel änderte, denn die Themenbestände der Dogmatik kehren in beiden Modellen wieder.
Die kognitionswissenschaftlich plausibilisierte Idee, dass glauben/Creditionen universale Phänomene sind, die sich nicht nur in religiösen Kontexten vollziehen, sondern allen höher entwickelten Lebewesen eigen sind, ist das zentrale Element, das zu Umbauarbeiten an der traditionellen Dogmatik über alle Strömungen und positionellen Grenzen hinweg ermuntert. Dies gilt – wie ich sogleich zeigen werde – gerade auch für die drei „Haupttendenzen […] der deutschsprachigen evangelischen Dogmatik“, wie sie Dirk Evers (2015) treffend systematisierte: Erstens die Arbeit am Religionsbegriff einer subjektivitätstheoretisch orientierten Theologie, zu der Evers u.a. J. Lauster, U. Barth und J. Dierken zählt (Evers, 2015, S. 3−10). Früher hätte hier auch die Deutungstheorie von Danz (2016) ihren Platz gehabt, als von ihm der allgemeine Religionsbegriff noch nicht abgelehnt wurde (Danz, 2020). Aber vielleicht ist diese Ablehnung ebenfalls Arbeit am Religionsbegriff.
Zweitens die Neufassung einer hermeneutischen Theologie, in deren Mittelpunkt die Passivitäts-Begriffe Glaube und Offenbarung stehen und zu der I. U. Dalferth, P. Stoellger sowie D. Evers selbst gehören (Evers, 2015, S. 10−14) und zu der aber nicht nur U. H. J. Körtner (2018) aufgrund seiner Selbstbezeichnung gerechnet werden muss, sondern auch W. Härle (2000) und E. Herms (2017), die zwar nicht zur hermeneutischen Theologie im engeren Sinne gehören, aber dennoch hierher passen, weil Glaubens- und Offenbarungsbegriff in ihren Dogmatiken eine exponierte Stellung einnehmen, nur wird viel stärker eine post-metaphysische Ontologisierung vorangetrieben, sodass vor allem E. Herms zum folgenden Typus zählen könnte. Der dritte Typus bezeichnet die Wiederkehr der Metaphysik bei A. Plantinga, F. Hermanni, C. Schwöbel und M. Wendte, deren Ansatz um Fragen nach dem Grund des Seins kreisen und von dort aus Vernunft und Gott in Beziehung setzen (Evers, 2015, S. 14−20). Auch H. Tetens (2015) darf hier zugeordnet werden.
Die Auswirkungen des Creditionen-Ansatzes auf die hermeneutische Theologie sind besonders augenfällig. Da in deren Perspektive „Glaube“ als Passivitäts-Widerfahrnis und Ergriffenwerden einhergeht mit Offenbarung und Neuwerden, kann eine creditionssensible hermeneutische Theologie nicht mehr unmittelbar mit der inhaltlichen Explikation des Wesens des christlichen Glaubens und Jesus Christus als der Selbstoffenbarung Gottes anheben. Jetzt bedürfte es mit Angel die Gemeinsamkeit von säkularen und religiösen Glaubensvorgängen zu berücksichtigen und allgemein anthropologische Überlegungen zur universalen Funktion der Glaubensvorgänge/Creditionen anzustellen. Damit rückt aber die Anthropologie an oberste Stelle einer Dogmatik, wie sie im Typus der „Arbeit am Religionsbegriff“ üblich ist. Aber auch die religionstheoretische Strömung der evangelischen Theologie ist bei Einbezug der Creditionentheorie zu Änderungen gezwungen. Ihr Hauptaugenmerk „Religion“ steht – wie bereits oben ausgeführt – unter Angels Verdikt. Dabei bestehen hier sogar die engsten Bezüge: Religion wird ebenfalls als anthropologische Kategorie aufgefasst und sogar funktional bestimmt als Selbstauslegung und Deutung endlicher Existenz (Evers, 2015, S. 3−10). Man kann dies in Anschluss an W. Gräb (2006; 2016), der zweifelsohne ebenfalls zum religionstheoretischen Typus zählt, noch näher am Creditionen-Vokabular ausdrücken: Religion erschließt Sinndimensionen, die der Lebensstabilität dienen. Eine creditionssensible Dogmatik im Horizont der Arbeit am Religionsbegriff würde genau diese Übereinstimmungen herausstreichen, müsste aber künftig strenger zwischen Religion, Religiosität und Glaubensvorgängen unterscheiden. Nur nebenbei gesagt ist die glänzende Dogmatik von U. Barth (2021) in genau diesen Hinsichten letztlich enttäuschend, weil sie lediglich eine Symbolhermeneutik des Christentums vorlegt, dabei sogar noch mit der Schöpfung anhebt (Barth, 2021, S. 77−170), ohne eine erfahrungsgesättigte Theorie des religiösen Erlebens auszuführen, wozu ja bekanntlich durchaus Material vorhanden gewesen wäre (Barth, 1996).
Der dritte Typus, die Metaphysik, aus deren Richtung bisher kein dogmatischer Entwurf vorliegt und auch nicht zu erwarten ist, täte sich vermutlich wegen ihrer generellen Distanz zum anthropologischen Ansatz mit einem creditionssensiblen Zugriff besonders schwer. Sowohl metaphysische Spekulationen über Gottes Eigenschaften und -beweise, den Satz vom Grund, über die creatio ex nihilo, den cursus divinus sowie rationale Erwägungen über das Theodizeeproblem gehören zwar notwendigerweise zur verantwortlichen theologischen Rede hinzu, müssten aber von der kognitiven Verengung befreit und in ein anthropologisch-funktional ausgerichtetes Setting implementiert werden, um darzulegen, dass und wie die Rationalität religiöser Gedanken der Balance des Selbst und der Aufrechterhaltung der Homöostase dienen. Kurz: Dieser Typus müsste endlich praktisch werden.
Ich ziehe Schlussfolgerungen aus meinen Beobachtungen: Eine das Creditionen-Paradigma konstitutiv berücksichtigende Dogmatik hat einen konkreten lebensweltlichen Phänomenbereich zu ihrem Gegenstand, von dem aus alle Themenfelder bearbeitet werden: den Menschen. Diese Dogmatik setzt nicht mit Gott und seiner Schöpfung ein, nicht mit dem passiven Geschenk des Glaubens, in dessen Mittelpunkt Jesus Christus, die Selbstoffenbarung Gottes, steht, sondern sie setzt mit dem Menschen ein, seiner Religiosität und das heißt mit seinen Irritationserfahrungen. Daher verabschiedet sie sich von der handelsüblichen Identifizierung der traditionellen Bekenntnistexte und der Bibel mit dem christlichen Glauben und Leben.
Nota: Vielleicht ließen sich auch Deutungstheoretiker wie C. Danz (2020) und F. Wittekind (2018) von dem Modell überzeugen, weil es trotz einer universalen Einheitskonstruktion der Creditionen als Apriori, dennoch keinen allgemeinen Religionsbegriff etabliert, der durch „universale Totalintegration jegliche Differenz und Andersheit ausschließt“ (Danz, 2020, S. 240). Totalitäre Vereinnahmungstendenzen gegenüber nicht-christlichen und nicht-religiösen Akteuren lassen sich im Gegensatz zum allgemeinen Religionsbegriff dem Creditionen-Konzept nicht unterstellen. Ebenso hinfällig werden einige kritische Anfragen von D. Evers gegenüber dem religionstheoretischen Typus. Denn durch die Creditionen-Theorie wird einerseits der „Anhalt […] an der Wirklichkeit“ vergrößert, der vielen spekulativen Religionstheorien fehlt, und andererseits wird die Geltungsfrage angesichts der „praktischen und theoretischen Religionslosigkeit“ kaum brisant, da die Glaubensvorgänge universalisiert und aus der Umklammerung des Religionsbegriffs befreit sind (Evers, 2015, S. 9).
4 Creditionssensible Anthropologie
Die creditionssensible Dogmatik hebt mit anthropologischen Bestimmungen an. Sie führt das bereits oben unter „2 Skizze des Creditionen-Ansatzes“ Zusammengefasste aus: Menschen, Primaten und weitere höher entwickelte Lebewesen sind wahrnehmende Wesen, die über die Kognitionen-Emotionen-Creditionen-Trias verfügen, mit der das Selbst die Eigenbalance gewinnt. Parallel dazu wird in einer solchen Dogmatik die gängige Wesensbestimmung des Menschen kritisiert, weil dort die Ergebnisse nicht aus der Beobachtung der Phänomene und der Wirklichkeit gewonnen werden, sondern aus einzelnen biblischen Texten (meist Schöpfungserzählungen mit Fokus auf Ebenbild und gekoppelt an die paulinische Hamartiologie), deren normativer Status zu selten eine Begründung erfährt (Kirchhoff, 2003, S. 25). Es wäre zu diskutieren, ob und wie überhaupt von einer Bestimmung des Menschen die Rede sein kann (vgl. dazu Schoberth, 2006, S. 79−90). Durch den Einbezug der Creditionen-Forschung erfährt jedenfalls die theologische Anthropologie eine interdisziplinäre Öffnung ganz im Sinne W. Pannenbergs (1983; siehe Rothgangel, 1999), womit all jenen Strömungen eine Absage erteilt wird, die den Einbezug anderer wissenschaftlicher Disziplinen eher skeptisch beurteilen (Sauter, 2011, S. 354−359). Da es aber zahlreiche wissenschaftliche Disziplinen gibt, die anthropologische Forschungen anstellen, ergibt sich das schon bei W. Pannenberg sichtbare Problem, welche dieser Forschungen denn rezipiert werden soll. Darauf wies sehr hellsichtig W. Schoberth (2006, S. 7) hin. Menge und Vielfalt sind schlicht zu groß, um allen gerecht zu werden. Aber einfach nach gusto die am besten zum eigenen Ansatz passende Theorie zu wählen, hieße unwissenschaftlich zu arbeiten. Ein vorläufiger Ausweg aus dem Dilemma besteht darin, gegenläufig zu den eigenen Vorlieben und Verengungstendenzen eine Gegenposition bewusst diskursiv aufzugreifen. Ich führe dies aus, weil beim Creditionen-Projekt vermutlich eine zu starke kognitionswissenschaftliche Zuspitzung vorliegt: „Creditions are part of a cognitive theory of mind in process“, hält Angel fest (2022, S. 563). Da Wahrnehmungsvorgänge den Ausgangspunkt der Creditionen-Theorie darstellen, könnte eine nichtkognitivistische Wahrnehmungstheorie als Korrektur gegen den eigenen blinden Fleck helfen: im Angebot steht u.a. die Leib-Anthropologie von Hermann Schmitz, die jüngst K. Huizing in seiner „Lebenslehre“ zentral rezipierte und dabei darlegte, dass der Leib, der weiter reicht als der Körper, als Wahrnehmungsorgan den Menschen zum transzendenzoffenen Wesen bestimmt (Huizing, 2022, S. 236−279). Dies ist deutlich mehr als bei Angel vom Körper zu lesen ist (Angel, 2022, S. 463, 512, 561). Dabei legen die Schlüsselrolle der Emotionen als auch der Schlüsselbegriff der Irritation nahe, dem Leib als Wahrnehmungsorgan innerhalb einer Creditionen-Theorie mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Denn sowohl Emotionen als auch Irritationen werden überwiegend leiblich erfahren und ausgedrückt.
5 Creditionssensible Hamartiologie
Wer den Stellenwert der Sünde innerhalb der theologischen Anthropologie als zu prominent empfindet, wird einer creditionssensiblen Dogmatik mit größtem Wohlwollen begegnen, da sie höchstens neurologische Pathologien kennt, aber weder Unglauben noch ein Ungläubigsein (Angel, 2022, S. 64, 694−711). Beides altbekannte Kandidaten, den Sündenbegriff inhaltlich zu füllen (Körtner, 2018, S. 350−351). Also: Schluss mit Sünde? (Huizing, 2017; Huizing, 2022, S. 107−131). I. U. Dalferth (2020, S. 388) warnt: „Es wäre […] töricht, der Theologie einreden zu wollen, auf das Diagnoseinstrument der Sündenlehre zu verzichten. Nichts hilft besser, die existentiellen Verkürzungen und Verkrümmungen aufzudecken, die dazu führen, dass Menschen nicht so leben, wie sie als Gottesgeschöpfe leben könnten und sollten.“ Doch genau darin besteht die Grundproblematik des Sündenbegriffs: Er suggeriert einen Normenkatalog oder normativen Horizont, wie Gott will, dass Menschen leben. Aber dies ist schwer auszuweisen, wenn man nicht mehr allgemeinverbindlich von einer zu realisierenden Bestimmung des Menschen und einem eindeutig identifizierbaren Willen Gottes sprechen kann. Die beiden Quellen, um die Bestimmung des Menschen und den Willen Gottes auszuweisen, Schöpfung und biblische Texte, sind alles andere als gesichert und zweifelsfrei, sodass folglich das Diagnoseinstrument selbst unzuverlässig wird. Selbstverständlich, wer wollte bestreiten: Es gibt Entfremdung, es gibt Selbsttäuschung, es gibt Verzweiflung, Lieblosigkeit, Unwahrheit und Fehlverhalten, wie z.B. die Verschiebung von kreatürlicher Angst in dämonische Angst, indem Ängste nicht als das, was sie sind, anerkannt, sondern in Schuld verschoben werden (Härle, 2000, S. 480−484). Doch dabei handelt es sich um Selbst- oder zwischenmenschliche Verhältnisse, die besser auf dem Feld der Ethik, des Rechts, der Medizin oder der Psychologie zu bearbeiten sind. Die Verdopplung dieser Fehlbarkeiten durch den Einbezug eines Gottes, verschärft die Situation unnötig, anstatt sie einer handlungsorientierten Lösung zuzuführen. Wird nun so verfahren, wie hier vorgeschlagen, verliert die soteriologische Bestimmung „Erlösung von der Sünde“ ihre Funktion.
Eine letzte Frage: Worin besteht die Sünde, wie Gott sein zu wollen, dessen Wesen Liebe ist?
6 Creditionssensible Pneumatologie
Ich schlage Folgendes vor: Die Pneumatologie folgt in einer creditionssensiblen Dogmatik auf die Anthropologie. Dies bedarf einer kurzen Erläuterung, zumal, wenn ich recht sehe, der „Heilige Geist“, Hauptprotagonist der Pneumatologie, in Angels „Credition. Fluides Glauben“ eigentlich nirgends erwähnt wird. Und dennoch scheint bei genauerer Betrachtung des Creditionen-Konzepts der Pneumatologie eine prominente Frontstellung durchaus angemessen. Dafür sind zwei Gründe anzuführen. Der erste Grund besteht darin, dass in der Anthropologie Creditionen zunächst nur als Vermögen des Menschen thematisiert wurden. Es fehlt also noch die systematisch-theologische Erörterung des Glaubensvorgangs selbst. Sie wird sinnvollerweise im Rahmen der Pneumatologie durchgeführt, weil mit dem Glaubensvorgang nicht nur eine eigentümliche Erfahrungsqualität einhergeht, sondern auch nach Ablauf eines Glaubensvorgangs in Bezug auf das Vorher ein neuer Status vorliegt: Der Glaube hat sich verändert. Das damit aufgerufene Vokabular entspricht nun aber exakt der Metaphorik des Heiligen Geistes: Er ist in der Theologiegeschichte und im Heilsgeschehen die zuständige Instanz für bewegtes Geschehen und Kreativität, für Neuheit, Innovation, für Wirkung, Wechsel und Dynamik (Lauster, 2021). Deshalb liegt es nahe, die Struktur der Glaubensvorgänge im Rahmen einer Pneumatologie zu präsentieren und hierbei der Soteriologie, der Lehre vom Heil, ihren neuen Ort zuzuweisen: Sie verschmilzt mit der Pneumatologie.
Es gibt noch einen zweiten Grund, wieso die Erörterung der Struktur von Creditionen pneumatologisch interpretiert werden muss: „Ein Glaubensvorgang wird durch eine Irritation ausgelöst“, schreibt Angel (2022, S. 602). Richtet man die Aufmerksamkeit auf diese Irritation entpuppt sie sich als Kontingenzgeschehen, womit abermals eine traditionelle Geistmetaphorik aufgerufen ist. Hier kommen selbst Passivitätseuphoriker:innen (z.B. Stoellger, 2010) auf ihre Kosten, gilt doch vom Glaubensvorgang, dass man ihn „nicht direkt beobachten kann“ (Angel, 2022, S. 564) und also unableitbar kontingent bleibt.
Mehr noch: Das irritierende Moment lässt sogleich an das tremendum aus Rudolf Ottos Klassiker von 1917, „Das Heilige“, erinnern (Otto, 1932, S. 13−30): Die Creditionstruktur entspricht dem Numinosen/Heiligen als „Deutungs- und Bewertungs-kategorie“ (Otto, 1932, S. 7) mit dem Zugleich von tremendum und fascinans. Angelangt beim innersten Kern der Creditionstheorie, wird die Pneumatologie, das ehemalige „Stiefkind der Theologie“ und „Schreckgespenst für die Theologen“ (Brunner, 1951, S. 55) konsequenterweise zum Dreh- und Angelpunkt der neuorganisierten Dogmatik.
Zwei Anmerkungen sollen den Abschnitt beschließen. Erstens: Angel gibt zu, dass die Beschreibung der Fluidität hier besonders schwierig ist. Den Ausgangspunkt eines Glaubensvorgangs nennt er vorsichtig „Glaubensvorgabe“ oder auch „mindset“ (Angel, 2022, S. 653−636), betont aber sofort, dass damit kein statischer Zustand zu assoziieren sei. Im Model of Credition wurde deshalb das Kunstwort „Bab-Blob-Konfiguration“ gebildet (Angel, 2022, S. 653). Gleichwohl ist die „Glaubensvorgabe“ vor dem Irritationsimpuls in gewisser Hinsicht statisch vorzustellen. Erst der von außen andringende Reiz der Irritation setzt Dynamiken frei. Aus offenbarungstheologischer Perspektive bietet das gesamte Modell ein starkes Votum für die Idee eines Anknüpfungspunktes (mindset/Vorgabe), damit eine Irritation überhaupt als solche empfunden werden kann. Insofern entgegnet die Theorie der Creditionen dem „Nein!“ Karl Barths ein trotziges „Doch!“ und nimmt Platz auf der Seite Emil Brunners im Streit zwischen den beiden.
Zweitens: Der Hinweis auf Rudolf Ottos Theorie des Heiligen könnte zu dem Missverständnis führen, bei Creditionen handele es sich um außeralltägliche Geist- und Glaubenserfahrungen (Visionen, Auditionen, out-of-body-experience). Das genaue Gegenteil ist der Fall: Die nicht-religiösen Glaubensvorgänge sind alltäglich und zumeist unspektakulär, aber dennoch bedeutsam. Dies vor Augen, darf man getrost den von Rudolf Otto dem Heiligen beigelegten expressionistischen Erregungsgrad herabdimmen: Bedeutsamkeiten stellen sich sogar überwiegend in nicht exaltierter Form ein (siehe dazu auch Huizing, 2022, S. 20, 59−66).
7 Creditionssensible Ekklesiologie
Die Ekklesiologie stellt im Anschluss an die Pneumatologie mögliche Orte der Irritationserfahrung und insofern Erfahrungen des Heiligen vor. Die Ausführungen dazu kann ich kurz halten, weil aus der Creditionen-Theorie hierfür nur wenige Impulse verarbeitet werden können. Doch ist Angels ekklesiologischer Schlüsselsatz ausreichend, um die Richtung vorzugeben: „Glaubensvorgänge sind ein Massenphänomen. Sie müssen unweigerlich häufig und allenthalben auftreten, im Alltag, in Beziehung oder Beruf“ (Angel, 2022, S. 718). Irritations- und Heiligkeitserfahrungen sind demnach nicht auf bestimmte Orte wie heilige Haine, Tempel oder Kirchen festgelegt. Vielmehr gilt, dass sie sich an jedem Ort und bei jeder kommunikativen Lebenslage ereignen können: im Gespräch, beim Sport, im Kino, bei Krankheit, in der Trauer, beim Essen, beim Lesen, beim Sex, bei erfolgter Wertschätzung, unter Folter, auf dem Berggipfel, auf der Surfwelle, auf dem Friedhof, im Bus, in der Schule, beim Fischen – Angels eigenes Beispiel: Im Restaurant beim gemeinsamen Essen (Angel, 2022, S. 643).
Zu den möglichen Orten, an denen solche Irritationen zur Aufrechterhaltung der Balance stattfinden, zählen dann aber auch – so müsste man schlussfolgern – die biblischen Schriften. Die Lektüre biblischer Texte geht mit einem hohen Irritationsgrad einher. Leser:innen werden explizit oder implizit durch Leerstellen (Bauer, 2009) in Fragestellungen philosophischer, religiöser, existentieller Art verstrickt, erhalten aber bei näherem Zusehen keine eindeutige Antwort oder Lösung, sondern sind selbst Teil der Antwort (Schottroff, 2005). Die Jesus-Figur, Erzähler der Gleichnisse, tritt als Irritationsgrund par excellence auf. Sie stellt insofern einen zentralen Irritationsort dar, der das Zusammenspiel von tremendum und fascinans mit hoher inszenatorischer Kraft aufgeprägt ist. Aus diesen Ausführungen folgt in konzeptioneller Hinsicht, dass die Christologie vollständig in der Skriptologie aufgeht und diese wiederum aus den Prolegomena ausgelagert und in die Ekklesiologie integriert wird.
Denkbar wäre zudem, dass eine künftige Ekklesiologie empirisch ermittelt, ob es nicht gewisse Dispositive gibt, die mit hoher inszenatorischer Kraft es schaffen, einen signifikant höheren Prozentsatz solcher Erfahrungen hervorzurufen als andere Orte. Damit beteiligte sich eine creditionssensible Dogmatik daran, die genuin protestantische Absage an eine „Theologie des Kirchenraums“ (Schwebel, 1994, S. 15−16) zu überwinden, die hier noch vorherrschenden Reste eines „Reflexionsdefizit[s]“ (Wüthrich, 2015, S. 512) zu beseitigen, um sodann Architektur und Ausstattung von (Kirchen-)gebäuden und -räumen als „materiell[e] Dispositiv[e]“ (Erne, 2012, S. 189) zu entdecken, die Erfahrungen gezielt zu steuern erlauben.
8 Eschatologie
Nach der obigen Skizze des Creditionen-Projekts ist klar, dass bei der creditionenbezogenen Umgestaltung der Dogmatik nun in eschatologischer Hinsicht vorerst das Modell einer präsentischen Eschatologie zu präferieren ist. Der Glaubensvorgang dauert ja nur Millisekunden (Angel, 2022, S. 599, 606, 608, sowie 613), sodass die prominenteste Vokabel präsentischer Eschatologie zu seiner Bezeichnung mehr als naheliegend ist. Gemeint ist natürlich „Kairos“ – Angel (2022, S. 505) benutzt das Wort selbst einmal. In genau diese Richtung zielt Angels (2022, S. 599) Absage an durative Vorstellungen: „Ein Glaubensprozess ist kein vegetativer Vorgang, der ohne Unterbrechung von der Geburt bis zum Tod autonom abläuft. […] Der Glaubensvorgang wäre dann identisch mit Leben“. Überhaupt fällt auf, welch enorm wichtige Rolle der Zeitfaktor für Angel (2022, S. 29−30, 529−558) spielt. Noch auffälliger ist, dass kaum futurische Begriffe oder Metaphoriken verwendet werden. Nur zwei futurisch-eschatologisch gehaltene Stellen habe ich gefunden. Einmal erklärt Angel, dass das Verb glauben eine „futurische Dimension“ aufweist und resümiert: „Alle in die Zukunft gerichteten Aktivitäten, in denen es etwa um Planung, Zielformulierung oder Entscheidung geht, haben immer auch mit Glaubensvorgängen zu tun“ (Angel, 2022, S. 65). Hier sind in der Tat Vorstellungen einer futurischen Eschatologie angerissen, ähnlich wie bei der zweiten Stelle, wenn Angel die Frage stellt: „Wie wollen wir leben?“ (Angel, 2022, S. 219). Doch wird der Weg futurischer Eschatologie nicht weiter verfolgt oder gar ausgebaut. Vor allem fehlen alle futurischen Aspekte bei der Funktionsbestimmung der Glaubensvorgänge. Diese Beobachtung stimmt damit überein, dass das zur Beschreibung des Glaubensvorgangs gewählte Vokabular statisch erscheint (Angel, 2022, S. 567, 507, 509, 579−580): „innere Stabilität“ und „Aufrechterhaltung“ suggerieren defensive Haltungen und selbst „Balance“, dem noch eine gewisse Bewegung innewohnt, ist kein stark dynamisches Wort. Das gesamte raumzeitliche Setting ist so gezeichnet, als würden heranwogende und von außen einstürmende Bedrohungen unter hohem Kraftaufwand ausgehalten und austariert. Ich stelle mir die Frage, ob eine creditionsensible Dogmatik hier nicht das Angebot machen sollte, die defensiv-statische Homöostase-Theorie durch eine deutlich optimistischere, dynamisch-vorwärtsschreitende Interpretation der erfahrbaren Irritationen zu ersetzen. Dadurch hielten futurisch-eschatologische Vorstellungen Einzug ins Modell, die dazu beitragen die fascinans-Seite der Irritations- und Heiligkeitserfahrungen stärker zu berücksichtigen. Konkret hieße dies, Individuen so zu beschreiben, dass sie sich durchaus gerne irritieren lassen, weil sie neugierig sind, weil sie Neues erfahren und Fremdes erkunden möchten. Ja, sich auch aus Nervenkitzel in Gefahr begeben. Irritationen könnten einen neuen Entwicklungsschritt bedeuten, bei dem Zweifel und Skepsis als notwendige Bedingungen einer dynamischen Entwicklung und Selbststeuerung auf eine selbstgestaltete Zukunft hin positiv bejaht werden.
9 Gotteslehre. Ein spekulativer Anhang
Gott kam bisher in meinem Vorschlag einer Dogmatik, die die Creditionen-Theorie konstitutiv einbezieht, nicht vor. Das liegt natürlich zum einen daran, dass in Angels „Credition. Fluides Glauben“ der Gottesbegriff so gut wie nicht fällt, da Creditionen als universal-anthropologische Vorgänge per se nicht religiös sind, Gott aber nun mal dem religiösen Vokabular entstammt. Seine Abwesenheit provoziert jedoch die Frage: Wo könnte sich aus systematisch-theologischer Perspektive im System der Creditionen Gott befinden? Wenn man, wie Angel, der Neurotheologie eine Absage erteilt, nimmt Gott dann möglicherweise die Rolle des unsichtbaren, aber stets alle Prozesse begleitenden Schöpfers und Ermöglichers der Kognitionen-Emotionen-Creditionen-Struktur ein? Aber reimportierte man damit nicht wieder das religiöse Glaubensverständnis durch die Hintertür? Nicht, wenn statt von Gott vom Grund des Seins und seiner Denknotwendigkeit in den Bahnen der Metaphysik gesprochen wird. Doch schon höre ich den ehemals von F. Wagner vorgetragenen Einwand: „Wir haben den Gottesgedanken im Denken. […] Gott ist nur dadurch real, dass er gedacht wird. Wie anders denn? Wo sollte ‚Gott‘ denn sonst seine Realität haben […], als dass er vom religiösen Bewusstsein vergegenwärtigt […] wird. […] Eine […] Realität unabhängig vom menschlichen Bewußtsein wäre immer eine vom menschlichen Bewußtsein behauptete – daran kommen wir nicht vorbei.“ (Wagner, 1993, S. 217, 215, 217). Wählt man, ausgehend von Wagners Feststellung, als Ausgang der Überlegungen zum Gottesbegriff die Universalität der Glaubensvorgänge, deren Funktion in religiösen wie in säkularen Kontexten identisch ist, dann müssen folglich alle Bestimmungen inhaltlicher Art, die damit einhergehen, Bilder und Deutungen sein, die über individuelle Lebenskontexte und Kulturprägung vermittelt werden.
Mehr gibt’s an dieser Stelle nicht zu sagen. Und so ist es für Leser:innen vermutlich wenig überraschend, wenn die berühmten Sätze aus Schleiermachers 2. Rede über Religion die Schlusspointe meiner Ausführungen bilden: „Ihr, hoffe ich, werdet es für keine Lästerung halten, daß Glaube an Gott abhängt von der Richtung der Fantasie […]. In der Religion also steht die Idee von Gott nicht so hoch als Ihr meint […].“ (Schleiermacher, 1799, S. 129−130).
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Dr. Michael Bauer, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lehrstuhl für Evangelische Theologie I, Julius-Maximilians-Universität Würzburg.