1 Digitalisierungserwartungen
Grosse Erwartungen wurden und werden mit den Errungenschaften der Digitalisierung verknüpft. Das Internet, das manifestierte Digitale, sollte mit seinen Datenbanken, Lexika und vielem mehr die Heimat des Geistes sein, eine Zivilisation des Geistes ermöglichen (Barlow 1996). Mit dem Internet steht uns neben diesen Datenbanken auch in (wissenschaftlichen) Veröffentlichungen und in persönlichen Äußerungen von Nutzern eine Fülle von Wissen zur Verfügung wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Jede Nutzerin, jeder Nutzer kann potenziell auf Inhalte zugreifen und diese im Kontext ihres Wissensgebietes überprüfen. Allerdings beobachten wir eine Entwicklung, die diese Form von Überprüfung von Wissen weniger sachdienlich erscheinen lässt. Denn gleichzeitig wird neben der Wahrnehmung (wissenschaftlich fundierten) Wissens eine Fokus auf Selbstdarstellung und deren Konsum in den sogenannten Social Media gelegt. Aus diesen ist vielen im Rahmen der ‘meme culture’ die bildlich unterlegte Aussage bekannt, dass der Menschheit im 21. Jahrhundert ein Gerät zur Verfügung steht, mit dem wir auf das geballte Wissen der Menschheit zugreifen könn(t)en und statt dessen Katzenvideos schauen. In der aktuellen Realität sozialer Medien mag man sich wünschen, dass es beim Betrachten von Katzenvideos geblieben wäre.
1.1 Digitalität, Weltbild und soziale Realität
Im Rahmen der letzten Präsidentschaftswahl in den USA wurde der Einfluss sozialer Netzwerke prolematisiert. Das Weltbild von Wählergruppen war durch absichtliche Falschdarstellung von Inhalten in sozialen Medien manipuliert worden, was eine Diskussion über die gesellschaftliche Verantwortung sozialer Netzwerke auslöste. Mark Zuckerberg, der Gründer und Entwickler von facebook musste öffentlich Stellung beziehen zum Vorwurf, dass falsche Nachrichten, die über facebook verbreitet wurden, den Wahlausgang beeinflusst hätten. Aktuell überprüft Twitter den unablässigen Tweet-Fluss des US-Präsidenten auf seinen Realitätsbezug und hat mehrfach Nachrichten des US-Präsidenten mit Warnhinweisen versehen.[1]
Im Rückblick auf den US-Wahlkampf 2016 zeigt sich die Brisanz der Konstruktion sozialer Realität an einem journalistisch mit sozialwissenschaftlichen Methoden aufgearbeiteten Beispiel. In einem Experiment mit US-amerikanischen Wählern am linken und rechten Rand des politischen Spektrums wurden diese für einen Zeitraum mit dem facebook-feed der jeweils anderen Gruppe konfrontiert. Während es nun jeder Gruppe sofort gelang, den feed der anderen Gruppe als weltfremd, falsch und manipulativ zu identifizieren, war es den Probanden beim eigenen feed, also Posts aus der eigenen Gruppe, nicht möglich, die Defizite zu entschlüsseln, obwohl die Diskrepanz zur Berichterstattung von mainstream Medien und damit sozial akzeptiertem Wissen in einer standardisierten Form jeweils ebenfalls signifikant war.(Wong 2016)
Dieser Trend der Konstruktion nicht nur von Wissen, sondern auch von Wahrheiten im öffentlichen Raum setzt sich dabei medial weiter fort. Politiker, aber auch Wissenschaftler, werfen Medienvertretern vor, gezielt tendenziös – also unwahr – zu berichten, während Medienvertreter den Politikern oder Wissenschaftlern ihrerseits ein gestörtes Wirklichkeits- bzw. Wahrheitsverhältnis attestieren. (Man kann das an diversen Beispielen belegen, beispielhaft sei der medial ausgetragene Konflikt zwischen Drosten und der Bild und die Berichterstattung öffentlich-rechtlicher Medien über die sog. Hygiene-Demos genannt.) Hier zeigt sich dann ein in der aktuellen Situation der Pandemie relevantes,wenn auch vorher schon zu beobachtendes Phänomen. Vertreter sogenannter alternativer Weltbilder, sogenannte ‘Verschwörungstheoretiker’ treten an eine selbst generierte mediale Pseudoöffentlichkeit und verbreiten das, was sie Theorie nennen.[2]
Am Beispiel dieser alternativen Weltbilder zeigt sich eine medial repräsentierte Spaltung der Gesellschaft. In den unterschiedlichen medialen Repräsentationen werden unterschiedliche Werte, unterschiedliche soziale Bedingungen, unterschiedliche politische Ausrichtungen und nicht zuletzt unterschiedliche Ängste thematisiert. Im Medium des Digitalen wird nun eine Spaltung von Gesellschaft dargestellt, die medial auf konstitutiv unterschiedliche Weltbilder, ja Realitäten zurückgeführt wird. Die Gesellschaft repliziert sich so und modifiziert sich in kleine geschlossene Provinzen digitaler Provenienz.
In anderen Worten: die Konstruktion eines geschlossenen Weltbildes in diesen (auch topographisch definierten, aber vor allem) medial different repräsentierten Bereichen einer Gesellschaft verläuft völlig unterschiedlich. Eine solche Diskrepanz wurde z.B. vor der US-Wahl 2016 öffentlich und in derselben Konsequenz nie beobachtet.
Interessanterweise wird zeitgleich die Kritik laut, dass eine solche gesellschaftliche Spaltung eine Konsequenz aus dem Verlust fester, gesellschaftlich eindeutig akzeptierter Wahrheiten sei. In diesem Zusammenhang wird der Theorie der sozialen Konstruktion von Realität der moralische Vorwurf gemacht, sie habe zur Zerstörung absoluter Gewissheiten und damit zur Destabilisation gesellschaftlichen Zusammenhalts beigetragen.(Whooley 2017)
1.2 Wahrheiten und Weltbilder digital-sozial konstruiert?
Die Argumentation ist dabei die Folgende: Wenn aller sozialer Realität Aushandlungssprozesse zugrunde liegen, folgt daraus, dass alles irgendwie richtig sein kann, wenn man sich nur darauf einigt. Dann gibt es auch kein richtig oder falsch, keine objektiven Wahrheiten mehr, lautet der Vorwurf. Dieses Fehlen von Objektivität, die Konstruierbarkeit eigener Wahrheitssphären wird durch eine Integration technischer Kommunikationsprozesse in gesellschaftliche Wirklichkeitskonstruktion befördert, die zumindest auf den ersten Blick historisch völlig neu ist.
Durch die Nutzung von social media hat jedes Individuum und jede Interessengruppe dieselbe Möglichkeit der Verbreitung medialer Inhalte, so wie es historisch etablierte und professionell aufgestellte Medienorganisationen hatten bzw. haben. Der Konsument kann aus diesen Inhalten nach Belieben – und vor allem ohne externe Qualitätskontrolle und -standards – auswählen.
Durch die freie Wahl der Inhalte, die man in social media konsumiert, verstärkt sich ein Phänomen, das in der Kognitionspsychologie als confirmation bias bekannt ist.(Nickerson 1998) Während der confirmation bias in früheren Zeiten allerdings durch erzwungene Konfrontation mit anderen Weltbildern in mainstream Medien und den öffentlichen Diskurs abgemildert werden konnte, stellen selbst-zusammengestellte social media-feeds eine gewissermaßen „natürliche Umgebung“ für die künstliche Überhöhung des confirmation bias dar.
In social media werden Informationen nahezu ungefiltert verbreitet. Die Unterscheidung zwischen echten und falschen Nachrichten, auf einen bestimmten Blickwinkel zugespitzten Berichterstattungen und objektiven Darstellungen verschwimmt oder verschwindet ganz. In social media lässt sich mit der Verbreitung von Informationen über die damit verbundenen klicks Geld verdienen. Da zusätzlich die Produktion und Verbreitung von Informationen sehr einfach und ohne weitreichende Infrastruktur möglich ist, entwickelte sich daraus eine große Zahl von Informationsgebern, die nicht für jeden Nutzer von großen Nachrichtenportalen zu unterscheiden sind.
Während große Nachrichtensender wie CNN oder FOX sich auch über Werbung finanzieren, die von Großfirmen geschaltet werden und damit einer gewissen sozialen und finanziellen Qualitätskontrolle unterliegen, gilt bei den kleinen Informationsverbreitern jeder Zugriff gleichberechtigt als Einkommensquelle. Dabei ist es unerheblich, ob der Inhalt überhaupt konsumiert wird. So liegt es für diese Art Informationsproduzenten nahe, möglichst viel Aufmerksamkeit zu erregen, um möglichst viele Zugriffe zu generieren.
Der gerade beschriebene confirmation bias dient dann als Vehikel für Aufmerksamkeitsgenerierung. Wenn man einer Gruppe ein besonders signifikantes Beispiel ihres ‘shared belief’(Duggan & Smith 2016) bietet, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass dieser Inhalt in der Gruppe geteilt und konsumiert wird.[3] So erzeugt sich auf der einen Seite Gewinn für den Informationsproduzenten, auf der anderen Seite Bestätigung für die Gruppe, die damit in ihrem confirmation bias gestärkt wird. Und so wird durch gezielte Inhaltskonstruktion zum Zweck der Gewinnmaximierung aus einer Gruppe mit confirmation bias eine „confirmation bubble“ erzeugt. Inhaltsproduzent und Inhaltskonsument bestätigen gegenseitig die Validität möglicherweise völlig frei erfundener Inhalte, indem sie sie in einem Setting kommunizieren und re-kommunizieren, dass seine Existenz der Annahme der Richtigkeit der unterliegenden Botschaft verdankt. So entsteht ein Kreislauf, der die Frage nach der objektiven Korrektheit der Information ausblendet. Dabei verschwindet eine differenzierte Sich auf die Lebenswelt hinter dem Schleier sich selbst reproduzierender Annahmen über dieselbe.
Ich möchte dies an einem Beispiel aus dem sozialwissenschaftlichen Vokabular des Konstruktivimus diskutieren.
2 Kontingenz
Der Begriff der Kontingenz spielt soziologisch eine Rolle in verschiedenen Gesellschaftstheorien. Parsons und Luhmann sind vielleicht die nennenswertesten Vertreter. Luhmann nun definiert Kontingenz im Rahmen seiner Theorie folgendermaßen: “Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen. Er setzt die gegebene Welt voraus, bezeichnet also nicht das Mögliche überhaupt, sondern das, was von der Realität aus gesehen anders möglich ist."(Luhmann 1984, S.152)
Während diese Definition Luhmanns den Realitätsbezug betont und den Blick auf die prinzipielle Andersartigkeit dieser Realität lenkt, betont Luhmann in seiner Rechtssoziologie die individuelle Wahrnehmungsmöglichkeit von Kontingenz als potenzielle Enttäuschung und das Risikopotenzial, das aus Kontingenzen erwächst:
„Unter Kontingenz wollen wir verstehen, daß die angezeigten Möglichkeiten weiteren Erlebens auch anders ausfallen können, als erwartet wurde; daß die Anzeige mithin täuschen kann, indem sie auf etwas verweist, das nicht ist oder wider Erwarten nicht erreichbar ist oder, wenn man die notwendigen Vorkehrungen für aktuelles Erleben getroffen hat (zum Beispiel hingegangen ist), nicht mehr da ist. [...] Kontingenz heißt praktisch Enttäuschungsgefahr und Notwendigkeit des Sicheinlassens auf Risiken.“(Luhmann 1987, S. 31)
Kontingenz ist also ein Komplikationsfaktor im Erleben. Kontingenz bezieht sich auf Individuen, psychische Systeme, und ihr Verhältnis zur Realität. Kontingenz macht Realität komplex. Kontingenz bedingt und bedeutet auch Risiko.
Gleichzeitig ist Kontingenz ein für die Gesamtgesellschaft relevanter Faktor.
2.1 Multiple Realitäten – Multiplikation von Kontingenz
Unter den Bedingungen des Digitalen und unter dem Eindruck des in Abschnitt 1.2 beschriebenen kann man postulieren, dass eine Multiplikation sozialer Realitäten auch zu einer Multiplikation von Kontingenz und damit auch Kontingenzerfahrungen führt. Dieser massive Anstieg erfordert dann um so massivere Methoden des Kontingenzumgangs.
2.2 Kontingenzbewältigung - Gesellschaftliche Strategien
Im Rahmen funktionalistischer Theorie wie hier der Systemtheorie ist die Lösung (im Blick auf Kontingenzbewältigung) in der Konstruktion individueller Realität zu finden. Bei Luhmann und seiner soziologischen Theorie setzt dies notwendigerweise Sozialität voraus. Sozialität bedingt dann ein Phänomen, das Parsons als doppelte Kontingenz beschrieben hat. Doppelte Kontingenz beschreibt einen unbestimmten Kommunikationszustand zwischen zwei Protagonisten, in dem die Notwendigkeit und die Unmöglichkeit offen ist. Im Prozess der Interaktion bilden sich dann Kontingenzbewältigungsmuster heraus. Luhmann nennt dies ‘soziale Emergenz’ oder ‘emergente Ordnung’. In einer anderen konstruktivistischen Sozialtheorien wie der von Berger/Luckmann wird dies als Institutionenbildung ähnlich beschrieben und ist auch nur in Sozialität denkbar und aber dann auch für Sozialität konstitutiv.
„Soziale Systeme entstehen jedoch dadurch (und nur dadurch), daß beide Partner doppelte Kontingenz erfahren und daß die Unbestimmtheit einer solchen Situation für beide Partner jeder Aktivität, die dann stattfindet, strukturbildende Bedeutung gibt.“ (Luhmann 1984, S. 154)
Die so entstehenden sozialen Systeme entsprechen den oben genannten emergenten Ordnungen der Luhmannschen Theoriebildung. (Luhmann 1984, S. 157)
Dieser Umgang mit Kontingenz, der der Vermeidung von Enttäuschungen dient, so wie es die Luhmannsche Definition von Kontingenz in seiner Rechtssoziologie nahelegt, wird als Kontingenzbewältigung bezeichnet.
Es bilden sich also in gesellschaftlichen Prozessen soziale Systeme (emergente Ordnungen) heraus, die das Phänomen der Kontingenz einschränken. Dies ist auch dann weiterhin gültig, wenn sich gesellschaftliche Ordnung in differenzierte Bereiche spaltet. Der prinzipielle Modus von Sozialität als Umgang von Menschen miteinander ändert sich ja nicht.
2.3 Kontingenzbewältigung verschiedener Kontingenzen
Postuliert man ein System unterschiedlicher Klassen von Kontingenzen, wie der Religionsphilosoph Herrmann Lübbe das tut, so kann man nun zwischen relativen und absoluten Kontingenzen unterscheiden und den absoluten Kontingenzen eine Unlösbarkeit (Unbewältigbarkeit wäre präziser) im sozialen Alltag zuschreiben. Diese absoluten Kontingenzen erforderten dann eine spezielle Kompetenz, eine Kontingenzkompetenz, die über die der emergenten Ordnungen hinaus geht. Lübbe definiert dies als Funktion von Religion.
„Religion ist Kontingenzbewältigungspraxis handlungssinntranszendenter Kontingenzen.“(Lübbe 1998)
Mit dieser Distinktion beantwortet Lübbe die Frage, welche Funktion Religion nach der Aufklärung erfüllt und wie sie ihr Fortbestehen sichert. Kontingenzbewältigung ist die Funktion der Religion, die nicht durch säkulare Äquivalente ersetzt werden kann. (Lübbe 1996)
Lübbe beschreibt die relativen Kontingenzen als eher zufällig und damit als offen gegenüber einer sinnhaften Interpretation, während dies mit den absoluten Kontingenzen nicht möglich ist. Also wäre zum Beispiel der Versuch der Pandemie einen Sinn zuzuschreiben wie ‘Die Menschheit wird aus der Pandemie lernen und für die Zukunft größeres Leid vermeiden’ Kontingenzbewältigungspraxis, die unter dem Niveau absoluter Kontingenz bleibt. Die Pandemie ist zufällig (zumindest ist sie schwer teleologisch beschreibbar) und damit mit Handlungssinn versehbar.
Unverfügbare Fragen wie die, warum etwas existiert und nicht vielmehr nichts, sind Fragen absoluter Kontingenz. Diese können prinzipiell nicht mit Handlungssinn versehen werden, sondern nach Lübbe nur als absolute Kontingenz anerkannt werden. Diese Distinktion ist wichtig. Absolute Kontingenzen werden durch den Prozess des Anerkennens behandelt. Sie werden nicht aufgelöst.
Religiöse Praxis ist damit nur ein Verhalten zu Kontingenz und nicht ein Auflösen von ihr. Religion ändert unsere kontingente Situation nicht, sie verlangt uns ab, diese anzuerkennen. Dies kann man mit Lübbe dann auch noch zirkulär schliessen und sagen, dass die Freiheit, die Kontingenz anzuerkennen, aus dem Unverfügbaren kommt und damit selbst kontingent ist. Insofern kann man der Religion natürlich in diesem System auch die Kontingenzproduktion zuschreiben. Dies ist für dieses Paper allerdings nicht weiter von Relevanz
die oben beschrieben Situation einer Gesellschaft, in der neben der Spaltung in verschiedene Realitätsbereiche durch soziale Medien auch noch die gesellschaftliche Existenz der Pandemie durch einen signifikanten Anteil ihrer Bevölkerung in Frage gestellt wird, stellt Lübbe eine relevante Behauptung auf. Die Anerkennung von Daseinskontingenz ist in seiner Theorie nicht sektoral begrenzbar. Für Individuen bedeutet das aber nicht, dass man als Mensch permanent diese Daseinskontingenz anerkennt. Sie wird zwar prinzipiell anerkannt, jedoch nicht immerzu und jederzeit. (Lübbe 2004, 177f)
2.4 Daseinskontigenz zwischen multiplen Realitäten
Die prinzipielle Anerkennung kann man an den emergenten Ordnungen festmachen, die prinzipiell in gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen entstehen und so menschliches Leben in Sozialität erst möglich machen. Gleichzeitig zeigt sich aber gerade in der aktuellen Situation auch die von Lübbe postulierte Begrenzung der Anerkennung von Daseinskontingenz. Durch Multiplikation von Realität zum Beispiel weichen bestimmte Gruppen in der Gesellschaft den von anderen Gruppen anerkannten Daseinkontingenzen aus. Man kann postulieren, dass das Digitale in Pandemie und einer gespaltenen Fake News Gesellschaft nun die Frage nach der Daseinskontingenz überhöht. Gleichzeitig schwindet durch die Prozesse des Ausweichens in selbstkonstruierte Realitätsbereiche die Akzeptanz, die Anerkennung von Kontingenz und die damit einhergehende Demut ob der eigenen Verhaftetheit in Kontingenz in der Verfügbarkeit von Digitalität.
Exemplarisch sei das Beispiel religiös anmutender Verschwörungsmythologien aufgegriffen. Man mag sich fragen, wenn doch Religion die gesellschaftliche Antwort auf Kontingenz ist, wie kommt es dann, dass Religion in der aktuellen Situation am Spielfeldrand steht? Kirchen werden geschlossen, gottesdienstliche Feiern finden nur als Filmclips bei youtube statt und das wird medial und gesellschaftlich nur marginal diskutiert, wenn überhaupt. Beerdigungen finden ohne bzw. mit reduzierter religiöser Begleitung statt. Krankenhausseelsorge findet zumindest für Corona Patienten nicht statt. Religionsunterricht findet oft nicht statt bzw. ist ein freiwilliges Angebot, bespielt als Nebenschauplatz, so dass Religion selbst von SchülerInnen als nicht mehr systemrelevant erkannt wird.
Das aber bedeutet, dass das soziale System andere emergente Ordnungen hervorbringt die die Funktion der Kontingenzbewältigung übernehmen.
Man könnte behaupten, dass das Politiksystem und das Wissenschaftssystem diese Rollen übernehmen. Und dabei nicht immer dieselben Kontingenzen bewältigen. Beispielhaft sei hier die Interaktion zwischen Fauci und Trump genannt, aber auch der Diskurs um den Immunologen Drosten, der von der Bild forciert wurde.
Gleichzeitig passiert aber etwas bemerkenswert Neues. In den individuell sozial konstruierten Lebenswelten der sozialen Netze entstehen neue Kontingenzbewältigungsprophetien. Diese verfolgen eine besondere Strategie im Bezug auf die von Lübbe identifizierten Merkmale von Kontingenz.
2.5 Strategieverschiebungen – Relative Kontingenzen mit absoluter Dimension
Dem Mainstream gegenläufige Kontingenzbewältigungsstrategien versuchen alle kontingenten Erfahrungen als relative Kontingenzen zu beschreiben, gleichzeitig aber die absoluten Dimensionen nicht aufzugeben. In anderen Worten gesagt, die Kontingenzerfahrungen, die sich in der aktuellen Situation ergeben, werden komplett als menschengemacht konstruiert und dargestellt. Zufall wird als Kontingenzmotor durch eine unterstellte Absicht undurchsichtiger Akteure ersetzt. Damit umgeht man soziale Emergenz ohne sie als Bewältigungskategorie abzulösen. Man generiert einfach eine neue Sozialität, die andere emergente Ordnungen erlaubt. Diese Strategie geht unter den Bedingungen des Digitalen schneller und besser auf als in historisch ähnlichen Sitationen und beide Seiten einer gespaltenen Gesellschaft erleben solche Auswirkungen. Ein anderes Beispiel betrifft die Briefwahlkampagne Trumps. Briefwahlen wurden vonihm ohne weitere Belege als undemokratisch bzw. nichtneutral dargestellt, so dass Twitter als Medienanstalt eingreifen musste. Dies wiederum wurde dann wieder von der Regierung als ungerechtfertigt dargestellt.
Diese Beispiele zeigen zwei soziale Konstruktionen, die jeweils individuell unterschiedlich wahrgenommene Realitäten repräsentieren und nicht in der Lage sind, auch zufällige Prozesse anders als vom jeweiligen Gegner potenziell gesteuert zu beschreiben.
In Deutschland beobachtet man in Gestalt von Atilla Hildmann einen veganen Imbissbudenbesitzer, der die Corona Pandemie als absichtsvolles Handeln finsterer Mächte kommuniziert und mit mehreren Hundert Menschen öffentlich gegen soziale Regeln demonstriert. Die Pandemie wird in seiner Realitiätskonstruktion von einer Virusmutation zu einem Szenario, in dem böse Mächte die Menschheit unter dem Vorwand von Diagnose und Behandlung entweder versklaven oder vernichten wollen.
So dient in diesem Beispiel nicht mehr die Religion, aber eben auch nicht die Wissenschaft oder die Politik als Kontingenzbewältigung. Individuell konstruierte Kontingenzbewältigungsmuster entstehen aus gesellschaftlichen Sondergruppen, die digital effizient vernetzt sind und die emergente Ordnung der gewählten gesellschaftlichen Repräsentanten ersetzen. Luhmann sah im Phänomen der emergenten Ordnung einen Erweis für das Funktionieren von Demokratie. Unter den Bedingungen digitaler Medien, in denen jede Stimme potentiell Chancen auf weltweites Gehör hat, erweist sich emergente Ordnung aber auch als Problem.
3 Religionspädagogische Handlungsmöglichkeiten
Die Bildung von Religionslehrerinnen und Religionslehrern an der Universität ist mit dem ‘Realitätsschock’ des Digitalen also in mehrerer Hinsicht konfrontiert. Wir lehren digital, was immer das heißt, und versuchen auf diese Weise Lehrerinnen und Lehrer zu bilden. Wir lehren aber auch für die digitale Lehre, definieren also das, was als Digitalität von Lehrerinnen und Lehrern an die Schülerinnen und Schüler weitergegeben wird.
Wir lehren aber auch in einer Situation wie ich sie oben gerade skizziert habe. Wenn Religion nicht systemrelevant ist und sich dies auch ganz konkret für z.B. unsere Studierenden im Praxissemester zeigt, muss sich Religionspädagogik fragen, wie man damit umgeht. Der Versuch, die Funktion der Kontingenzbewältigung in Zusammenhang mit dem in der Praktischen Theologie und Religionspädagogik deutlich relevanten Paradigma des sozialen Konstruktivismus als Problemanzeige zu verstehen, zeigt aber auch einen Weg für religionspädagogisches Handeln.
3.1 Wahrheit
In der Religionspädagogik ist die Frage nach Wahrheit ein sperriges Thema. Sie ist relevant und gleichzeitig problematisch im interreligiösen Lernen (vgl. z.B. Meyer 2019, S. 108–122), sie ist komplex, wenn es um biblische Texte geht und im Bereich der Dogmatik oft heikel. Trotzdem oder gerade wegen ihrer Sperrigkeit wird sie thematisiert und sie wird auch gestellt und beantwortet. Die Antwort ist allerdings manchmal problematisch nah an dem, was Erstsemester Studierende zuweilen als Motivation für ihr Studium nennen: “Reli studiere ich, weil da irgendwie jeder recht hat.” (eigenes Seminartranskript) Diese Karikatur sozial konstruierten Wissens entbehrt in der zitierten Form jeder Kategorie für richtig oder falsch. Kontingenzen werden durch diese Formulierung in Beliebigkeiten überführt, die es sich nicht einmal mehr lohnt anzuerkennen, kann man sie doch durch das Wissen um eine gleichsam unendliche Zahl von Lösungen auch gleich auflösen.
Wir erleben aber nun gerade, dass der Modus von ‘jeder hat Recht’ gesellschaftlich nicht funktioniert. Es braucht also Kategorien für Grenzen von Behauptungen und Realitätskonstruktionen. Religionspädagogisch ist diese Frage vor allem für den Religionsunterricht an der Schule immer im Fächerkanon zu bedenken. In diesem Zusammenhang könnte man das von mir oben genannte Bezugssystem Naturwissenschaft als Kontingenzbewältigungsakteur hinzuziehen und versuchen zu ergründen, wieweit das Zusammenspiel von Religion und Naturwissenschaft hilfreich bei dem skizzierten Problem sein kann.
3.2 Wissen, Nicht-Wissen und Kontingenzbewältigungsstrategien
Mit Bernhard Dressler kann man dann auf den Unterschied zwischen Religion und Naturwissenschaft verweisen und die Konsequenz ziehen, Religion gerade nicht als unterrichtlich wissbar und damit immer mehr auf dem Rückzug, sondern vielmehr als Vertrauensverhältnis in der Vielschichtigkeit der Lebenswelt auch von außen spielerisch nachvollziehbar darstellen zu wollen. “Der (...) erprobte, hermeneutische und rezeptionsästhetische Stil kann religionsdidaktisch wichtiger sein als die »herausgefundenen« kognitiven Textgehalte. Eines der hartnäckigsten Missverständnisse, das gerade bei Jugendlichen den unvoreingenommenen Blick auf den christlichen Glauben verstellt, ist die Annahme, Religion unterliege den gleichen Kriterien von »richtig« und »falsch«, wie es andere v.a. »harte« Wissenschaften des schulischen Fächerkanons für sich in Anspruch nehmen. Glaube wird dann nicht als eine im Vertrauensverhältnis zu Gott begründete Selbst- und Weltdeutung verstanden, sondern als eine Art minderen, defizitären Wissens über jene Lebensbereiche, die sich zwar der empirischen Feststellung von Fakten entziehen, aber analog zum Tatsachenwissen behandelt werden.” (Dressler 2002, S. 15)
Diese Auffassung stellt sich unter den Bedingungen der Proklamation alternativer Fakten und multipler neuer relativer Kontingenzen als nicht unproblematisch dar. Nur auf den ersten Blick scheint es eine Lösung des Problems zu sein. Glaube ist sicherlich kein Faktenwissen, es gibt ein Vertrauensverhältnis zu einer höheren, wahren, absoluten Entität, in dessen Spiegel sich die Lebenswelt zu voller Blüte entfaltet. Es ist kein defizitäres Faktenwissen über einen ‘God of the gaps’, sondern eine sozial viable, also gangbare Konstruktion der Beziehung zu einem außerhalb der Lebenswelt stehenden Gott. Lässt man nun die Wahrheitsfrage komfortabel draußen vor der Tür, so erweist sich die Viabilität der Gottesbeziehung in der pragmatischen Anwendbarkeit in jeder sozialen Situation neu. Sie muss sich eben nur als viabel erweisen und aktuelle Problemstellungen bewältigen bzw. in Krisen bestehen können. Dass es dabei zu Widersprüchen kommen kann, macht die Situation nur einfacher. Widersprüchlichkeit ist ja kein Gegensatz zur Viabilität, nur zu einer absoluten Wahrheit. Letztlich spiegelt sich das aber dann auch auf das Ursprungsobjekt der sich als viabel erweisenden Beziehung zurück. So wird dann auch Gott in sozialen Konstruktionen potenziell zum verhandelbaren, viablen Objekt reduziert. Unter kontingenztheoretischen Überlegungen hingegen ist an dieser Stelle die Differenz von Auflösung und Anerkennung zu betonen. Wenn die sozialen Konstruktionen zum Gottesbild so gestaltet sind, dass nicht Beliebigkeit vorherrscht und eine Anerkennung von Kontingenz als in der Transzendenz begründet möglich bleibt, ist die Differenzierung die Dressler unternimmt, hilfreich. Dann kann man mit Dressler sagen, dass eine rein naturwissenschaftliche Sicht auf Glaube als Wissensbestand deutlich macht, wo die Grenzen eines solchen Modells sind. Relative Kontingenzen erscheinen in diesem Modus als pseudo-absolut, sind also nicht mehr herkömmlich auflösbar, sondern müssen quasi-transzendent mit Geheimwissen erklärt werden. Umgekehrt muss festgehalten werden, dass die Differenzierung von Religion und Naturwissenschaft dort ihren Gewinn zeigt, wo klar wird, dass Religion eben selbst immer um diese Differenzierung weiß. Dann, wenn Kontingenzen nicht aufgelöst werden, sondern anerkannt, wird gleichzeitig die Unwissenheit über den Ursprung der Kontingenz betont. Religion hat also im Problem der Multiplikation von Realitäten genau da ihren Wert, wo sie die eigene Unwissenheit und die Kontingenz ihrer Annahmen kommuniziert und offen legt. Gleichzeitig darf sie aber nicht in den Modus der Reduktion auf die ‘widerfahrene Kontingenz (Dalferth/Stoellger) verfallen. Eine solche Reduktion auf einen rein phänomenologisch orientierten Zugang erschwert die Objektivierung oder besser Erfahrung der Sozialgestalt von Kontingenzakzeptanz durch die Verlagerung in den rein subjektiven Bereich.
Unter den Bedingungen sozialer Emergenz in einer modernen Gesellschaft ist eine Pluralität von Wahrheiten für das Funktionieren einer Gesellschaft ohne Zweifel unabdingbar.
In der Differenz zwischen Naturwissenschaft und Religion kann man nun postulieren, dass die Beschreibung dieser Differenz gerade den Beitrag beider zur Begrenzung des Diskurses um die Wahrheitsfrage zeigt. Wenn man klar versucht, die Grenzen religiöser Rede zu diskutieren und analytisch zu betrachten, kann man beschreiben, wo diese im Umgang mit Kontingenz von anderen Modellen unterscheidbar ist. Das Spiel mit der Religion lebt auch von seinen Regeln und den Grenzen der Regeln.
Hier besteht eine Chance für religionspädagogisches Handeln. Universitäten repräsentieren die hohen Standards wissenschaftlicher Forschung. Diese müssen auch für Theologie und Religionspädagogik gelten. Wenn wissenschaftlicher Umgang nicht zu einem Abwägen der Qualität einer ‘Wahrheit’ führt und wenn Wissenschaft nicht auch dazu führt, dass man ‘Wahrheiten’ widerlegt, dann hat sie versagt. Es ist also nicht alles richtig und keinesfalls hat irgendwie jeder Recht. Atilla Hildmann hat nicht recht: Bill Gates will uns nicht alle zwangsimpfen und die Pandemie dient auch nicht dazu, alle Bundesbürger mit Mikrochips zu versehen. (Eine Aufstellung von Verschwörungstheorien und Fake News zur Corona Pandemie findet sich zum Beispiel beim Landesbildungesserver Baden Württemberg, siehe Landesbildungsserver 2020)
3.3 Religionspädagogik, Theologie und die Reduktion von Kontingenz
Die Idee der sozialen Emergenz ist konstitutiv für diese Überlegungen. Soziale Emergenz garantiert Kontinuität und Überprüfung. Wichtig ist es, die Sozialität hinter der Emergenz zu betrachten. Damit sind wir fast wieder in der Medienpädagogik gelandet. Aber wir haben zum Beispiel auch in der Kirchengeschichte Beispiele für Prozesse sozialer Emergenz, die uns an dieser Stelle weiter helfen, ohne uns direkt einer ontischen Wahrheit zu verpflichten. Mit der Brille der sozialen Emergenz reduziert man Kontingenz, macht sie verständlich und bewältigt sie so. Dann wird Religionspädagogik wieder zu einem Agenten von Rationalität und Realität, etwas, was wir in der aktuellen Situation dringen gebrauchen können. Beispielhaft kann diese Brille sozialer Emergenz die Genese bestimmter dogmatisch-theologischer Topoi anzeigen und damit auch die Kontingenzen, die diese Entstehung begleitet haben. Damit wird nicht der Zufallscharakter aktuellen Christentums dargestellt, sondern vielmehr die aktuelle Sozialgestalt als gesellschaftliche Entwicklung in ihrer kontingenten Natur. So wird transparent gemacht, was auf den ersten Blick undurchsichtig und unabdingbar erscheint. Religionspädagogik könnte zum Beispiel am Wandel der christlichen Idee der Auferstehung an Bildern der Kunst diese Traditionslinie in ihrem gesellschaftlichen Umfeld nachvollziehbar machen und so auch die historischen und aktuellen Chancen und Grenzen von Auferstehungstheologie in Lernprozesse einbeziehen.
Die theologischen Topoi von Nächstenliebe, Rechtfertigung und Erlösung und ihre transzendente Begründung werden dabei nicht wegfallen. Wenn wir uns klar machen, dass sie in der aktuellen Form jedoch auch Resultat emergenter Ordnungen sind, wird es umso deutlicher, dass die aktuell vordringlichste Aufgabe die Plausibilisierung dieser emergenten Ordnung ist. Und dies kann nicht auf irrationalem Weg geschehen, sondern rein an rationalen Kriterien. So werden multiple Wahrheiten in Wahrscheinlichkeiten mit jeweils für und wider überführt. Sie sind dann nicht mehr ontologisch setzbar aber überprüfbar. Der Transzendenzgehalt christlicher Religion entzieht sich dieser Überprüfbarkeit nicht überall aber doch in seinem Kern. Das Christentum geht in seiner akademischen Theologie aber auch als religiöse Gemeinschaft offen und kritisch mit dieser fehlenden Überprüfbarkeit um. Dies ist ein deutlicher Gegensatz zu alternativen Realititätskonstruktionen.
Die Kontingenzbewältigungsstrategien der ‘alternativen Realitäten’ geben sich überprüfbar, entziehen sich der Überprüfbarkeit aber auch in ihren Kernaussagen (Die ‚alternative Realität‘ von Zwangsimpfungen durch Bill Gates hält Prüfungen nur in den entsprechenden Blasen stand; außerhalb davon zerplatzen diese Behauptung und ihre Blase beim prüfend, kritischen Blick).
4 Soziale Emergenz als Chance
Religion in Gestalt etablierten Christentums ist soziale Emergenz einer großen gesellschaftlichen Gruppe, die offen mit ihrer Nicht-Überprüfbarkeit umgeht. Diesen Unterschied klar zu machen und die Stärken dieser Offenheit durch rationale Überprüfung der Inhalte zu stärken, ist eine Chance für religionspädagogisches Handeln. So werden aus gleichberechtigten Wahrheiten Überzeugungen mit Argumenten. Ohne Argument sind sie nicht überzeugend und damit auch nicht emergenzfähig. Ein argumentativer Nachweis ist theologisch, aber auch religionspädagogisch geboten.
Die Argumentation, dass sozialer Konstruktivismus sein gesellschaftsschädigendes Moment kaum überwinden kann, scheint angesichts aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen nicht länger vollständig überzeugend (Waltemathe 2017 S. 59-60). Es bedarf vielmehr einer Weiterentwicklung der ursprünglichen Idee, es könne lediglich zwei Möglichkeiten geben, das Wahrheitsproblem in zersplitterten modernen Gesellschaften unter konstruktivistischen Bedingungen aufzulösen:
„1. Man versucht sich in Bildungsprozessen einer ontischen Realität direkt zu nähern, sucht die Wahrheit an sich und wirft damit alle konstruktivistischen Überlegungen über den Haufen! Allerdings ist man in diesem Verfahren natürlich genauso den Wirrungen geschlossener gesellschaftlicher Gruppen gegenübergestellt, wie innerhalb des konstruktivistischen Paradigmas. Der einzige Vorteil ist, dass man nicht mehr strukturell der Selbstkonstruktion solcher geschlossener Gruppen den Weg ebnet.
2. Man begibt sich auf eine Meta Ebene und sucht eine konstruierte, übergeordnete, global-viable Deutungskonstruktion, die sich allen Gruppen erschließen kann und so Grenzen durchbricht. Man macht dann im Prinzip nichts anderes als bei 1., setzt damit gleichsam das Ergebnis von Viabilisierung mit einer ontisch wahren Realität gleich und überhöht so den Viabilitätsbegriff in einen Wahrheitsbegriff.“(Waltemathe 2017, S.60)
Beide Überlegungen sind so nicht zielführend, weil sie das Problem in eine Ontologie oder in die Transzendenz verlagern. So geben sich die verschwörungsmythologischen Kontingenzbewältigungsmuster aber auch. Vielmehr scheint mir die Lösung anderswo zu liegen. Es kann sein, dass man die Idee des Konstruktivismus zirkulär betrachten muss. Soziale Emergenz ist Grundlage einer stabilen Gesellschaft, wie Luhmann sie beschrieben hat. Soziale Emergenz läuft an manchen Rändern gerade Amok. Das ist gar kein grundsätzliches Problem und es bedarf auch keines neuen ontischen Wahrheitsbegriffs. Es bedarf etwas mehr Zeit und der Bildung von stabilen Akteuren sozialer Emergenz, um Stabilität zu erzeugen. Das macht eine stabile Gesellschaft genauso zur Voraussetzung der Idee des sozialen Konstruktivismus wie umgekehrt. Und dazu kann Religionspädagogik beitragen, indem sie den Beitrag der Theologie als stabiler Akteur in Prozessen sozialer Emergenz stark macht. Dieser Beitrag liegt in der Offenheit für die Defizite in der Überprüfbarkeit eigener Annahmen bei gleichzeitiger Kommunikation der kontingenten Prozesse, die die Identität von christlich theologischen Entscheidungen historisch und aktuell bestimmt haben und bestimmen. Religionspädagogik kann so eine prinzipielle Annahmefähigkeit für Kontingenz kommunizieren ohne a) ins esoterische zu verfallen und b) zu suggerieren, dass es bei Kontingenzbewältigung immer um Überprüfbarkeit und Auflösung gehen muss. Voraussetzung dafür ist allerdings auch, die Unterscheidung zwischen richtig und falsch, Wahrheit und Unwahrheit beständig in diese Prozesse zu integrieren. Auch das Spiel mit der Religion braucht Regeln, selbst wenn man mit den Regeln spielen will.
Literaturverzeichnis
Barlow, J. P. (1996). A Declaration of the Independence of Cyberspace. URL:https://www.eff.org/de/cyberspace-independence [Zugriff: 04.10.2020].
Dressler, B. (2002). Darstellung und Mitteilung. Religionsunterricht an höheren Schulen, 45, S. 1119.
Duggan, M. & Smith, A. (2016). The Political Environment on Social Media. URL:http://www.pewinternet.org/2016/10/25/the-political-environment-on-social-media/ [Zugriff 04.10.2020]
Landesbildungsserver Baden Württemberg. Nachrichten-Portale und Analysen zu Fake News im Allgemeinen und zur Corona-Pandemie. URL:https://www.schule-bw.de/themen-und-impulse/medienbildung/lernmaterial/fakenews/corona-fake-news [Zugriff 30.10.2020]
Lübbe, H. (1996). Religion nach der Aufklärung. In H.-J. Höhn (Hrsg.), Krise der Immanenz: Religion an den Grenzen der Moderne (93111). FISCHER Taschenbuch: Frankfurt.
Lübbe, H. (1998). Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung. In: G. von Graevenitz (Hg.) & O. Marquard, Kontingenz (S. 3547). München: Wilhelm Fink.
Lübbe, H. (2004). Religion nach der Aufklärung. 3. Auflage. München: Wilhelm Fink.
Luhmann, N. (1984). Soziale Systeme: Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
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Dr. Michael Waltemathe ist Akademischer Oberrat am Lehrstuhl für Praktische Theologie / Religionspädagogik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum.
Beispielhaft sei hier die Kontroverse um die Betrugsanfälligkeit von Briefwahlen und die damit zusammenhängenden Äußerungen des Präsidenten und das FBI genannt.
An dieser Stelle ist es wichtig klarzustellen, dass es sich bei Verschwörungstheoretikern keinesfalls um Personen handelt, die theoretische Überlegungen auf wissenschaftlichem Niveau anstellen und diese Theorien dann kriteriengeleitet überprüfen. Es handelt sich bei Verschwörungstheorien nicht um Theorien. Alternative Weltbilder sind moderne Mythen, die jeglicher realen Grundlage entbehren und neben dem Zweck der Selbstüberhöhung der Verbreiter eigentlich nur der Komplexitätsreduktion der eigenen Lebenswelt dienen. Im weiteren Verlauf dieses Papers wird auf die Funktion der Komplexitätsreduktion weiter eingegangen.
Shared belief ist in diesem Zusammenhang eine Erklärung für die Kompensation von Stresserfahrungen mit Menschen die eine andere Meinung als die eigene haben.