1 Einleitung - Die Bedeutung von Religiosität für die Werteorientierung und eine demokratische Grundhaltung
Interreligiöse und interkulturelle Vielfalt prägen zunehmend sowohl das private als auch das öffentliche Leben (Müke, Tranow, Schnabel & El-Menouar, 2023). Marginalisierte religiöse Gruppen, insbesondere muslimisch oder jüdisch gelesene Menschen, werden fortlaufend mit alltäglichen rassistischen, diskriminierenden und stigmatisierenden latenten sowie expliziten verbalen und nonverbalen Einstellungen konfrontiert. Eine soziale und demokratisch orientierte individuelle und kollektive Werteorientierung erscheint bedeutsamer denn je für ein friedliches, gemeinschaftliches Zusammenleben in einer zunehmend pluraler werdenden Gesellschaft.
In der EU Grundrechtscharta wird in Artikel 21, Absatz 1 formuliert, dass „Diskriminierungen, […] der ethnischen oder sozialen Herkunft, […], der Sprache, der Religion […], der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit […] verboten [sind]“ (Europäische Gemeinschaft, 2000, S. 13) und darüber hinaus die Integration heterogener Gruppen und „ein vielseitiges, tolerantes und multikulturelles Selbstbild Europas“ das Fundament des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der Demokratiefestigkeit in Europa bilden (Zick, Küpper & Hövermann, 2011). Diese Rechtsverbindlichkeit steht einem gegen religiöse oder kulturelle Gruppen gerichteten Klima mit Intoleranz, Ablehnung und Ausgrenzung bis zu einer gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit gegenüber, so dass zunehmend neben rechtlichen Grundlagen verstärkt die Entwicklung einer kollektiven und individuellen demokratischen Werteorientierung diskutiert und deren Notwendigkeit für politisches und gesellschaftliches Zusammenleben hervorgehoben wird, denn „demokratische Werthaltungen und menschenrechtliche Normen sind das Fundament für die politische Bildung“ (Zentrale für politische Bildung, 2020).
Wenn sowohl Werte als auch Religion eine handlungsleitende Funktion für Individuen und Kollektive besitzen und sich daraus Handlungsziele strukturieren (Stein, 2016a) und religiöse Menschen nachweislich, wohlwollende, universalistische und traditionelle Werte präferieren (Rokeach, 1969; Stein, 2016b), erscheint es plausibel, dass Religiosität eine entscheidende Komponente für die Ausbildung einer sozialen Werteorientierung und Entwicklung einer demokratischen Grundhaltung bildet. Es bleibt jedoch in der bisherigen Forschungslandschaft offen, welchen Einfluss Religiosität unter Berücksichtigung des familiären religiösen Hintergrundes auf die Werteorientierung im Hinblick auf eine demokratische Grundhaltung junger Erwachsener nimmt.
Im folgenden Beitrag wird nach einer theoretischen Vorarbeit, die untersucht, wie sich eine demokratische Grundhaltung aus einer sozialen Werteorientierung ableiten lässt, dezidiert herausgearbeitet, inwieweit ein Zusammenhang zwischen der Religiosität und der Werteorientierung junger Erwachsener besteht. Des Weiteren wird untersucht, wie sich politisches Interesse, ehrenamtliches Engagement, die elterliche Religiosität und Werteorientierung auf eine soziale und demokratische Werteorientierung der jungen Erwachsenen auswirken.
In der zu Grunde liegenden Studie werden dazu die Dimensionen Werteorientierung, Religiosität, politisches Interesse und ehrenamtliches Engagement von 927 jungen Erwachsenen und 325 Elternteilen ausgewertet sowie familiäre Transmissionen von 302 Eltern- Kind-Dyaden analysiert. Der Beitrag basiert auf der Theorie des Wertesystems und dem Wertemodel von Shalom Schwartz (Schwartz, 1992, 2012) sowie dem theoretischen Verständnis von Religiosität als multidimensionales Phänomen, angelehnt an den Religionsmonitor (Huber & Huber, 2012; Pollack & Müller, 2013; Müke et al., 2023).
2 Theoretische Herleitung - Werteorientierung und Religiosität als Grundlage einer demokratischen Grundhaltung
Das Konstrukt der sozialen Werteorientierung und demokratischen Grundhaltung
Werte stellen motivationale Ziele dar (Knafo & Schwartz, 2004; Mohler & Wohn, 2005), die als Leitlinie im Leben der Menschen als „dauerhaft verinnerlichte Zielmaßstäbe menschlichen Handelns“ (Welzel, 2009, S. 109) dienen und dieses beeinflussen (Kluckhohn, 1951). Werte sind dabei nicht direkt sichtbar, sondern lassen sich durch Einstellungen, Verhalten und Handlungen erkennen (Pöge, 2016). Sie „fungieren […] im menschlichen Zusammenleben als eine Art Richtschnur […] ohne welche gesellschaftlicher Zusammenhalt unmöglich wäre“ (Wurthmann, 2022) und formen sowohl individuelle Wertorientierungen als auch kollektive, die wiederum bestimmen, in welchem Maße grundlegende demokratische Prinzipien in einer Gesellschaft von Bedeutung sind (vgl. Kluckhohn, 1951). In gesellschaftlichen Diskursen werden Werte oft im Kontext politischer Grundwerte wie Demokratie, Freiheit, Gleichheit und Solidarität betrachtet, welche ihren Ausdruck in der Achtung der Menschenwürde finden, welche im Grundgesetz an erster Stelle betont wird (Artikel 1 GG). Diese grundlegenden demokratisch orientierten Werte (Freiheit, Gleichheit, Solidarität und auch Gerechtigkeit) lassen sich in den Wertetypen der Wertetheorie von Shalom Schwartz (1992, 2012) wiederfinden und mit dem Portrait Value Questionnaire (PVQ) (Schmidt, Bamberg, Davidov, Herrmann & Schwartz, 2007; Schwartz, 2007) messbar machen.
Die Wertetheorie nach Schwartz
Die diesem Beitrag zu Grunde liegende Untersuchung zur Werteorientierung basiert auf der in den 1990er Jahren von Shalom Schwartz (1992, 2012) entwickelten Wertetheorie, dem 10 Typen umfassenden Wertemodell und dem daraus resultierenden Portrait Value Questionnaire (PVQ) (Schmidt et al., 2007; Schwartz, 2007).
Tab. 1: Wertetypen mit motivationalen Zielen und Unterwerten nach Schwartz (1996; zitiert nach Mohler & Wohn, 2005, S. 3)
Im Rahmen des von Schwartz (2012) postulierten Wertemodells wird eine Kreisstruktur vorgeschlagen, in der die Wertepaare eine konzeptionelle Affinität aufweisen, die durch eine thematische Brücke miteinander verbunden ist. Die zehn Wertetypen werden innerhalb der Kreisstruktur anhand der verwandten Motivationen zu vier Wertebereichen (Openness to Change vs. Conservation und Self Enhancement vs. Self Transcendence) zusammengeschlossen, welche wiederum in zwei grundlegende Orientierungslinien eines sozialen und eines persönlichen Fokus der Wertorientierung gegliedert werden können (Schwartz, 2012).
Abb. 1: Wertemodell (Schwartz et al., 2012, S. 72)
Eine demokratische Grundhaltung, die sich in einer sozialen, demokratischen Gesellschaft dem deutschen Grundgesetz folgend in Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Gerechtigkeit abbildet und in Einstellungen, im Verhalten und Handeln ausgedrückt wird, lässt sich mit den sozial orientierten Wertetypen nach Schwartz Universalismus, Benevolenz, Sicherheit und Konformität abbilden sowie um den personal orientierten, jedoch für die Mitbestimmung und Mitgestaltung einer demokratischen Gesellschaft notwendigen, Wertetyp Selbstbestimmung ergänzen.
Gleichheit, Gerechtigkeit und Weltoffenheit drücken sich im Wertetyp Universalismus aus. Der Wertetyp Benevolenz vereint Verantwortungsgefühl und Wohlwollen (Gerechtigkeit, Gleichheit, Solidarität) gegenüber anderen Menschen. Im Wertetyp Sicherheit werden nationale sowie familiäre Sicherheit und Zugehörigkeitsgefühl subsumiert. Der Wertetyp Konformität definiert sich durch „Unterdrückung von Handlungen und Aktionen, die andere verletzen und soziale Erwartungen gewalttätig erzwingen“ (siehe Tab. 1; Mohler & Wohn, 2005, S. 3) (Freiheit, Solidarität). Der soziale Wertetyp Tradition weist sich durch Respekt vor traditionellen, in der Regel kulturell verankerten, Bräuchen und Normen aus, welche eine Identifikation mit der Verwurzelung der kulturellen Gesellschaft ausdrückt, im heutigen Demokratieverständnis und im Hinblick auf interkulturelle und interreligiöse Vielfalt jedoch zunehmend weniger Relevanz einnimmt. Eine entscheidende Notwendigkeit für eine demokratische Grundhaltung stellt hingegen der personal orientierte Wertetyp Selbstbestimmung dar, da er die eigenständige Reflexion in den Mittelpunkt rückt. Im Sinne Kants „Sapere aude! Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes [ohne Leitung eines anderen] zu bedienen!“ (Kant, 1964, S. 53), wird Mündigkeit als Grundvoraussetzung für eine demokratische Grundhaltung angenommen, welches das Vermögen innerer und äußerer Selbstbestimmung sowie die Übernahme von Verantwortung für sich und die Gesellschaft impliziert.
So lässt sich hypothetisch ableiten, dass die Wertetypen Universalismus, Benevolenz, Sicherheit und Selbstbestimmung als grundlegende Werteorientierung für eine demokratische Grundhaltung anzunehmen sind sowie Konformität und eine gewisse traditionelle Orientierung als Rahmung der gesellschaftlichen Einheit.
Begriffliche Einordnung des Konstruktes Religiosität
Eine Definition von Religiosität über die rein institutionalisierte Religionszugehörigkeit oder das Kirchgangsverhalten greift deutlich zu kurz und lässt die religiöse Gebundenheit, religiöse Überzeugungen und die religiöse Identität unberücksichtigt.
Glock (1962) definiert fünf Dimensionen von Religiosität, welche sich im Kern in allen fünf Weltreligionen wiederfinden lassen. Die Erfahrungsdimension (the experiential dimension- religious feeling), die ideologische Dimension (ideological dimension - religious belief), die rituelle Dimension (ritualistic dimension - religiuos practice), die intellektuelle Dimension (interlektuelle dimension - religious knowledge) und die Dimension der Konsequenz (consequential dimension - religious effects) (Glock, 1962). Pollack und Müller (2013) grenzen daraus die Dimensionen des Glaubens, der Praxis und der Identität ab und unterteilen die religiöse Praxis nochmals in die institutionalisierte und die private religiöse Praxis.
In der hier nachfolgend dargestellten Studie wird Religiosität, wie Pollack und Müller (2013) es für den Religionsmonitor vorschlagen, in Anlehnung an Glock (1962) und Huber (2003) als multidimensionales Phänomen verstanden und in folgenden Dimensionen analysiert:
institutionalisierte Religiosität; ermittelt durch die Konfessionszugehörigkeit,
institutionalisiertereligiösePraxis;ermitteltdurchdie Häufigkeiteines Gottesdienstbesuchs oder religiöser Veranstaltungen,
private religiöse Praxis; ermittelt durch die Häufigkeit des Betens und der Häufigkeit des Betens in der Herkunftsfamilie und
religiöse Identität; ermittelt durch die religiöse Selbsteinschätzung und die individuelle Bedeutung von Religion und Spiritualität.
3 Forschungsstand zum Zusammenhang von Werteorientierung und (familiärer) Religiosität
Die Überzeugung, dass Werte in unserer Gesellschaft, ausgedrückt durch die individuelle und kollektive Werteorientierung, eine entscheidende Bedeutung für das gesellschaftliche Zusammenleben haben, fand ihre bis heute bedeutende Anfänge bereits in den 1950er Jahren mit der Studie „A comparative study of values in five cultures“ von Kluckhohn (1951). In den 1960er bis 2000er Jahren folgten Theorien und Studien von Rokeach (1969, 1973) und von Schwartz (1992), Schwartz und Huisman (1995), Schwartz und Sagiv (1995), Schwartz und Bardi (2001), Schwartz et al. (2012), welche bis heute kaum an Bedeutung verloren haben und in zahlreichen Studien reproduziert werden. Das umfassende und strukturierte Wertemodell sowie der Portrait Value Questionnaire nach Schwartz (2007; Schmidt et al., 2007) finden unter anderem im European Social Survey (Mohler & Wohn, 2005) und dem Religionsmonitor (Pickel, 2013; Pollack & Müller, 2013; Müke et al., 2023) zur Erfassung der Werteorientierung Anwendung.
In Studien von Schwartz (2007), Schwartz und Huismans (1995), Schwartz und Bardi (2001) und Stein (2013) konnte durch die Berechnung von Werteprofilen, bei denen mittels Ipsitation eine Rangfolge der relativen Bedeutsamkeit der 10 Wertetypen für die jeweilige Stichprobe gebildet wurde, nachgewiesen werden, dass die sozial orientierten Werte Benevolenz und Universalismus von diesen am höchsten präferiert werden.
Untersuchungen zur vertikalen Transmission von Werten zwischen Eltern und ihren Kindern, zeigen, dass dieser eine hohe Bedeutung zugeschrieben wird (Knafo & Schwartz, 2004; Rohan & Zanna, 1996; Stein, 2013, Hornik et al., 2020), wobei in der Studie mit 433 niederländischen Familien von Roest, Semonar Dubas, Gerris und Engels (2009) kein direkter Konsens zwischen der Werteorientierung der Eltern und ihren Kindern festzustellen war, jedoch bei einer Filterung, etwa über die Variable kultureller Hintergrund, die Ähnlichkeit der Werteorientierungen zwischen Eltern und Kindern deutlich anstieg.
Werteorientierung und Religiosität
Bereits in den 1990er Jahren betonte Schwartz die Bedeutung und den Zusammenhang von Werteorientierung und Religion, indem er Religion als einen übergeordneten Wert formulierte (Schwartz, 1996). Schwartz versteht Religion als handlungsleitendes Prinzip, welches je nach religiöser Ausprägung alle Wertetypen beeinflusst, zum Beispiel die traditionelle Ausrichtung, das Verständnis von Gerechtigkeit und sozialem Handeln, aber auch Machtvorstellungen (Schwartz, 1996). In Studien von Rokeach (1973) und Schwartz und Huismans (1995) stellte sich diesbezüglich heraus, dass Religiosität, definiert aus der konfessionellen Zugehörigkeit sowie der Frage nach der Häufigkeit eines Kirchenbesuchs, positiv mit den sozial orientierten Werten Benevolenz, Tradition und Konformität sowie Universalismus und Sicherheit und negativ mit den personal orientierten Werten Leistung, Stimulation, Hedonismus und Selbstbestimmung sowie Macht korreliert (Stein, 2016b). Stein (2016b) analysierte darüber hinausgehend den Zusammenhang zwischen der individuellen Religiositätseinschätzung, den Ausprägungen unterschiedlicher Einstellungsdimensionen und der Werteorientierung auf der Grundlage der Daten des Religionsmonitors 2013 unter Einbezug der Wertetheorie nach Schwartz sowie 2017 die Werteorientierung junger Christ:innen und Muslim:innen in Deutschland (Stein, 2017).
Mit der Ergänzung in der zweiten Befragungswelle 2012 des Religionsmonitors um den Themenkomplex der Werteorientierung (Pickel, 2013; Pollack & Müller, 2013; El-Menouar, 2022; Müke et al., 2023) wird die Bedeutsamkeit des Zusammenhangs von Religionszugehörigkeit und Religiosität und Werteorientierung konzeptionell und inhaltlich herausgestellt. In der Auswertung der Befragungswelle 2022 wurden eine positive Korrelation der Werte Tradition und Sicherheit mit religiöser Selbsteinschätzung und institutionalisierter religiöser Praxis (z.B. Gottesdienstbesuch) festgestellt (Müke et al., 2023).
Käppler und Morgenthaler (2012) zeigen anhand von Forschungsergebnissen einer umfangreichen Befragung von etwa 1600 Jugendlichen verschiedener religiöser Hintergründe die Bedeutung von Werten, Religiosität und Identitätsfragen auf die psychische Gesundheit und deren Zusammenhang untereinander auf. Auch Feige und Gennerich weisen auf die Bedeutung von Religion und Werten für die Lebenswelt Jugendlicher hin (Feige & Gennerich 2008, Gennerich 2017). Als Professor für Religions- und Gemeindepädagogik entwickelte Gennerich zudem zahlreiche Materialien für den praktischen, lebensweltnahen und werteorientierten Religionsunterricht (Gennerich 2010, 2015 Gennerich, Bücker & Schreiner, 2019) und positioniert sich konfessionsübergreifend zur Religiosität muslimischer Jugendlicher mit empirischen Befunden und theologischen Perspektiven (Gennerich, 2012).
Wenig Berücksichtigung findet in diesem Forschungszusammenhang, dass Religiosität durch die Form und Intensität, wie Kinder und Jugendliche diese erleben, tradiert wird und dass gleichzeitig Religiosität über Generationen hinweg ihre Bedeutung verliert (Pickel, 2013). Entscheidend ist, wie eine großangelegte US-amerikanische Studie von Benson, Scales, Sesma und Roehlkepartain (2005) mit 216.383 Jugendlichen zur Bedeutung von konfessioneller Zugehörigkeit und individueller Bedeutung von Religion zeigt, dass institutionalisierte Religiosität und individuelle Bedeutung von Religion getrennt betrachtet werden müssen.
Forschungsdesiderat und Forschungsfragen
Bisher liegen kaum aussagekräftige Forschungsergebnisse zum Einfluss von (familiärer) Religiosität auf die Werteorientierung bzw. Werteprofile vor, im Speziellen wie sich Religiosität auf eine soziale Werteorientierung und daraus ableitend auf eine demokratische Grundhaltung auswirkt.
Diese Forschungslücke soll mit der hier zu Grunde liegenden Studie in diesem Beitrag geschlossen werden, indem dezidiert der Einfluss der Religiosität der jungen Erwachsenen (N=927) auf ihre (soziale) Werteorientierung analysiert sowie herausgearbeitet wird, welche Bedeutung dabei die Religiosität und Werteorientierung der Eltern (N = 325) einnehmen.
So ergibt sich als zentrale Fragestellung: Inwieweit bestehen Zusammenhänge zwischen (familiärer) Religiosität und einer sozialen Werteorientierung nach Schwartz als Grundvoraussetzung für eine demokratische Grundhaltung, die zu einem friedlichen, toleranten Zusammenleben in pluralen Gesellschaften beitragen kann?
Hypothese: Die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft und die persönliche Religiosität korrelieren positiv innerhalb von Familien, sodass eine signifikante Mehrheit der Eltern-Kind-Dyaden eine vergleichbare religiöse Identität teilt.
Hypothese: Es besteht ein negativer Trend in der Bedeutung, die Religion im Leben verschiedener Generationen spielt, wobei jüngere Generationen Religion als weniger bedeutsam für ihr Leben bezeichnen als ihre Vorgängergenerationen.
Hypothese: Die Häufigkeit der Teilnahme an religiösen Praktiken wie Kirchgang und persönliches Gebet sowie die Selbsteinschätzung der eigenen Religiosität von Kindern werden durch die religiösen Verhaltensmuster und Überzeugungen ihrer Eltern positiv beeinflusst.
Hypothese: Individuen, die sich selbst als religiös einstufen, zeigen auf Basis eines normierten Wertefragebogens eine höhere Ausprägung sozial orientierter Werte als Individuen, die sich selbst als weniger religiös oder nicht religiös definieren.
Hypothese: Die Religiosität der Eltern hat unabhängig von der individuellen Religiosität der Kinder einen Einfluss auf deren soziale Werteorientierung.
4 Studiendesign und Stichprobe
Der vorliegende Beitrag basiert auf einer Studie zur Werteorientierung und ihren Einfluss- und Abhängigkeitsfaktoren bei 927 jungen Erwachsenen und 325 Eltern. Die Befragung wurde offiziell von der Landesschulbehörde Osnabrück für die zuvor ausgewählten Schulen mit Schüler:innen zwischen 18 und 26 Jahren genehmigt, so dass eine Zustimmung der Erziehungsberechtigten entfiel. Die Befragten wurden ausführlich über die Einhaltung aller forschungsethischen Standards aufgeklärt.
4.1 Beschreibung des Messinstruments
Grundlage der Studie ist ein standardisierter Fragebogen für junge Erwachsene aus fünf Themenkomplexen sowie ein inhaltlich vergleichbarer, Fragebogen für die Eltern. Für den vorliegenden Beitrag wurden Items zur Religiosität (angelehnt an den Religionsmonitor 2008 und 2013), Werteorientierung (PVQ 21) und zum ehrenamtlichen Engagement ausgewertet (siehe Tabelle 2 ergänzender Anhang).
4.2 Datenerhebung und Rücklaufquoten
Nach einem Pretest mit Schüler:innen der 10. Klasse einer Oberschule und einer Studierendengruppe fand die Datenerhebung 2017 an zwei berufsbildenden Schulen sowie einer Universität papiergebunden vor Ort statt. Die Rücklaufquote lag bei 100% bei 927 ausgegebenen Fragebögen. Einen zweiten, kuvertierten Fragebogen inkl. einem Anschreiben wurde den jungen Erwachsenen mit der Bitte der Weitergabe an die Mutter oder den Vater und die Rückgabe in der Schule bzw. an die Dozierenden ausgehändigt. Hier ergab sich ein Rücklauf von 325 (36%) der Elternfragebögen.
Die Zuordnung der Fragebögen zu Eltern-Kind-Paarungen wurde über eine jeweils von den Eltern und den jungen Erwachsenen einzutragende Codierung über den Anfangsbuchstaben des Vornamens der Mutter, des Geburtsdatums des an der Befragung teilnehmenden Kindes und des Anfangsbuchstabens des Vornamens des Vaters ermöglicht. Trotz dieser vermeintlich eindeutigen Zuordnungscodierung ergaben sich auf Grund nicht lesbarer, fehlender und nicht zuordenbarer Codierungen 302 Eltern-Kind Dyaden.
Die insgesamt 1252 papiergebundenen Fragebögen wurden in SPSS auf Basis der Zuordnungscodierung zusammengeführt, verglichen und aggregiert. Diese zusammengefügten Datensets der Eltern und Kinder ermöglichen neben Aussagen über Zusammenhänge von Variablen innerhalb einer Generation Vergleiche zwischen der Elterngeneration und der Kindergeneration sowie Aussagen über Zusammenhänge innerhalb der erfassten Eltern-Kind Paarungen.
4.3 Sampling und soziodemographische Beschreibung der Stichprobe
Die Studie basiert auf einer bewusst gewählten Stichprobe auf Basis der Grundgesamtheit junger Erwachsener zwischen 18 und 26 Jahren sowie jeweils einem Elternteil in der Auswahlbasis Nord-West Niedersachsen. Das Alter der Ankerpersonen ist bewusst in einer Lebensphase gewählt, in der sich religiöse Überzeugungen und die Wertorientierung weitestgehend manifestiert haben.
Tab. 3: Soziodemographische Daten der jungen Erwachsenen
5 Ergebnisdarstellung und Interpretation zum Zusammenhang von einer demokratischen Werteorientierung und Religiosität
Basierend auf der theoretischen Herleitung könnte vermutet werden, dass die Religiosität in Familien einen positiven Einfluss auf die Werte junger Erwachsener hat, insbesondere auf demokratische Werte, die wichtig sind, um in einer Gesellschaft mit vielen unterschiedlichen Ansichten friedlich zusammenzuleben. Dies wird nun anhand empirischer Daten überprüft.
5.1 Religiosität junger Erwachsener und ihrer Eltern und ihr Bedeutungsverlust
Statistisch lässt sich zur institutionalisierten Religiosität erwartungskonform bestätigen, dass 87,1% der jungen Erwachsenen der gleichen Religionsgemeinschaft angehören wie ihre Mutter (Cramers V=.744)[1],76,5% wie der Vater (Cramers V=.707). Bei ungleicher Religionszugehörigkeit von Mutter und Vater haben deren Kinder häufiger die gleiche Religionszugehörigkeit wie die Mutter (66,1%).
Bei der institutionalisierten religiösen Praxis konnte im European Social Survey bei Jugendlichen zwischen 2002 und 2016 kein erkennbarer Rückgang des Kirchgangverhaltens festgestellt werden (Schnaudt, Hochman, Ludwig & Mertens, 2020, S. 11). In der vorliegenden Studie lässt sich jedoch statistisch belegen, dass die institutionalisierte religiöse Praxis in der Elterngeneration ausgeprägter ist. 38,8% der befragten jungen Erwachsenen und 24,7% der Eltern besuchen „nie“ einen Gottesdienst oder religiöse Veranstaltungen, 56,3% (60,8%) „nur zu Festtagen und festlichen Veranstaltungen“, 4,8% (14,6%) „wöchentlich“.
Tab. 4: Institutionalisierte religiöse Praxis
In der Auswertung zur privaten religiösen Praxis zeigt sich ein ähnliches Verhalten. 38,8% der jungen Erwachsenen und 14,2% der Eltern beten „nie“, 49,6% (56,6%) beten „zu besonderen Anlässen“ und 11,7% (29,1%) „täglich“. Dies zeigt, dass die private religiöse Praxis tendenziell häufiger gelebt wird als die institutionalisierte religiöse Praxis. In einer gezielten Häufigkeitsanalyse der 302 Eltern-Kind Paarungen geben 29% der Eltern an, „täglich“ zu beten, aber nur 15,4% der jungen Erwachsenen geben an, in ihrer Herkunftsfamilie „täglich“ gebetet zu haben. Es geben hingegen 41,8% der jungen Erwachsenen an, „nie“ in ihrer Herkunftsfamilie gebetet zu haben, wobei nur 15% der Eltern angeben, „nie“ zu beten. Daraus lässt sich schließen, dass viele Eltern nicht gemeinsam mit ihren Kindern gebetet haben, aber für sich selbst diese religiöse private Praxis sehr wohl Bedeutung hat (vgl. auch Pollack & Müller, 2013, S. 15). Die Stichprobe zeigt jedoch einen signifikanten Zusammenhang zwischen der Gebetshäufigkeit der jungen Erwachsenen und der Häufigkeit gemeinsamer Gebete in deren Herkunftsfamilie (r=.541**)[2] sowie zwischen ihrer Gebetshäufigkeit und der ihrer Eltern (r=.452**). In der Elterngeneration ist dieser Zusammenhang zwischen dem eigenen Gebetsverhalten und dem Gebetsverhalten gemeinsam in ihrer Herkunftsfamilie (somit der Großelterngeneration der befragten jungen Erwachsenen) von r=.473** ebenfalls signifikant.
Insgesamt hat die private religiöse Praxis im Generationenverlauf jedoch sichtbar abgenommen.
Tab. 5: Private religiöse Praxis (Gebetsverhalten)
Die Selbsteinschätzung der eigenen Religiosität im Sinne einer religiösen Identität ist im Hinblick auf die Angaben zu religiösen Praktiken (Kirchgang und Beten) bei den jungen Erwachsenen unerwartet hoch. Zwar schätzen sich 63,6% als „wenig“ oder „gar nicht religiös“ ein, aber 29,4% als „religiös“ und 7% als „ziemlich oder sehr religiös“. In der Elterngeneration schätzen sich 32,2% als „wenig“ oder „gar nicht religiös“ ein, 49,2% als „religiös“ und 18,6% als „ziemlich“ oder „sehr religiös“. Die religiöse Selbsteinschätzung der jungen Erwachsenen und ihrer Eltern korreliert signifikant positiv (r=.425**). Damit zeigt sich deutlich die Ähnlichkeit der religiösen Identität (als Selbsteinschätzung) zwischen Eltern und ihren Kindern.
Tab. 6: Religiöse Selbsteinschätzung
18,9% der jungen Erwachsenen ist es zudem „wichtig“, sich mit religiösen oder geistigen Dingen in ihrem Leben auseinanderzusetzen, 37,7% ist es „etwas wichtig“ und 41,7% ist dies „gar nicht wichtig“. In der Elterngeneration sind 39,8% der befragten Eltern religiöse und geistige Dinge „ziemlich“ oder „sehr wichtig“ in ihrem Leben und nur 15,6% ist es „gar nicht wichtig“. Auch in der religiösen Identität zeigt sich, dass die Identifizierung mit religiösen Themen in der Familie abgenommen hat. So geben 8,4% der Eltern an, „sehr oft“ in der Familie über religiöse Dinge zu sprechen und 64% „gelegentlich“. In der Generation ihrer Kinder hingegen sprechen nur 4% „sehr oft“ und 32,5% „gelegentlich“ über religiöse und geistige Dinge in ihrer Familie.
In der Übertragungspraxis zeigt sich, dass es eine statistisch signifikant positive Beziehung zwischen dem ehrenamtlichen Engagement der Eltern in religiösen Aktivitäten und dem Engagement ihrer Kinder gibt (r=.283*). Ebenso besteht eine Verbindung zwischen dem ehrenamtlichen Engagement der Eltern in einer religiösen Gruppe und dem Engagement ihrer Kinder (Cramers V=,213).
Aus den Ergebnissen lässt sich ableiten, dass die Elterngeneration religiöser als die Kindergeneration ist und dass im Generationenverlauf gemeinsame religiöse Praktiken und religiöse Gespräche an Bedeutung verlieren (vgl. auch Pollack & Müller, 2013). Darüber hinaus legen die Ergebnisse nahe, dass die religiöse Überzeugung von Jugendlichen sowohl von ihrer eigenen Beteiligung an religiösen Praktiken wie dem Besuch von Gottesdiensten und dem Gebet als auch von der Art und Weise, wie ihre Eltern ihre Religiosität einschätzen, beeinflusst wird. Außerdem zeigten die Ergebnisse, dass Kinder, deren Eltern sich ehrenamtlich für die Religion engagieren oder in einer religiösen Gruppe aktiv sind, ebenfalls mit einer höheren Wahrscheinlichkeit dazu neigen, sich selbst ehrenamtlich für religiöse Aktivitäten einzusetzen.
5.2 Werteorientierung der jungen Erwachsenen und ihrer Eltern
Die Werteorientierung wurde mittels des Portrait Value Questainaire (PVQ 21) von Schwartz erhoben (Berechnung dazu siehe ergänzender Anhang Tabelle 7).
Zur Vergleichbarkeit der Werteorientierung unterschiedlicher Gruppen innerhalb einer Stichprobe, zum Beispiel religiöser und nicht/wenig religiöser Personen oder auch verschiedener Stichproben[3], zum Beispiel der Elterngeneration und der Jugendgeneration, sind Werteprofile, welche eine Rangfolge der Wertepräferenzen darstellen, ein wesentlicher Indikator (Rohan & Zanna, 1996). Hierzu wurde jeweils der Mittelwert der z-standardisierten Werte jedes Wertetyps aller jungen Erwachsenen bzw. aller Elternteile berechnet und aufsteigend vom Minimum sortiert. Der niedrigste Wert entspricht dabei der höchsten Präferenz.
In der vorliegenden Studie spiegeln sich Ergebnisse aus unterschiedlichen internationalen Studien wider, in denen sich die Werte Benevolenz und Universalismus als die bedeutsamsten erwiesen (Schwartz & Sagiv, 1995). Sowohl die hier befragten jungen Erwachsenen als auch die Eltern präferieren die kollektiven, sozial orientierten Werte Benevolenz und Universalismus am höchsten, gefolgt von den Werten Hedonismus bei den jungen Erwachsenen und Sicherheit bei den Eltern. Am niedrigsten präferiert werden die Werte Macht und Konformität sowie Tradition bei den jungen Erwachsenen und Stimulation bei den Eltern. Insgesamt sind die Werteprofile der relativen Bedeutsamkeit der Wertetypen von Eltern- und Kindergeneration ähnlich.
Tab. 8: Werteprofile
Im Vergleich zu einer Stichprobe einer Schülerstudie[4] von Stein 2011 und zwei umfassenden Studien von Bardi und Schwartz (2003) fallen die Konkordanz der beiden höchsten und niedrigsten Wertetypen auf. „Die Schülerstudie unterscheidet sich von den beiden anderen Studien [von Schwartz] durch die altersgemäß niedrigere Identifikation mit Konformität und Sicherheit und die höhere Identifikation der Jugendlichen mit Stimulation und Hedonismus“ (Stein, 2013). In der vorliegenden Studie stellt sich die Wertepräferenz der jungen Erwachsenen ähnlich der Studie von Stein dar. Different ist, dass die personal orientierten Werte Hedonismus, Selbstbestimmung und Stimulation für die jungen Erwachsenen der vorliegenden Studie (2017) aus Nord-West Niedersachsen eine geringere Bedeutung haben als für die Schüler:innen aus Bayern 2011 und der Wert Sicherheit eine deutlich höhere Bedeutung. Dies könnte am höheren Durchschnittsalter der hier Befragten liegen und/oder an der zeitlichen Differenz der Studiendurchführung als Folge der zunehmenden sozialen Bewegungen und politischer Diskussionen über Themen wie Rassismus und Toleranz. Im World Value Survey (SVS) und European Value Survey (EVS) zeigen sich diese Tendenzen zu einer größeren Akzeptanz von Vielfalt, einem gesteigerten Engagement für die Bekämpfung von Ungleichheit und steigende Unterstützung für soziale Gerechtigkeit.
Aus den Ergebnissen wird deutlich, dass die sozial orientierten Werte Benevolenz und Universalismus die höchste Bedeutung aufweisen und die Bedeutung von personal orientierten Werten wie Hedonismus, Selbstbestimmung, Stimulation und Leistung im Vergleich der Studien von Schwartz in den 1990er Jahren, Stein 2011 und der vorliegenden Studie 2017 abgenommen hat. Traditionelle und Konformitätswerte haben hingegen insgesamt in allen Studien eine niedrige Bedeutung, ebenso wie der Wert Macht.
5.3 Zusammenhang zwischen Werteorientierungen und Religiosität
Im Sinne der Fragestellung, inwieweit ein Zusammenhang zwischen einer sozialen Werteorientierung und Religiosität besteht, wurden entsprechend der Wertetheorie nach Schwartz (1992) die Items/ Portraits, die ein sozial motiviertes Ziel ausdrücken in gleicher Weise wie die zehn Wertetypen als neue Variable berechnet und z standardisiert (z- WertPVQxsocial=PVQxsocial – PVQx). Gleichsam wurden die personal orientierten Items berechnet. So können gezielt Zusammenhänge zwischen einer sozialen Werteorientierung und ordinal skalierten Variablen, wie der Religiosität, ermittelt werden.
Die Auswertung zeigt mittels t-Test einer unabhängigen Stichprobe der Gruppe, die keiner Religionsgemeinschaft angehört oder keine Angabe dazu gemacht haben, und der Gruppe, die einer der fünf Weltreligionen oder einer anderen Religionsgemeinschaft angehört, dass die Religionszugehörigkeit keinen signifikanten Einfluss auf eine soziale Werteorientierung hat. Ein schwacher, aber signifikanter Einfluss zeigt sich zwischen der religiösen Selbsteinschätzung und einer sozialen Werteorientierung im Sinne der Schwartz´schen Wertetheorie (r=-183*)[5]
Um eine noch konkretere und gezieltere Aussage über die Bedeutung von Religiosität auf eine soziale Werteorientierung nach Schwartz mit dem Fokus auf eine demokratische Grundhaltung treffen zu können bietet eine Auswertung über einen Vergleich der Werteprofile von religiösen und nicht religiösen jungen Erwachsenengroßes Potential.
Die jungen Erwachsenen, die sich selbst als ziemlich oder sehr religiös einschätzen (N=61) präferieren den Wert Benevolenz mit M=-1,200 am höchsten, gefolgt von Universalismus (M=-,6131) und Selbstbestimmung (M=-.3339), wobei die auffallend hohe Differenz zwischen der Präferenz von Benevolenz und Universalismus zu Selbstbestimmung zu berücksichtigen ist. Obwohl zwischen der religiösen Selbsteinschätzung und dem Wert Tradition ein signifikant positiver Zusammenhang (r=-.315**) besteht und zu dem Wert Selbstbestimmung ein signifikant schwach negativer Zusammenhang (r=.151**) stellt sich die relative Bedeutsamkeit des Wertetypus Selbstbestimmung mit einer hohen Bedeutsamkeit (Rang 3) dar.
Die jungen Erwachsenen, die sich als gar nicht oder wenig religiös einschätzen (N=572) präferieren Benevolenz nahezu gleichermaßen mit M=-1,1644 als höchsten Wert, jedoch gefolgt von Hedonismus (M=-.5955). Der Wert Sicherheit wird nahezu gleichermaßen stark präferiert. Auffallend ist die Präferenz des Wertes Tradition. Ziemlich bis sehr religiöse junge Erwachsene präferieren Tradition auf Rang 5 (M=-.0422) deutlich höher als wenig bis gar nicht religiöse junge Erwachsene (Rang 10, M=.9946). Der Wert Leistung hingegen wird von den wenig bis gar nicht religiösen jungen Erwachsenen deutlich höher präferiert (M=.1579) als von den ziemlich bis sehr religiösen jungen Erwachsenen (M=.4345).
Tab. 9: Werteprofile religiöse und wenig/gar nicht religiöse junge Erwachsene
Abb. 2: Werteprofile religiöse und wenig/gar nicht religiöse junge Erwachsene
Die Hypothese, dass politisches Interesse und ehrenamtliches Engagement im Zusammenhang mit einer sozialen Werteorientierung stehen, kann statistisch nur sehr eingeschränkt bestätigt werden. Weder in einer Korrelationsanalyse mit den zehn z- standardisierten Einzelwerten („Ich habe mich nie mit Politik genügend befasst, um einen festen Standpunkt zu haben.“ r=- .048 bis r=.095 und „Im Grunde habe ich mich nie um Politik gekümmert, es ödet mich bloß an, mehr oder weniger.“ r=-.091 bis r=.046) noch mit dem Wertefokus der sozial orientierten Werte ist ein signifikanter Zusammenhang festzustellen.
Die Auswertung zeigt zudem, dass ehrenamtliches Engagement für Religion mit traditionellen (Tradition r=.204) und konformen (Konformität r=.088) Werten verbunden ist, während es überraschenderweise eine signifikant schwach negative Beziehung zu Werten wie Universalismus (r=-.076),Benevolenz (r=-.138),Selbstbestimmung (r=-.074) und Hedonismus (r=-.085) aufweist. Zudem besteht eine schwache, aber signifikante Verbindung zwischen ehrenamtlichem Engagement in einer religiösen Gruppe und dem Wert Tradition (r=.096).
5.4 Zusammenfassung der Ergebnisse
„Junge Menschen sind weniger religiös“ (Pickel, 2013, S. 10) und gleichzeitig wirkt sich (familiäre) Religiosität nachweislich positiv auf eine soziale Werteorientierung und demokratische Grundhaltung aus.
Die vorliegende Studie weist erwartungskonform nach, dass Religiosität in den Dimensionen institutionalisierte Religiosität (Religionszugehörigkeit), institutionalisierte religiöse Praxis (Besuch religiöser Veranstaltungen), private religiöse Praxis (Gebetsverhalten) und religiöse Identität (religiöse Selbsteinschätzung) im Generationenverlauf abgenommen hat (vgl. auch Albert, Hurrelmann & Quenzel, 2019; El-Menouar, 2022; LBS-Initiative Junge Familie, 2007; Liermann, 2017; Müke et al., 2023; Pickel, 2013; Pollack & Müller, 2013; Wunder, Erichsen- Wendt & Jacobi, 2023). Besonders deutlich zeigt sich dieser Bedeutungsverlust im individuellen Gebetsverhalten über zwei und familiären Gebetsverhalten über drei Generationen („Wie oft beten Sie?“ und „Wie oft haben Sie in Ihrer Herkunftsfamilie gebetet?“).
Gleichzeitig verdeutlichen die Ergebnisse, dass sich sowohl die eigenen religiösen Überzeugungen als auch ein religiöser familiärer Hintergrund positiv auf eine soziale Werteorientierung und demokratische Grundhaltung junger Erwachsener auswirken.
Insgesamt fällt in der Auswertung der Werteprofile der jungen Erwachsenen positiv auf, dass diese die für eine demokratische Grundhaltung relevanten Werte Benevolenz, Universalismus, Selbstbestimmung und Sicherheit zu den 5 (von 10) bedeutendsten Werten zählen, gemeinsam mit Hedonismus (Rang 4). Konformität und Tradition wird hingegen die niedrigste Bedeutung zugewiesen. In der Elterngeneration stellt sich das Werteprofil ähnlich dar, wobei Hedonismus (Rang 7) deutlich weniger und Tradition (Rang 5) deutlich mehr Bedeutung hat. Bei den jungen Erwachsenen verschieben sich die Präferenzen in einer Gruppendifferenzierung zu Gunsten einer traditionelleren Werteorientierung bei religiösen jungen Erwachsenen und hedonistischer, leistungs- und machtorientierterer Werteorientierung bei wenig Religiösen. Religiöse junge Erwachsene präferieren Benevolenz, Universalismus und Selbstbestimmung als die drei bedeutendsten Wertebereiche, während wenig bis gar nicht religiöse junge Erwachsene Benevolenz, Hedonismus und Universalismus am höchsten präferieren. Religiöse junge Erwachsene hingegen sind deutlich weniger hedonistisch, leistungs- und machtorientiert, aber traditioneller, und weisen dem Wert Selbstbestimmung in der Bedeutsamkeit der 10 Wertetypen eine höhere Bedeutung zu als wenig religiöse junge Erwachsene.
Auf Grund der Datenlage kann in der vorliegenden Stichprobe keine Aussage darüber getroffen werden, inwieweit es Gleichheit oder Differenzen der Werteorientierung unterschiedlicher religiöser Bekenntnisse gibt. Im Religionsmonitor 2013 wird jedoch dargelegt, dass sowohl Christ:innen als auch Muslim:innen den Werten Benevolenz und Universalismus gleichermaßen überdurchschnittlich hohe Bedeutung zusprechen (Pickel, 2013; Pollack & Müller, 2013).
6 Fazit und Ausblick
Eine integrative Gesellschaft, geprägt von zunehmender Vielfalt erfordert eine demokratische Grundhaltung, die Diskriminierung, Stigmatisierung und Ausgrenzung entgegenwirkt und die Grundwerte Freiheit, Gleichheit und Solidarität sowie Gerechtigkeit, Akzeptanz und Toleranz im Sinne des Grundgesetzes Art. 1 fördert. Erfassbar und messbar werden diese durch die Wertetheorie von Schwartz in den Wertetypen Benevolenz, Universalismus, Sicherheit, Konformität, Selbstbestimmung und Tradition, wobei Demokratie Mündigkeit und selbstbestimmtes, selbstreflektiertes Handeln als sehr wesentlich einschließt und überformtes konformes, traditionelles Verhalten ausschließt.
Die diesen Beitrag leitenden Hypothesen können im Sinne der Fragestellung: Inwieweit bestehen Zusammenhänge zwischen (familiärer) Religiosität und einer sozialen Werteorientierung als Grundvoraussetzung für eine demokratische Grundhaltung für ein friedliches, tolerantes Zusammenleben in pluralen Gesellschaften? bestätigt werden.
In der Auswertung der Daten der 927 jungen Erwachsenen und 325 Elternteile wird deutlich, dass demokratisch orientierte Werte Benevolenz, Universalismus, Selbstbestimmung und Sicherheit sowohl in der Elterngeneration als auch in der Generation der jungen Erwachsenen rein personal orientierten Werten, wie Leistung, Macht und Stimulation, vorgezogen werden. Die Bedeutungszuschreibung von Benevolenz, Universalismus, Selbstbestimmung und Tradition ist bei den religiösen jungen Erwachsenen höher als bei den wenig bis gar nicht religiösen jungen Erwachsenen. Da diese Werte, wie die theoretische und empirische Erarbeitung zeigt, als entscheidend für eine demokratische Grundhaltung verstanden werden können, lässt sich schließen, dass Religiosität einen positiven Einfluss auf eine demokratische Grundhaltung nimmt, wobei zu berücksichtigen ist, dass sich eine Überformung, insbesondere traditioneller, konformer Orientierungen, negativ auf eine demokratische Grundhaltung auswirken kann.
Religiosität und religiöses Engagement werden nachweislich innerhalb der Generationen tradiert, verlieren jedoch im Generationenverlauf an Bedeutung. So lässt sich schlussfolgern, dass (familiäre) Religiosität sich positiv auf eine demokratische Werteorientierung und damit auf interreligiöse und interkulturelle Verständigung auswirkt, dieser positive Einflussfaktor jedoch zunehmend an individueller Bedeutung verliert.
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Alexandra Schramm, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im BMBF-geförderten Projekt Gesellschaftliche Ursachen und Wirkungen des radikalen Islam aus Sicht (angehender) islamischer Theolog:innen (UWIT).
Prof. Dr. Margit Stein, Professorin für Allgemeine Pädagogik im Fachbereich Erziehungswissenschaften an der Universität Vechta.
Prof. Dr. Dr. Veronika Zimmer, Professorin für Soziale Arbeit an der IU Internationale Hochschule. Mitglied des Zentrums für Radikalisierungsforschung und Prävention.
Alexandra Schramm, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im BMBF-geförderten Projekt Gesellschaftliche Ursachen und Wirkungen des radikalen Islam aus Sicht (angehender) islamischer Theolog:innen (UWIT).
Ergänzender Anhang
Tab. 2: Ausgewählte Items aus dem Messinstrument
Tab. 7: Berechnung der Wertetypen in SPSS
Mittels Chi Quadrat Test, lässt sich die Stärke des Zusammenhangs über Cramers V berechnen.
Die Korrelation ist auf dem 0,01 Niveau signifikant (zweiseitig).
Im Vergleich von verschiedenen Stichproben ist nur ein Vergleich der Rangfolge nicht aber der Mittelwerte möglich, da es sich um die relative Bedeutsamkeit innerhalb einer Stichprobe handelt.
142 Heranwachsende zwischen 12 und 16 Jahre im ländlichen Bayern.
Da es sich bei der religiösen Selbsteinschätzung um eine aufsteigende Codierung (1= gar nicht religiös bis 5= sehr religiös) und der Werteorientierung um eine absteigende Codierung handelt, handelt es sich statistisch um eine negative Korrelation, wird inhaltlich jedoch positiv interpretiert.