Die Frage nach der strukturellen Ausrichtung des Religionsunterrichts in Deutschland bleibt auf verschiedensten Ebenen virulent. In der soeben veröffentlichten sechsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD (KMU VI) wird dieser Punkt aufgegriffen; die Zustimmung zu RU-Modellen ist Gegenstand der Studie und zu den Ergebnissen zählt, dass sich mehr als die Hälfte der repräsentativ Befragten für einen neutralen Religionsunterricht bzw. einen gemeinsamen Unterricht der Religionen ausspricht (55% bzw. 54%). Die öffentliche Plausibilisierung konfessionsbezogener Bildungsangebote bleibt eine Herausforderung. Auch im Gespräch zwischen den Didaktiken der Fächer Religion und Ethik/Philosophie/Werte und Normen spielt die Frage nach der Religion und dem angemessenen Zugriff auf den jeweiligen Gegenstand eine zentrale Rolle. Auf der GwR-Tagung vom 1.-3. September 2023 haben wir den Dialog zwischen beiden Fachdidaktiken ins Zentrum gestellt, um die beiden Fachlogiken im Gespräch und anhand von Fachfragen näher kennen zu lernen und Kooperationsoptionen zu bedenken. Nicht nur für die strukturelle Weiterentwicklung des RU ist dieses Gespräch relevant, sondern vor allem auch für die zukünftige Akzeptanz wie Ausgestaltung einer (potenziellen) Fächergruppe. Bezugnehmend auf die oben genannten Ergebnisse stellt sich darüber hinaus die Frage, ob sich die öffentliche Einschätzung des RU tatsächlich am äußeren Format und nicht vielleicht an ganz anderer Stelle, zum Beispiel an der Unterrichtsqualität, entscheidet. Auch zu dieser Klärung können u.a. Ergebnisse der KMU beitragen, wie die Ergebnisse von Hock und Käbisch in dieser Theo-Web-Ausgabe zeigen.

In diesem Heft steht die Dokumentation der GwR-Jahrestagung mit dem Titel „Ethik-/Philosophiedidaktik und Religionspädagogik im Gespräch“ an erster Stelle. Im thematisch hinführenden und die Dokumentation einleitenden Editorial von Susanne Schwarz, Ulrike Witten, David Käbisch und Laura Weidlich werden die Tagungsanlässe, Ziele und Herausforderungen näher beschrieben und die einzelnen Beiträge vorgestellt.

Darüber hinaus finden sich im Theo-Web-Teil „Forschung und Diskurs“ vier Artikel. Die ersten beiden beziehen sich auf die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung.

Auf Basis einer Teilstichprobe der KMU VI (14-35-Jährige) stellen Johanna Hock und David Käbisch fest, dass sich trotz erheblicher Differenz in den Organisationsformen des RU in den Bundesländern Hamburg, Hessen, Niedersachsen und Brandenburg kein Unterschied im Antwortverhalten zu zwei Fragen um Vielfalt im Unterricht nachweisen lässt. Zwei Items (zur wahrgenommenen Pluralität des Unterrichts und zur freien Diskussion mit verschiedenen Meinungen) wurden mittels einfaktorieller Varianzanalyse geprüft. Mangels jeglicher signifikanter Abweichungen zwischen den Ländern plädieren die Autorin und der Autor für einen Perspektivwechsel von den großen Formfragen auf der Makroebene hin zum Blick auf die Qualität des Religionsunterrichts auf der Mikroebene und auf das unterrichtliche Setting mit Aufgabenformaten etc.

Beide widmen sich in einem zweiten Artikel auch der statistischen Analyse von Einflussfaktoren auf die ‚wahrgenommen Wirksamkeit‘ des Religionsunterrichts, die ebenfalls in der KMU VI erhoben wurde. Untersucht wird dabei die Kohorte der 14-23-Jährigen; die Berechnung erfolgt mittels eines multiplen linearen Regressionsmodells. Festzustellen sind ungleichheitsstiftende Voraussetzungen zwischen Konfessionslosen und religiös Sozialisierten, wenn bei den Letzteren schlicht durch Konfessionszugehörigkeit, kindliche Vorerfahrungen und kirchliche Religiosität ein statistisch nachweisbares Fundament im Hintergrund aufgebaut wurde, das die wahrgenommene Wirkung des Unterrichts erhöht und das als ‚religiöses Kapital‘ im Sinne Bourdieus bezeichnet werden kann.

Ebenfalls im Blick auf die sehr unterschiedliche religiöse Sozialisation der Schülerinnen und Schüler im Religionsunterricht fragt Christian Hild mit konkreten unterrichtspraktischen Bezügen nach Übersetzungen einer religiösen bzw. als religiös verstandenen Sprache. In Verbindung von theoretischen Überlegungen und praktischen Erfahrungen stellt er ein Lehr-Lern-Arrangement zur translatologischen Sensibilisierung und Einübung in die Übersetzungspraxis der Schülerinnen und Schüler vor. Hürden und Chancen der Übersetzung von Wörtern wie ‚Gott‘ werden dabei theologisch und religionspädagogisch, theoretisch und im Blick auf die Praxis diskutiert.

Im vierten Artikel fragt Ulrike Sallandt schließlich aus der Perspektive Systematischer Theologie u.a. schöpfungstheologisch nach der Dimension des Raumes bzw. der Räumlichkeit und greift auf Levinas, Ricœur, Marquardt und Askani zurück. Sie zielt u.a. auf ein Bewusstsein der Raumgabe Gottes in Übernahme theologisch-ethischer Verantwortung. Die Entgrenzung und Weitung von Theologie und Religionspädagogik im Bewusstsein glokaler Abhängigkeiten und Verflechtungen steht im Mittelpunkt der Ausführungen. Dabei werden besonders Aspekte kultureller Alterität betont. Die Erörterung wird von vielfältiger systematisch-theologischer Literatur flankiert.

Im Rezensionsteil der Ausgabe stellt Martin Schreiner wiederum gekonnt für religiöse Bildungsfragen zentrale Neuerscheinungen vor. Dafür sei ganz herzlich gedankt!

Melanie Binder hat dankenswerterweise abermals sorgfältig die Tagungsankündigungen zusammengestellt. Merci!

Und nicht zuletzt haben wir ganz herzlich dem Wiener Theo-Web-Team: Melanie Binder, Marietta Behnoush, Karin Sima und Thomas Szabo ein großes Dankeschön für die äußerst sorgfältige, geduldige und schnelle Erstellung der Ausgabe zu sagen.

Allen Leser*innen eine anregungsreiche Lektüre! Über Rückmeldungen freuen wir uns.