Wie gnadenlos und radikal Antisemitismus in europäischen Gesellschaften und auch in Deutschland wieder aufflammt, hat nicht wenige überrascht. Die EU-Studie „Experiences and perceptions of antisemitism“ (European Union Agency for Fundamental Rights = FRA, 2018) konstatierte schon 2018, dass im Vergleich zur Vorgängerstudie von 2012 Antisemitismus zum wachsenden Problem wird (vgl. FRA, 2018, S. 11). Neun von zehn Befragten schätzten Antisemitismus als ernste Schwierigkeit in ihrem Land ein, acht von zehn sogar als sehr ernste (vgl. FRA, 2018, S. 17). Die Diskriminierungen decken die Bandbreite von alltäglich gewordenen judenfeindlichen Erniedrigungen über Stereotype, Hassreden und Hetzkampagnen v. a. im Internet bis zu gewalttätigen Überfällen in sich steigernder Frequenz ab (vgl. FRA, 2018, S. 21–29; Schwarz-Friesel, 2019). Dass antisemitische Aktionen in Deutschland in die Mitte der Gesellschaft wandern, alltäglicher werden und an Brutalität zunehmen, stimmt dabei besonders nachdenklich (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz, 2022, S. 21–23). Da kann es kaum noch entlasten, dass antisemitisch motivierte Gewalttaten nach wie vor auf extremistische Gruppen beschränkt bleiben – zumindest bislang (vgl. Kiess, Decker, Heller & Brähler, 2020, S. 212–213).
Die religionspädagogisch motivierten Fragen angesichts dieser Beobachtungen gehen mindestens in zwei Richtungen: Retrospektiv ist zu überlegen: Wie konnte und wie kann dieser menschenverachtende Antisemitismus nach so vielen Jahren HE quer durch die Schularten und Klassenstufen nach wie vor verfangen? Und prospektiv: Wie kann und muss antisemitismuskritische Bildung ansetzen, damit jüdisch gelesene Menschen nach wie vor als selbstverständliche, unvertretbare und wichtige Gruppe in Deutschland leben und sich einbringen können? Die eine Frage hängt mit der anderen zusammen. Insofern geht der folgende Beitrag zunächst Brisanzen antisemitismuskritischer Bildung nach, also Situationen, die antisemitismuskritische Bildung nötig machen und zugleich bedingen. Damit wird auch der religionspädagogische Forschungsstand zu antisemitismuskritischer Bildung aufgearbeitet. (1). Von da aus werden Erscheinungsformen des Antisemitismus, die Spannbreite aktueller Definitionen und deren Absichten in den Blick genommen (2). Die beiden Perspektiven helfen, bisher bestehende Ansätze antisemitismuskritischer Bildung zu identifizieren und einzuordnen und zugleich Forschungsdesiderate aufzudecken, um die Richtung anzudeuten, wie antisemitismuskritische Bildung in der Religionspädagogik zukünftig ansetzen kann und soll (3).
1 Brisanzen antisemitismuskritischer Bildung in der Religionspädagogik
Schon kurz nach der Schoah begann mit der Seelisberger Konferenz als jüdisch-christlichem Dialoggeschehen die theologische Aufarbeitung des Unfassbaren (Seelisberger Thesen von 1947; Lenzen, 2016, S. 36-52). Obwohl daran neben jüdischen und protestantischen Vertreter:innen auch katholische teilnahmen, taten sich die beiden großen Kirchen und insbesondere die katholische noch lange schwer, sich mit den eigenen antisemitischen Haltungen und den durch antijudaistisch geprägte Theologien motivierten Diskriminierungen und Gewalttaten gegen Juden auseinanderzusetzen (selbst nach dem Kriegsende zögerlich unter Pius XII., für Deutschland etwas expliziter auf dem 72. deutschen Katholikentag 1948 in Mainz und dann faktisch erst unter dem Pontifikat Johannes XXIII. ab 1958) . Die jahrhundertelange Diffamierung jüdischen Lebens und des Judentums als Religion schien und scheint sich nicht so leicht abschütteln zu lassen und erstarkt heute in erzkonservativen Kreisen erneut.
1.1 Frühphase religionspädagogischer Forschungen zum Thema: konzipiert als „Lernprozess Christen Juden“ und zugespitzt auf Holocaust Education
In der religionspädagogischen Forschung weckten besonders die Arbeiten von Günter Biemer (vgl. Biemer, Biesinger & Fiedler, 1984) und seiner damaligen Assistenten Peter Fiedler, Albert Biesinger und Werner Tzscheetzsch das Bewusstsein, dass Forschung politisch werden müsse und sich auch in der Erweiterung der Inhaltsbereiche auf den „Lernprozess Christen Juden“, so der Titel der Lehrmaterialien, einzulassen habe. Die Entwicklung einer Theologie nach Ausschwitz durch Johann Baptist Metz, Franz Mußner, Peter von Osten Sacken, Friedrich-Wilhelm Marquardt und andere gestaltete die religionspädagogische Community in Form einer Schulbuch- und Schulcurricula-Revision mit. In den 1990er Jahren wurden diese Forschungen nach und nach in das sog. „Erinnerungslernen“ eingepflegt. Dieses orientierte sich zum einen an der Theologie nach Auschwitz und richtete sich zum anderen an pädagogischen Absichten entsprechend der Forderung Theodor W. Adornos aus: „[D]aß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste … an Erziehung“ (Adorno, 1970, S. 88). In dieser Zeit standen v. a. die Opfer des Holocaust, deren Zeugnisse und das Erinnern an sie im Fokus religionspädagogischer Studien. Konzipiert als „Lernprozess Christen und Juden“ und damit offen für vielfältige inhaltliche Ausgestaltungen spitzte sich der Forschungsfokus wie auch in anderen Wissenschaftsdisziplinen (Geschichte, Literaturwissenschaften, Erinnerungskulturen) immer mehr auf HE zu. Diese Perspektivierung antisemitismuskritischer Bildung als HE einerseits und Erinnerungslernen als Form der Auseinandersetzung mit Geschichte andererseits begleiten die religionspädagogische Auseinandersetzung bis heute (vgl. Rothgangel, 1996; Schambeck, 2013; Boschki, 2015; Schwendemann, 2005).
1.2 Holocaust Education – Profil und Herausforderungen in der Religionspädagogik
Als die vierteilige US-amerikanische Fernsehserie unter dem Titel „Holocaust“ 1978 zunächst in den USA und 1979 in Deutschland ausgestrahlt wurde, bekam die Auseinandersetzung mit der massenhaften Vernichtung der Jüd:innen in Deutschland einen Namen, ein Gesicht und eine bis heute andauernde Schubkraft. Die bis dato changierenden Termini „Shoa“, „Holocaust“, „Judenvernichtung“ wurden mit dieser Serie endgültig auf den Begriff „Holocaust“[1] als terminus technicus für die systematische Auslöschung des jüdischen Volkes in Europa durch das Naziregime zugespitzt, ohne andere Opfergruppen auszuschließen (vgl. Ballis & Gloe, 2019, S. 4). Zudem löste der Film eine vielschichtige und überfällige Diskussion über den Holocaust in breiten Schichten der Bevölkerung aus. Was zwar gewusst, politisch, juristisch und gesellschaftlich aber selbst 30 Jahre nach Beendigung der Nazi-Herrschaft immer wieder zu vertuschen versucht wurde, bekam in der fiktiven Geschichte der Familie Weiss in den Wohnzimmern Deutschlands ein Gesicht, wurde unmittelbar miterlebbar und konnte nicht mehr für nichtig erklärt werden. Die in den 1968er Jahren in intellektuellen Kreisen zwar begonnene Debatte über den Holocaust war nun nicht mehr zu stoppen und aus der breiten Öffentlichkeit herauszuhalten. Schonungslos wurden die vielen Mitwisser:innen, Mittäter:innen und Zuschauer:innen beleuchtet, die als Väter und Großväter, als Mütter und Großmütter, als Onkel und Tanten am Familientisch saßen.
1.3 Holocaust Education als Beschäftigung mit den Opfern und den historischen Ereignissen
1.3.1 Holocaust Education – Beschäftigung mit dem historisch Faktischen
Eine Konsequenz daraus war, Lehrpläne, Lehrmaterialien sowie die Bildungsarbeit insgesamt nicht mehr ohne HE zu denken. Die Auseinandersetzung mit den vielen Opfern, die Frage nach den Mechanismen, die so menschenverachtendes, skrupelloses Verhalten auslösten, die Vergewisserungen des historisch Faktischen dominieren seitdem die Beschäftigung mit dem Holocaust (vgl. Schambeck, 2013, S. 381–382; Spichal, 2016). Das ist der erste und wohl grundlegendste Aspekt von HE.
1.3.2 Holocaust Education – Konzentration auf enzyklopädisches Wissen
Ein weiterer Aspekt besteht darin, dass sich HE über weite Strecken auf Wissensvermittlung konzentrierte (Deportationswege, Aufbau von Konzentrationslagern, historische Daten etc.) und damit einhergehend auf die Erklärung historisch wirksamer Mechanismen (Gründe für das Scheitern der Weimarer Republik, Restitutionsabgaben als Grund für die Verarmung breiter Schichten und deren Anfälligkeit für Extremismus etc.). Auch wenn dies aus pädagogischem Interesse an den ethischen Folgerungen aus dem Holocaust geschah, legt genau diese Profilierung momentan ein Defizit bisheriger Konzepte der HE offen: Sie bewirkt zwar einen Zuwachs an kognitivem Wissen und intendiert pädagogische Prozesse, erreicht bei Schüler:innen aber kaum Einstellungs- oder Haltungsänderungen (vgl. Gross & Luria, 2023). Rein kognitiv angelegtes Lernen scheint trotz der Beschäftigung mit grauenvollsten Tatsachen kaum den Weg zu den Schüler:innen selbst zu finden und eine nachhaltige antisemitismuskritische Haltung aufbauen zu helfen (vgl. Stevick & Gross, 2015, S. 4). Die Arbeit der sog. Gedenkstätten-Pädagogik versuchte diese Lücke zu bearbeiten. Besuche von KZ-Lagern, Mahnmalen oder Dokumentationszentren befördern einerseits enzyklopädisches Wissen und gehen zugleich v. a. durch die Begehung und damit körperliche Präsenz der Ko-Aktant:innen (der Schüler:innen wie der erinnerten Opfer und Täter:innen) über das nur Kognitive hinaus (vgl. Münch, 2019, S. 105–106 ). Ebenso war und ist die Auseinandersetzung mit Zeitzeug:innen davon motiviert, auch emotionale Lernprozesse zu ermöglichen und so zu einer umfassenden Bildung beizutragen (vgl. Gruberová & Grimm, 2022, S. 222–241).
Als religionspädagogische Aufgabe der Religionspädagogik formuliert sich deshalb, wie HE so konzipiert werden kann, dass auch Einstellungs- und Haltungsänderungen erreicht werden, ohne zu überwältigen. Erprobungen in Israel zum Thema Holocaust mit immersiven Lernverfahren sowie die Anwendung immersiver Lernarrangements bei anderen Themengebieten scheinen vielversprechend, um diese Richtung weiter zu beforschen (vgl. Rothgangel, 2023, S. 140–154).
1.3.3 Holocaust Education als Auseinandersetzung mit Betroffenen
Drittens kennzeichnet HE, die Betroffenen in die Mitte des Lerngeschehens zu rücken. Dies ist mindestens in zwei Richtungen zu verstehen: Zum einen ist ein wichtiger Lernweg solcher Konzepte, mit Zeitzeug:innen zu arbeiten. Zum anderen wird vorausgesetzt, dass die beteiligten Lerngruppen aufgrund ihrer eigenen Biographie – weil sie sich als Deutsche verstehen, weil ihre eigenen Vorfahren zur Zeit der NS-Diktatur lebten, weil vielleicht im eigenen Familienkreis Opfer oder auch Täter:innen waren – Berührungspunkte mit dem Holocaust haben. Beide Prämissen erodieren momentan. HE muss sich mit der Tatsache auseinander setzen, dass die letzten Zeitzeug:innen sterben und die wenigen Verbliebenen aufgrund ihres hohen Alters kaum noch fähig sind, (öffentlich) zu sprechen. Und auch die Gruppe der Lernenden, die mittlerweile die fünfte Generation nach Auschwitz darstellt, hat sich in vielerlei Hinsicht verändert: Der zeitliche Abstand wird größer, das unmittelbare Wissen geht verloren und immer weniger Schüler:innen sehen aufgrund von Zuwanderung, differierender Religionszugehörigkeit u. a. den Holocaust als „ihre Geschichte“ an. Auf diese Beobachtungen müssen Konzepte der HE reagieren: Sie tun dies z. B., indem Zeitzeug:innen über VR (= virtual reality) digital zugänglich gemacht werden (vgl. Ballis & Gloe, 2024). Damit bleibt die unersetzbare Einzigkeit und Autorität, die Zeitzeug:innen auszeichnet, für historisch spätere Lerngruppen zugänglich und ermöglicht zudem, das oben formulierte Desiderat immersiver Lernarrangements einzulösen.
Auch die andere Herausforderung der zunehmenden Heterogenität und historischen Distanz der Lerngruppen muss künftig noch stärker in Ansätze der HE integriert werden. Konkret heißt dies, den Israel-Palästina-Konflikt, der über zugewanderte Schüler:innen aus diesen Ländern sowie anderen arabischen Ländern eine ganz andere Brisanz gewinnt, aktiv aufzugreifen und die Funktionalisierung von Religion als zu Unrecht und gegen die Intention der Religionen benutzten Konfliktfaktor zu thematisieren. Mit anderen Worten steht es dringend an, Religion als eigene Größe in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust bewusst zu machen und insbesondere in der Komplementierung der HE mit der antisemitismuskritischen Bildung als eigenes Thema zu reflektieren.
1.3.4 Internationalisierung der Holocaust Education
Schließlich ist HE noch in einer vierten Hinsicht zu lesen, die erst in den letzten 20 Jahren zunehmend an Bedeutung gewann, nämlich ihrer Internationalisierung. Nicht nur in Deutschland, sondern auch im globalen Horizont hat HE sowohl an Sekundarschulen als auch im Hochschulbereich einen wichtigen Platz bekommen (vgl. Gross, 2018, S. 5–6). Dies ist insbesonders durch die Genozide in Burundi und Ruanda, in Srebenica und an den Uiguren, um nur eine kleine Anzahl aus jüngster Zeit zu nennen, verursacht worden. Ohne die Einzigkeit und Unerhörtheit des Holocausts zu leugnen, wurde je länger umso deutlicher, dass Auschwitz nicht einmalig blieb, sondern sich quasi als Paradigma für andere Genozide erwies (vgl. Bauer, 2001). International wuchs das Bewusstsein, dass der Holocaust, wenn auch in damals von Deutschen beherrschten Gebieten verübt und ohne dessen nationale Verantwortung zu schmälern, i. S. der Menschenrechtsbildung globale Bedeutung bekommen sollte (vgl. Gross, 2018, S. 6). Wenn klar war, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, müssten Bemühungen intensiviert werden, HE nicht nur über einzelne Forscher:innen zu betreiben und damit in gewisser Weise dem Zufall zu überlassen, sondern ihr (bildungs-)politisches Gewicht zu verschaffen.
Dies war ein ausschlaggebendes Motiv für die Gründung des IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance) im Januar 2000 in Stockholm (vgl. Gross, 2018, S. 8) und fand einen weiteren Höhepunkt, als im November 2005 die UN eine Resolution verabschiedeten, den 27. Januar als Internationalen Holocaust Gedenktag auszurufen (vgl. UN, 2005). Spätestens damit mussten Schulen weltweit Materialien entwickeln, mit diesem Gedenken umzugehen und Schüler:innen damit zu befassen. HE wurde mehr und mehr zum Beispiel und zum Lernfeld für Menschenrechtsbildung und Global Citizenship Education.
Genau an dieser Stelle bewegt sich die Debatte momentan. HE gilt zunehmend weltweit und insbesondere in Deutschland als unverzichtbarer Teil schulischer und näherhin historischer, politischer, religiöser und sprachlicher Bildung. Zugleich erfordern die veränderten gesellschaftlichen und historischen Bedingungen weitere Perspektiven, um einerseits der Beschäftigung mit den Schrecknissen von Auschwitz gerecht zu werden und andererseits Schüler:innen zu befähigen, nicht erneut in die Falle von Extremisten und Menschenverächtern zu geraten. Ein Weg daraus war und ist noch immer, HE auf Erinnerungslernen zu weiten.
1.4 Erinnerungslernen zwischen Komplementarität und Konkurrenz? – Dimensionierungen und Fragen
Insbesonders die Erkenntnis, dass die rein kognitive Auseinandersetzung mit dem Holocaust nicht ausreicht, um die intendierten pädagogischen Konsequenzen zu erzielen, motivierte nicht wenige Forscher:innen, HE entweder um das Erinnerungslernen zu ergänzen oder es in ihm aufzuheben (vgl. Leimgruber, 2010; Boschki, 2015; Forschungsgruppe REMEMBER, 2020a).
Kennzeichnend für das Erinnerungslernen ist, dass es einerseits die Wege thematisiert, Erinnerung zu transportieren. Andererseits werden in ihm sowohl kollektive als auch individuelle Erinnerungen thematisiert. Drittens schließlich geht es um die wichtige emotionale Dimension von Erinnerung und viertens wird die in der HE zwar immer mitgedachte, aber nicht immer explizierte Bedeutung des Vergangenen für die Gegenwart und die Zukunft zum wichtigen Kennzeichen. Mit anderen Worten wird das in der Geschichtsdidaktik seit den 1970er Jahren erarbeitete Konzept des Geschichtsbewusstseins aufgegriffen (vgl. Forschungsgruppe REMEMBER, 2020b, S. 27–28) und für die Auseinandersetzung mit den Schrecknissen von Auschwitz und den pädagogischen Konsequenzen daraus thematisiert.
So offensichtlich die Kohärenz, mindestens aber Komplementarität des sog. Erinnerungslernens mit den religionspädagogischen Anliegen der HE ist, so zeichnet sich je länger desto mehr in den Formen des Erinnerungslernens ab, die Forschungsintentionen von den historischen Interessen deutlicher auf die pädagogischen zu verschieben. Was können wir aus der Beschäftigung mit dem Holocaust für die Menschenrechts-, Demokratiebildung und Global Citizenship Education etc. lernen und welche pädagogischen Konzepte sind hier hilfreich (vgl. Eckmann, 2015, S. 53‒65)?
Die Arbeit der Forscher:innengruppe REMEMBER kann als jüngste und elaborierteste Studie in diesem Denkhorizont charakterisiert werden (vgl. Forschungsgruppe REMEMBER, 2020b, S. 21). Im länderübergreifenden Vergleich (Deutschland, Österreich und Schweiz) werden die Praxen von Religionslehrkräften im Umgang mit dem Thema Holocaust erforscht und deren subjektive Theorien erhoben. Ziel war es, eine empirische Basis zu gewinnen, um Potenziale und Chancen dieses Themas im Religionsunterricht zu identifizieren. Zugleich wurden damit wichtige Impulse für die zukünftig um antisemitimuskritische Bildung ergänzte (Religions-)Lehrer:innenausbildung gesetzt. Gerade die eruierte Gegenwartssensibilität von Religionslehrkräften ist ein wesentlicher Antrieb, in der Thematisierung des Holocaust einen Anlass für die Entwicklung von Handlungsempfehlungen zur Antisemitismusprävention zu sehen und damit Demokratiebildung und Menschenrechtsbildung voranzutreiben (vgl. Forschungsgruppe REMEMBER, 2020c, S. 215–218).
Durch diese Fokussierung sowie motiviert durch Aufrufe jüdischer Institutionen und Menschen wird bewusst, dass antisemitismuskritische Bildung mehr sein muss als HE, aber auch über den Zuschnitt des Erinnerungslernens hinauszugehen hat. V. a. muss sie mehr sein als eine rein kognitive Auseinandersetzung mit der alle Vorstellungen sprengenden und jegliches menschliches Empfinden verneinenden Vernichtung von Millionen Jüd:innen und die Perspektive der Betroffenen besser als bisherige Konzepte zur Geltung bringen. Die sog. antisemitismuskritische Bildung versucht diese Desiderate aufzunehmen, ohne die bisherigen Konzepte überflüssig zu machen.
1.5 Anfänge antisemitismuskritischer Bildung
Sowohl die unterschiedlichen Perspektivierungen von HE und Erinnerungslernen als auch die zunehmenden antisemitischen Vorfälle bilden das Reservoir, aus dem sich die antisemitismuskritische Bildung entwickelte. Wann diese Terminologie zum ersten Mal verwendet wurde, bleibt unklar (vgl. Schröder, 2023, S. 518). Unbestreitbar ist jedoch, dass der BMWF-Call zur Prävention von Antisemitismus von 2021 und v. a. die Studie von Julia Bernstein „Antisemitismus an Schulen in Deutschland“ (vgl. Bernstein, 2020), die 2020 veröffentlicht wurde, in mehrfacher Hinsicht antisemitismuskritische Bildung auch im religionspädagogischen Kontext nach vorne brachte.[2] Zum einen wurde deutlich, dass Antisemitismus ein massives Problem an Schulen in Deutschland darstellt. Zum anderen half diese Studie, diesen Globalbefund zu differenzieren und zu verdeutlichen, dass trotz jahrelanger HE und intensiver Auseinandersetzungen mit den Schrecknissen von Auschwitz, 1. ein eklatantes Unwissen über Antisemitismus unter Schüler:innen und Lehrer:innen vorherrscht, 2. „Du Jude“ zu den populärsten Schimpfwörtern auf deutschen Schulhöfen gehört und 3. Antisemitismus häufig nicht erkannt und nicht zum Gegenstand pädagogischer Interventionen wird (vgl. Bernstein, 2020, S. 14). Anders als bisherige Studien, die v. a. darauf setzten, Lehrkräfte für den pädagogischen Umgang mit Antisemitismus zu sensibilisieren und zudem meist ohne Beteiligung jüdisch gelesener Menschen bzw. Expert:innen erfolgten, fokussierte sich die Arbeit Julia Bernsteins auf die empirische Erhebung von Antisemitismus an Schulen in Deutschland, die die Perspektive von Jüd:innen in den Vordergrund stellt und dazu die Betroffenen selbst zu Wort kommen lässt. Im Zeitraum von Juni 2017 bis November 2018 wurden insgesamt 251 narrative und problemzentrierte Interviews geführt, und zwar mit jüdischen Schüler:innen, deren Eltern und jüdischen Lehrkräften, aber auch mit nicht-jüdischen Lehrkräften, die auf ihre pädagogische Praxis, Problemwahrnehmung sowie Handlungsroutinen befragt wurden. Aus der Rekonstruktion dieser unterschiedlichen Perspektiven und aus dem Vergleich der Ergebnisse sollte das Phänomen Antisemitismus an Schulen plastisch und damit auch (pädagogisch) bearbeitbar werden (vgl. Bernstein, 2020, S. 15. 24‒29.).
So jung also die Terminologie antisemitismuskritische Bildung ist und so sehr sich Konzepte antisemitismuskritischer Bildung erst formen, so ist vor dem Hintergrund der aufgezeigten Brisanzen und der unterschiedlichen pädagogischen Reaktionen darauf klar, dass die Modellierung antisemitismuskritischer Bildung nicht jenseits der vorhandenen Konzepte zu entwerfen ist, sondern diese fortschreibt und ergänzt.
2 Spannbreite des Antisemitismus – Über Definitionen, Erscheinungsweisen und transportierte (religions-)pädagogische Implikationen
Gewinnt die Konzeptualisierung antisemitismuskritischer Bildung also einerseits ihre Konturen über die Brisanzen des Themas Antisemitismus und die pädagogische Konzeptbildung, schärft sie sich andererseits über die gängigen Definitionen von Antisemitismus, dessen Erscheinungsweisen und die mittransportierten (religions-)pädagogischen Implikationen an. Diese sollen im Folgenden zumindest skizziert werden:
2.1 Definitionen von Antisemitismus
Eine sehr weite Definition wählt Julia Bernstein in ihrer Studie, wenn sie Antisemitismus als „ein Phänomen [beschreibt], das sämtliche Formen der Judenfeindschaft umfasst“ (Bernstein, 2020, S. 36). Ähnlich umfassend, wenn auch in eine andere Richtung zielend, konstatiert Earl Raab, der ehemalige Direktor der Jüdischen Vertretung in San Francisco: „Antisemitism is a cultural reservoir so powerful that it cannot be emptied [but] lies there irreversibly, latent as a best, like a reservoir not of water but of gasoline waiting to burst into flame“ (Halkin, 2024). Damit wird deutlich, dass Antisemitismus eine welt- und geschichtsumspannende Diskriminierung von Jüd:innen meint, die nicht nur im Bereich der Gedanken bleibt, sondern ihre destruktive Kraft auch in Form von Tat-Verbrechen in die Schicksale von Jüd:innen schreibt.
Beide Dimensionierungen – dass Antisemitismus viele Facetten von Jüd:innenfeindschaft umfasst sowie sich wie eine leicht entzündbare Feuersbrunst durch die Geschichte schlängelt – sind in allen gängigen Definitionen von Antisemitismus anzutreffen. Angestoßen durch das Bewusstsein, dass Antisemitismus erst dann eindeutig bekämpfbar und v. a. justiziabel ist, wenn klar ist, was damit gemeint ist, haben Internationale Institutionen begonnen, Definitionen von Antisemitismus vorzulegen. Die Arbeitsdefinition des IHRA ist sowohl die wissenschaftlich am meisten verbreitete als auch Referenzpunkt für die Bundesregierung und viele andere EU-Mitgliedstaaten, ohne allerdings rechtlich bindend zu sein. Dort wurde am 26. Mai 2016 folgende Definition verabschiedet: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen“ (IHRA, 2021). 2017 ergänzte die Bundesregierung diese um den Zusatz: „Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein“ (Auswärtiges Amt, 2017). Anlass war der erklärte Ausdruck der Bundesregierung, dass die Sicherheit des Staates Israel Teil der deutschen Staatsräson sei (vgl. Rede von Bundeskanzlerin Merkel, 2008, S. 7).
Wurden diese Definitionen in erster Linie für die politische, behördliche und polizeiliche Arbeit entwickelt, zeigte sich je länger desto mehr, dass es neben der Sicherung von Jüd:innen auch darum ging, deren Selbstverständnis gesellschaftlich besser abzubilden. Der vom Deutschen Bundestag eingesetzte Unabhängige Expert:innenkreis erweiterte deshalb die damals schon in der Diskussion vorhandene, aber noch nicht ratifizierte Arbeitsdefinition des IHRA, die das Moment des religiösen Selbstverständnisses als Kennzeichen des Jüdischseins unterstrich, auf Jüd:innen hin, die sich zwar als jüdisch, nicht aber als religiös bezeichneten. Antisemitismus gilt hier als „Sammelbezeichnung für alle Einstellungen und Verhaltensweisen, die den als Juden wahrgenommenen Einzelpersonen, Gruppen oder Institutionen aufgrund dieser Zugehörigkeit negative Eigenschaften unterstellen (vgl. Bundesministerium des Innern, 2012, S. 10).“ Als ein letztes Beispiel, an dem ablesbar ist, wie sehr die Definitionen von Antisemitismus und damit indirekt auch die Verstehensweisen jüdischen Lebens von kontextuellen Ereignissen bedingt sind, soll im Folgenden noch die Jerusalemer Erklärung vom 26. März 2021 angeführt werden. Motiviert durch die Auffassung, dass kritische Äußerungen im Kontext des israelisch-palästinensischen Konflikts nicht per se als antisemitisch einzustufen sind, zudem unabhängig davon, ob sie zutreffen oder nicht, wird dort formuliert: „Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische)“ (Jerusalemer Erklärung, 2021).
Insgesamt lässt sich aus diesen Verstehensweisen ablesen, dass Antisemitismus die feindselige Positionierung gegenüber Jüdinnen und Juden ist, die diese als homogene Gruppe imaginiert und damit einen Sammelbegriff meint, der „sämtliche Formen von Hass, Vorurteilen und Ressentiments gegen Juden“ (Botsch, 2014, S. 10) umfasst. Quasi unmittelbar daraus ableitbar sind die verschiedenen Erscheinungsweisen des Antisemitismus, von denen alle insgesamt und jede einzelne auf spezielle Weise (religions-)pädagogische Präventionsmechanismen auslöst.
2.2 Unterschiedliche Erscheinungsformen des Antisemitismus
Auch wenn sich die Bezeichnungen der einzelnen Erscheinungsformen von Antisemitismus unterscheiden (vgl. Bernstein, 2020, S. 40‒69) und nicht exakt voneinander abgrenzbar sind, weil es sich um idealtypische Zuordnungen handelt, hat sich in der Debatte das sog. Sechser-Modell (vgl. Pfahl-Traughber, 2007, S. 4‒11) durchgesetzt und wird z. B. auch vom Bundesamt für Verfassungsschutz gebraucht, um das Lagebild Antisemitismus zu erstellen (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz, 2022, S. 14‒19). Antisemitismus wird differenziert in 1. religiösen Antisemitismus, 2. sozialen, 3. politischen, 4. rassistischen, 5. sekundären und schließlich 6. antizionistischen Antisemitismus:
2.2.1 Religiöser Antisemitismus bzw. christlicher Antijudaismus
Der religiöse Antisemitismus, der weithin als christlicher Antijudaismus auftritt, auch wenn er ebenso als muslimischer Antijudaismus existiert, der momentan über den Nahost-Konflikt u. a. erneut befeuert wird (vgl. Öztürk & Pickel, 2022, S. 195–198), gilt als älteste und nach wie vor dominante Wurzel des Antisemitismus.[3] Die Anfänge des Christentums waren von Abgrenzungsmechanismen gegenüber Jüd:innen geprägt. Diese zeichneten sich in den Paulusbriefen und Evangelien ab und wurden, je jünger die neutestamentlichen Schriften waren, umso massiver. Konnten sie zunächst als übliche Strategien von Minoritäts- gegenüber Majoritätsgruppen bzw. als soziale Abgrenzungsprozesse innerhalb eines gemeinsamen jüdischen Kontextes interpretiert werden, mutierten sie spätestens zum Ende des 4. Jhs., als das Christentum in den Rang einer Staatsreligion erhoben wurde, zu aggressiven, zerstörerischen Agitationen gegen das Judentum als Religion, als Ethnie und als Kultur. Die Bezichtigung, dass die Jud:innen schuld am Tod Jesu seien, die Abwertung der jüdischen Religion höchstens als Verheißung, die dann im Neuen Testament erfüllt würde, die Diffamierung als blinde Synagoge gegenüber der klar sehenden Ekklesia u. a. theologische Verzerrungen, bildeten den Nährboden für immer verlogenere Anschuldigungen und gewalttätigere Machenschaften. Ritualmordlegenden, Vertreibungen, Pogrome bis in die Jetztzeit hinein sind die schrecklichen Fratzen missbräuchlicher Theologiebildungen. Auch wenn sich das Zweite Vaticanum mit Nostra Aetate für eine Wertschätzung des Judentums und Israels unvertretbare Rolle im Heilsplan aussprach (NA 4), sind antijudaistische Agitationen nie ganz erloschen. Antisemitismuskritische Bildung versteht sich deshalb auch als Form einer Aufarbeitung antijudaistischer Theologie und als Impuls für eine Theologie angesichts und in Bezug auf das Judentum als ältere Schwesterreligion, ohne die das Christentum überhaupt nicht denkbar ist (vgl. Schröder, 2023). Durch die Ereignisse von Auschwitz kommt noch eine dritte Notation hinzu, insofern Theologie seitdem nicht mehr anders denn als Theologie nach Auschwitz entworfen werden kann.
2.2.2 Sozialer Antisemitismus
Wesentlich facettenreicher und auch weniger klar abgrenzbar ist der sog. soziale Antisemitismus. Er wird zumeist ökonomisch begründet. Weil Jüd:innen in der mittelalterlichen Ständeordnung nur wenige Berufe offenstanden und den Christen aufgrund des Zinsverbots die Handelsberufe verwehrt waren, mussten sie nicht selten auf eben jene ausweichen. War dies einerseits Quelle des Wohlstands nicht weniger Jüd:innen, wurde ihnen genau dies angekreidet. Als untätig beschimpft, als hintertriebene Wucherer verunglimpft und als Schuldner von Gläubigern gehasst, die sich auch unter den Fürsten und Königen fanden, waren diese Zuschreibungen Anlass für bis heute andauernde Diskriminierungen. Formen sind z. B. Verschwörungstheorien über die angeblich omnipotenten Juden, die ein geheimes Finanzimperium etablierten und die Weltherrschaft übernehmen wollen (Rothschild-Legende), oder auch Pogrome, um die lästigen Gläubiger loszuwerden.
2.2.3 Politischer Antisemitismus
Eng verwandt mit dem sozialen Antisemitismus ist der sog. politische. Darunter werden Formen von Antisemitismus verhandelt, die wie beim sozialen auf die Illusion finanzkräftiger Jüd:innen zurückgehen und in ihnen die Strippenzieher für Weltkrisen sehen, daraus – so die Unterstellung – Profit ziehen und eine neue Weltherrschaft errichten wollen. So abstrus diese Vorstellungen sind und so irrational sie daherkommen, so haben gerade die Erfahrungen mit sog. „Querdenkern“ in der Coronazeit, sog. „Reichsbürgern“ u. a. gezeigt, wie wirksam sie auch heute noch sind und wie gefährlich diese extremistischen Geheimzirkel werden können.
Antisemitismuskritische Bildung setzt sich vor dem Hintergrund des sozialen und politischen Antisemitismus dafür ein, historische Fakten zu ergründen, jüdisches Leben in der Vergangenheit in seiner politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und religiösen Ausrichtung historisch zu rekonstruieren und einzuordnen und damit jeglichen ideologischen Verzerrungen den Boden zu entziehen.
2.2.4 Rassistischer Antisemitismus
Diese Form des Antisemitismus hat seine schrecklichste Ausprägung in der Nazi-Herrschaft gewonnen, insofern biologistische Argumentationsfiguren aufgegriffen wurden, um die Andersartigkeit und insbesondere Minderwertigkeit von Jüd:innen quasi-wissenschaftlich zu zementieren. Es sollte ohne Nachdenken, allein aufgrund einer figurierten „Natur“ legitimiert werden, warum Jüd:innen das Menschsein abgesprochen wurde und sie schlimmer als Tiere behandelt werden könnten. Ideologisch gerahmt von der Idee eines sozialdarwinistischen Kampfes sollte auch dem letzten Skeptiker klar werden, dass beim Wettbewerb um Nahrung und Boden die niedrigeren „Rassen“ getilgt werden müssten. Auch hier verwundert, dass diese Behauptungen trotz deren Absurdität und Konstruiertheit reichten, um daraus die mörderische Maschinerie der Vernichtungslager Nazi-Deutschlands in Gang zu setzen. Noch unverständlicher ist, dass derartige Vorstellungen in den sog. „völkischen Siedlungen“ der neuen Rechten in Bayern, Hessen, der Lüneburger Heide, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Schleswig-Holstein wieder fröhliche Urständ feiern (vgl. Schmidt, 2014).
Antisemitismuskritische Bildung setzt auch hier auf Aufklärung, Faktenwissen und fragt nach den Motivationen und Absichten, die mit den rassistischen Konstruktionen einhergehen. Angst um das eigene Leben oder, wie in anderen Rassismus-Studien aufgedeckt, die Suche nach Sicherheit, Identität, die über Abgrenzungen und (moralische, religiöse etc.) Abwertungen funktioniert, können so an die Oberfläche gehievt und bearbeitet werden.
2.2.5 Sekundärer Antisemitismus bzw. Erinnerungsabwehr-Antisemitismus
Diese Form des Antisemitismus, der auch als Erinnerungsabwehr-Antisemitismus auf individueller wie kollektiver Ebene bezeichnet wird, ist neben dem rassistischen Antisemitismus eine der stärksten Formen des Antisemitismus bei den neuen Rechten. Jüd:innen werden verachtet und verunglimpft, weil sie durch ihre alleinige Präsenz an Auschwitz erinnerten und damit die Schande Deutschlands nachhaltig verkörperten. Darüber hinaus wird ihnen unterstellt, die Scham über Auschwitz auszunützen, um ungerechtfertigte Wiedergutmachungszahlungen zu erhalten und die Politik Israels im Nahen Osten zu legitimieren. Der Psychoanalytiker Zvi Rix erklärt diese Form des Antisemitismus prägnant so: „Auschwitz werden uns die Deutschen nie verzeihen“ (zit. nach Heinsohn, 1988, S. 119).
Dass Erinnern kollektiv und individuell eine wichtige Aufgabe und Weise von Identitätsbildung ist, verstärkt die Dimensionierung antisemitismuskritischer Bildung, nach Formen des Erinnerns zu suchen, die die Vergangenheit aus pädagogischem Interesse für die Gegenwart befragen. Mit anderen Worten geht es vergleichbar dem Anliegen des Erinnerungslernens darum, den Holocaust als unhintergehbares Ereignis in der Geschichte Deutschlands zu ergründen sowie anzuerkennen und zugleich danach zu suchen, was dies für die Gestaltung von Politik, kulturellem und religiösem Selbstverständnis als Gesellschaft und als Einzelne für heute bedeutet. Nochmals konkreter heißt dies, Denkformen, Strategien und Handlungsweisen zu entwickeln, die jeglicher Diskriminierung abschwören oder, positiv gewendet, die Menschen befähigen, autonom, i. S. von wissend um die eigene Würde und das Recht auf Integrität zu leben. Eine Ausformung dieser Dimensionierung antisemitismuskritischer Bildung ist u. a., jüdisches Leben heute sichtbar zu machen. Zu zeigen und zu verstehen zu geben, wie sich jüdisch gelesene Menschen verstehen, wie sie sich verorten in Gesellschaft, Politik, Kultur und Religion, ist eine starke Möglichkeit, Identitätsverständnisse jüdisch gelesener Menschen kennenzulernen und damit als selbstverständlich und unvertretbar im gesellschaftlichen Leben schätzen zu lernen.
2.2.6 Antizionistischer bzw. israelbezogener Antisemitismus
Neu entflammt durch den Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, aber zuvor schon eine zunehmend alltäglich gewordene Form des Antisemitismus ist der sog. antizionistische bzw. israelbezogene Antisemitismus. Der Staat Israel wird hier als jüdisches Kollektiv verstanden und Kritiken richten sich nicht gegen konkrete Handlungsweisen staatlicher Politik, sondern gegen das Existenzrecht Israels als solches. Die zuvor erwähnten Ausdrucksformen antisemitischer Diskriminierungen werden als Werkzeuge benutzt, um im Staat Israel die Jüd:innen in ihrer Kollektivform zu treffen und zu verunglimpfen.
Auch hier setzt antisemitismuskritische Bildung darauf, Homogenisierungen und Kollektivierungen zu dechiffrieren, Unterscheidungen von Parteipolitik und Israel als Nationalstaat einzuziehen, Fakten statt Verzerrungen zu transportieren und insgesamt die darunter liegenden Intentionen, Emotionen und implizierten Meinungen aufzudecken und zu bearbeiten.
So vielschichtig die Erscheinungsweisen des Antisemitismus also sind, so absurd und vernunft-avers sie daherkommen und deshalb als nicht bearbeitungswürdig abgetan werden können, so dürfen sie dennoch nicht unterschätzt werden: Sie sind wirkmächtig, auch bei jungen Menschen. Sie finden sich nicht nur in extremistischen Kreisen, sondern wandern mehr und mehr in die gesellschaftliche Mitte. Sie arbeiten oft im Verborgenen. Sie ziehen aufgrund ihrer einfachen, unterkomplexen Lösungen instabile Menschen an und sind aufgrund ihrer identitätsstiftenden Aura für haltsuchende und damit auch junge Menschen attraktiv. Antisemitismus ist ein Problem und auch deshalb so schwer bearbeitbar, weil er sich dem rationalen Diskurs verweigert und als Ideologie insbesondere Einstellungen, Emotionen und Haltungen betrifft. Bisherige Konzepte von Antisemitismus-Prävention inkl. der HE und des Erinnerungslernens aber zielten v. a. auf kognitiven Wissenszuwachs. Modellierungen antisemitismuskritischer Bildung müssen sich deshalb als Bildungsangebote erweisen, die auf diese Herausforderungen antworten.
3 Ein religionspädagogisch motiviertes Modell antisemitismuskritischer Bildung
Wurden über die Erscheinungsformen des Antisemitismus quasi ex negativo Konturen antisemitismuskritischer Bildung sichtbar, soll im Folgenden ein religionspädagogisch motiviertes Modell antisemitismuskritischer Bildung vorgelegt werden, die diese impliziert, aber zugleich darüber hinausgeht.
3.1 Sichtbarmachen jüdischen Lebens in Vergangenheit und Gegenwart – ein multiperspektivischer Ansatz
Motiviert durch Aufrufe jüdischer Institutionen und Äußerungen jüdisch gelesener Menschen sowie inspiriert durch die sog. Nationale Strategie gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben (vgl. Beauftragter der Bundesregierung, 2022) setzt antisemitismuskritische Bildung, wie sie hier entwickelt wird, zuerst und zuvorderst an der Sichtbarmachung jüdischen Lebens in Vergangenheit und Gegenwart an. Das bedeutet, die Gewordenheit des Judentums als Ethnie, Kultur und im religionspädagogischen Interesse v. a. auch als Religion von Menschen zu erschließen. Damit sind Forschungen und Initiativen gemeint, die sich um historische Rekonstruktionen jüdischen Lebens bemühen. Wann kann man überhaupt von „Judentum“ reden? Wie gestalteten sich die Diasporageschichten von Jüd:innen bis heute? Was verstehen sie selbst für sich als unverzichtbar und kennzeichnend?
Besonderes Augenmerk liegt auf religionsbezogenen Elementen wie z. B.: Welche Feste feiern Jüd:innen damals und heute und was verbinden sie damit? Welche biblischen Geschichten sind in welcher Weise prägend und welcher Resonanzraum des Tenach hat sich im jüdischen Schrifttum (des Talmud, der Rabbinen, der Chassidim etc.) bis heute aufgetan? Welche religiösen Strömungen gab und gibt es im Judentum und an welchen Fragestellungen arbeiten sie sich ab (vgl. z. B. Kontroversen der Schulen von Hillel und Schammai bis heute zwischen ultraorthodoxen und liberalen Gemeinden).
Ein Thema ist dabei nie zu umgehen, nämlich die Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Ähnlich wie bei bisherigen Ansätzen der HE und des Erinnerungslernens wird auch in der antisemitismuskritischen Bildung der Holocaust als unauslöschliche Signatur jüdischen Lebens thematisiert und auf seine Bedeutung für heute befragt. So sehr antisemitismuskritische Bildung diesbezüglich also mit HE und dem Erinnerungslernen übereinstimmt, so geht es zugleich über beides hinaus, insofern jüdisches Leben zwar auch als Opfergeschichte, aber nicht nur als solche sichtbar wird. Es geht vielmehr darum, die Vielschichtigkeit jüdischen Lebens durch die Geschichte und auch heute sichtbar zu machen.
Wie oben schon deutlich wurde, wird damit noch ein weiterer Effekt erreicht. Als Reaktion auf den sozialen und politischen Antisemitismus wird über die historische Rekonstruktion jüdischen Lebens und Verständnisses in der Vergangenheit und Gegenwart nicht nur Fehldeutungen und Verzerrungen entgegengearbeitet, sondern auch die kulturelle und religiöse Vielfalt jüdischen Lebens kenntlich. Gerade die kontextuellen Einordnungen ermöglichen, entstellte Fakten zu entlarven, und – das macht sie noch wertvoller – auf darunterliegende (Angst-)Mechanismen aufmerksam zu machen, die dann auch in Lernarrangements aufgegriffen und bearbeitet werden können. Dann ist die Verschwörungstheorie einer geheimen Weltherrschaft finanzkräftiger Juden schnell entlarvt als Agitation extremistischer Kreise, um Krisen und deren Angstpotenzial für eigene Machtinteressen zu nutzen (vgl. AfD-Politiker-Reden, wie sie das CORRECTIV-Magazin enttarnt hat).
Eine besondere Rolle spielt dabei die Ergründung von Selbstverständnissen jüdisch gelesener Menschen; aus religionspädagogischem Interesse insbesondere fokussiert auf Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Auch wenn es schon einige Studien gibt, die die Migrationsbiographien jüdisch gelesener Jugendlicher beleuchten (vgl. Gromova, 2013; Mendel, 2010; Vataman, 2020), fehlen momentan noch empirische Vergewisserungen über die Rolle von Religion im Selbstverständnis junger jüdischer Menschen (vgl. Müller, 2007; Schrage, 2019). Hier besteht dringender Forschungsbedarf.
3.2 Multiperspektivität der Lernwege – Kognition und immersive Lernarrangements
Ist also zum einen die thematische Zuspitzung antisemitismuskritischer Bildung nochmals anders als in der HE und beim Erinnerungslernen, sind auch die Lernwege multidimensional. Aus den Erkenntnissen der beiden vorliegenden Konzepte entwickelte sich das Bewusstsein, dass Wissenserwerb im enzyklopädischen Bereich wie auch die Fokussierung auf Kognition nicht reichen, wenn Menschen eine nachhaltige Sensibilität für jüdisches Leben und v. a. Einstellungen und Haltungen gegen Antisemitismus entwickeln sollen. Antisemitismuskritische Bildung arbeitet deshalb mit immersiven Lernarrangements, die v. a. Emotionen ansprechen. Über mehrdimensionale Lernwege z. B. im VR-Bereich werden Lernenden Möglichkeiten eröffnet, in bestimmte Geschehen einzutreten, dort Erfahrungen zu machen, die in „Nachdenkorten“ reflektiert werden. Dass dies sowohl technisch als auch ethisch herausfordernd ist, insofern Schüler:innen nicht überwältigt werden dürfen, wenn sie z. B. Zeitzeug:innen in VR-Umgebungen in Auschwitz sehen, ist klar.[4]
Ferner nutzt antisemitismuskritische Bildung immersive Lernarrangements auch, wenn es um die Sichtbarmachung jüdischen Lebens insgesamt geht. Es steht z. B. an, VR-Experiences zu bauen, in denen Avatare jüdisch gelesener Jugendlicher ihr Jüdischsein erklären, indem sie peer-Besucher:innen ihr Zimmer zeigen und Items erklären, die für ihr Verständnis von Jüdischsein heute wichtig sind. Damit können einerseits Selbstverständnisse jüdisch gelesener Jugendlicher erhoben und erkundet werden. Andererseits wird sichtbar, ob und wie Religion für das Selbstverständnis jüdisch gelesener Jugendlicher überhaupt eine Rolle spielt. Und drittens können Besucher:innen sich selbst Gedanken machen, was dies für ihr eigenes Selbstverstehen und auch Verständnis von jüdisch gelesenen Menschen heute bedeutet.
3.3 Theologische Theoriebildung angesichts des Judentums – Widrigkeiten des Antijudaismus aufarbeiten und eine Theologie angesichts des Judentums entwerfen
Eine sich daraus ergebende weitere Dimensionierung antisemitismuskritischer Bildung ist, jüdisches Leben auch insofern sichtbar zu machen, als es gilt, die theologische Theoriebildung angesichts des Judentums weiter voranzutreiben. Das geschieht in mindestens zwei Richtungen. Zum einen in Form der Aufarbeitung des christlichen Antijudaismus. Zum anderen in der theologischen Konzeptbildung angesichts des Judentums. Sind auf dem Feld der Bearbeitung antijudaistischer Tendenzen v. a. in der Exegese, in der Frage nach dem Umgang mit antijudaistischen Äußerungen und Artefakten an Kathedralen (Judensau am Regensburger Dom), in Theaterstücken (Nathan der Weise) und in Werken nach wie vor bedeutsamer Theologen und Kirchenverantwortlicher wie Luther, Pius XII., Faulhaber u. a. schon viele Bemühungen sichtbar, sind theologische Entwürfe, die sich dezidiert angesichts des Judentums entwerfen nach wie vor rar (vgl. programmatisch Schröder, 2023). Bei Letzteren geht es darum, die Eigenlogik des Judentums als Religion wahr- und ernst zu nehmen und auf die christliche Theoriebildung zurückzuspiegeln. Als Prinzipien für die Wahl von Inhalten, Zielen und Handlungsformen, um diesen dialogischen Prozess in Gang zu setzen und durchzuführen, schlägt Bernd Schröder vor (Schröder, 2023, S. 529), die Orientierungskriterien zu wählen, wie sie bei der Etablierung des Religionsunterrichts für alle in Hamburg im Zuge des 2.0-Modells entwickelt wurden: Authentizitäts- und Wissenschaftsorientierung, Dialogorientierung und religionsspezifische Orientierung, Schüler- und Traditionsorientierung (vgl. Behörde für Schule, 2011). Das bedeutet konkret, jüdische Stimmen zum jüdischen Theologieverständnis zu hören – sowohl als Einzelpersönlichkeiten als auch über Werke jüdischer Theologien, sowohl in Bezug auf die existentielle Bedeutung des Jüdischseins als auch dessen systematisch-theologischen Gehalt. Das heißt ferner, die Eigenlogiken jüdischer und christlicher Theologien ins Gespräch zu bringen und immer wieder auf die je eigenen Theologiebildungen zurückzukoppeln und dort weiterzudenken. Das meint schließlich, dass sowohl die am Dialog Beteiligten als auch die jeweiligen theologischen Traditionsreservoirs je ihre Eintragungen in die jeweilige Theologiebildung einschreiben. In exegetischen Studien ist dies schon Standard, wenn z. B. die Erzählung von der Akedat Isaak in Gen 22 sowohl im Resonanzraum des Judentums und seiner Geschichte als auch des Christentums interpretiert wird (Oberhänsli-Widmer, 2009, S. 97‒113).
Dass dies nicht nur Theologie um der Theologie willen ist, sondern Ausdruck dafür, Menschen zu stärken, autonom zu leben i. S. von wissend um die eigene Würde und theologische Dignität, ist ein damit verbundenes Anliegen antisemitismuskritischer Bildung.
3.4 Gegen Antisemitismus vorgehen – Wahrnehmen, benennen, handeln und Menschen stark machen
Ohne hier das vielfältige Material im Einzelnen vorstellen zu können, das sich inzwischen in Form von Handlungsempfehlungen gegen Antisemitismus auch in pädagogischen Kontexten etabliert hat, lassen sich insgesamt drei durchgängige Prinzipien dieser Maßgaben ausmachen: Es geht darum, Menschen zu befähigen, 1. Antisemitismus wahrzunehmen, 2. als solchen zu benennen und 3. dagegen vorzugehen (vgl. Zentrum für Schulqualität, 2019). Antisemitismuskritische Bildung, wie sie hier modelliert wird, ergänzt diese noch um ein weiters Prinzip, nämlich 4. Menschen stärken, wie es erstmals von Marina Chernivsky ins Gespräch gebracht wurde (vgl. Chernivsky, 2020):
Gemeint ist damit mindestens ein Doppeltes. Zum einen geht es darum, jüdisch gelesene Menschen explizit als Beteiligte und Expert:innen in Arbeiten zur Erforschung jüdischen Lebens und in Reflexionen über Antisemitismus einzubeziehen. Antisemitismuskritische Bildung ist damit nicht mehr ein Reden über Jüd:innen, sondern mit Jüd:innen und angesichts von Jüd:innen. Zum anderen wird damit gezielt das Verhalten angesichts von antisemitischen Diskriminierungen angesprochen. Es gilt, betroffene Jüd:innen zu befähigen, aus der Opferperspektive herauszutreten, sich zu wehren oder auch nicht-jüdische Menschen zu empowern, sich für Diskriminierte einzusetzen. Dazu braucht es die Fähigkeit, Antisemitismus als solchen identifizieren zu können, und ein Schimpfwort wie „Du Jude“ nicht lediglich als Alltagsjargon auf dem Schulhof abzutun. Dazu ist es ferner nötig, die je passungsfähige Reaktion auf Antisemitismen zu finden. Der Polizeieinsatz wird dabei nicht sofort das erste Mittel sein. Genauso wenig ist es hinnehmbar, wenn Direktor:innen auf antisemitische Vorfälle nur der Vorschlag in den Sinn kommt, dass die jüdisch gelesenen Schüler:innen zu ihrem eigenen Schutz wechseln sollten. Mit anderen Worten müssen Lehrer:innen, aber auch Schüler:innen ein Handlungsrepertoire unterschiedlichster Strategien zur Verfügung haben, um dann situativ angemessen zu handeln. All dies nützt aber nur dann etwas, wenn die verschiedenen Akteur:innen die persönliche Stärke haben, gegen antisemitische Mainstreams vorzugehen und sich für die in Diskriminierungssituationen immer geschwächten Menschen einzusetzen. Das kann in Rollenspielen eingeübt oder in (virtuellen) Nachdenkorten bei immersiven VR-Experiences reflektiert werden. Es wird aber insgesamt entscheidend davon abhängen, welchen Stellenwert antisemitismuskritische Bildung zukünftig in den Curricula der unterschiedlichen Schularten und auch bei der Professionalisierung von Lehrkräften spielt.
3.5 Desiderate
Wurden im Zuge der Konturierung antisemitismuskritischer Bildung schon unterschiedliche Desiderate an die weitere Forschungsarbeit identifiziert, sollen sie im Folgenden nochmals stichpunktartig zusammengefasst werden:
Zur schon forschungsstark betriebenen Erkundung jüdischen Lebens in der Vergangenheit und deren historischer Rekonstruktion inkl. des Holocaust muss noch stärker als bislang jüdisches Leben in der Gegenwart erforscht werden. Dazu gehören im religionspädagogischen Kontext v. a. Studien über die Selbstverständnisse jüdisch gelesener Menschen und welche Rolle sie Religion hier zumessen.
Stärker als bislang gilt es nicht nur, Antijudaismen aufzudecken, sondern prospektiv theologische Konzeptbildung angesichts des Judentums zu betreiben.
Will antisemitismuskritische Bildung Menschen befähigen, dass „Auschwitz nicht noch einmal sei“, dann müssen stärker als bislang immersive Lernarrangements entwickelt werden, die über die Kognition hinaus auch antisemitismuskritische Einstellungen und Haltungen befördern können. Damit hier keine Überwältigung von Schüler:innen stattfindet, müssen für den besonders vielversprechenden VR-Bereich ethische Guidelines entwickelt werden.
Gilt es insgesamt, Antisemitismus aus der De-Thematisierung zu heben, zeigt sich als wichtiges Forschungsdesiderat, jüdisch gelesene Menschen stärker als bislang als Akteur:innen beim Aufdecken von Antisemitismus, in antisemitismuskritischer Bildung und damit bei der Sichtbarmachung jüdischen Lebens in Vergangenheit und Gegenwart ernst zu nehmen.
Soll antisemitismuskritische Bildung gesellschaftlich wirksam werden, dann gilt es nicht nur Konzepte zu entwickeln, sondern v. a. Menschen zu stärken. Eine Möglichkeit ist, die Schulcurricula expliziter als bislang auf antisemitismuskritische Bildung auszurichten und Studienanteile in den Lehramtsstudiengängen – quer durch alle Fächer und z. B. verankert im sog. studium generale – um antisemitismuskritische Bildung zu erweitern.
Insgesamt steht es damit an, Lehrer:innenbildung stärker als bislang auch als antisemitismuskritische Bildung zu konzipieren: Ob dies über Wahlpflichtmodule im sog. erziehungswissenschaftlichen Studienanteil eingelöst wird oder über fachspezifische Veranstaltungen ist sekundär.
Das Programm ist umfangreich. Die Aufgabe auch. Aber die Notwendigkeit, sie anzugehen, noch viel mehr.
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Mirjam Schambeck sf, Prof. Dr. theol. habil., Inhaberin des Lehrstuhls für Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Holocaustos, griech. für „Ganzopfer“ oder „Brandopfer“ impliziert die semantische Lesart, als ob sich die Juden selbst als Opfergabe gegeben hätten. In der Theologie im deutschsprachigen Raum wurde deshalb lange von „Shoah“ gesprochen, weil der hebr. Begriff in Bezug auf Jes 10,3 das Wort „Katastrophe“ und „vernichtender Untergang“ viel deutlicher expliziert, welche Verbrechen an den Jüdinnen und Juden begangen wurden (Schambeck, 2013, S. 379) Heute steht der Begriff Holocaust i. S. der HE zwar nach wie vor für die Beschäftigung mit jüdischen Opfern des Holocaust, jedoch ohne andere auszuschließen (wie z. B. die Sinti, Roma, Homosexuellen, politisch Verfolgten u. a.) (vgl. Ballis & Gloe, 2019, S. 3 –4).
Vgl. den im WS 2022/23 begonnenen Zusatzstudiengang „Zertifikat der Antisemitismuskritischen Bildung für Unterricht und Schule (ZABUS)“ an der Uni Würzburg. URL: www.ev-theologie.uni-wuerzburg.de/lehrbereiche/religionspaedagogik/ccea/zabus-1/ [Zugriff: 25.02.2024]
Vor der Entstehung des Christentums gab es zwar auch schon religiös motivierten Antijudaismus, z. B. in der Makkabäerzeit, oder wie im Buch Ester berichtet, mit dem Christentum wurde er aber verstärkt (vgl. Schäfer, 2020).
Vgl. dazu die VR-Produktion des HHI zusammen mit Anja Ballis und Markus Gloe von Eva Umlauf. URL: www.hhi.fraunhofer.de/virtual-reality-experience-eva-umlauf-ihr-zeugnis.html [Zugriff: 25.02.2024].