Seit dem Jahr 1972 bereichern die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen (KMU) der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) unser Wissen über das Partizipationsverhalten an kirchlichen Angeboten und die damit verbundenen Erwartungen, Erfahrungen und Enttäuschungen. Alle zehn Jahre erweiterten dafür die Verantwortlichen des empirischen Großprojektes den etablierten Fragenkatalog um neue Items, Themen (z.B. Milieuanalysen), Adressat:innen (z.B. Konfessionslose) sowie Forschungsmethoden (z. B. Gruppendiskussionen).

Die im Herbst 2022 durchgeführte Datenerhebung der KMU VI wartet ebenfalls mit einer Reihe an Innovationen auf. Erstmals beteiligt sich die römisch-katholische Kirche an der Datenerhebung und -auswertung. Außerdem werden staatliche Melde- und Kirchensteuerdaten einbezogen, um mehr über die sozioökonomischen Umstände und demographischen Faktoren für Kirchenein- und -austritte zu erfahren (vgl. Peters, Ilg & Gutmann, 2019; Gutmann & Peters, 2021). Zudem wird ein gemeinsamer Datensatz aller KMU seit 1972 angelegt, um Zeitreihenvergleiche zu erleichtern. Weitere Innovationen beziehen sich u.a. auf die Form der Wertemessung, die Öffentlichkeitsarbeit, die Wege der Wissenschaftskommunikation und die Anregung von flankierenden Drittmittelprojekten (vgl. Wunder, 2022a; Wunder, 2022b sowie die Projekthomepage www.kirchenmitgliedschaftsuntersuchung.de). Darüber hinaus wurde zum ersten Mal die akademische Religionspädagogik dazu eingeladen, nicht nur bei der Analyse der Daten (z.B. Schröder, Hermelink & Leonhard, 2017), sondern bereits bei der Planung des Fragebogens als Teil des interdisziplinären Beirats zu helfen, die KMU religionspädagogisch zu profilieren.

Für die Einbeziehung der akademischen Religionspädagogik waren für die Verantwortlichen im Kirchenamt der EKD u.a. drei Gründe ausschlaggebend: Zum Ersten wird das Partizipationsverhalten an kirchlichen Angeboten nur dann angemessen erfasst, wenn Bildungsangebote und die dafür verantwortlichen Akteur:innen in Kindergärten, Kirchgemeinden, der offenen Kinder- und Jugendarbeit sowie der Schulen in die Untersuchung einbezogen werden. Insbesondere die einseitige Fokussierung auf die Pfarrperson und den Gottesdienst haben in der Vergangenheit dazu geführt, dass die Vielfalt kirchlicher Angebote nur unzureichend erfasst wurde (vgl. Ilg, 2017). Zum Zweiten soll mit diesem Schritt der Altersgruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Kirchenmitglieder verlieren vor allem in dieser Lebensphase den Kontakt zur Kirche und treten häufig beim ersten Gehalt bzw. der ersten Kirchensteuerzahlung aus der Kirche aus (vgl. Gutmann & Peters, 2021). Hier stellt sich u.a. die Frage, welchen Religions- und Konfirmand:innenunterricht die jungen Menschen erlebt haben und was sie beispielsweise über die Finanzen und Ausgaben der Landeskirchen wissen bzw. nicht wissen. Und zum Dritten sollen kirchliche Angebote in der bevorstehenden KMU nicht nur kirchentheoretisch, sondern auch bildungstheoretisch verstanden werden. Dafür ist nicht nur (praktisch-)theologische und (kirchen-)soziologische, sondern auch (religions-)pädagogische Expertise notwendig. Für diese Expertise stehen im wissenschaftlichen Beirat der KMU VI u.a. Wolfgang Ilg, Klaus Kießling, Uta Pohl-Patalong und der Autor des vorliegenden Beitrags (zu den weiteren Mitgliedern des Beirats siehe www.kirchenmitgliedschaftsuntersuchung.de).

1 Religiöse Positionierung als spontane, generelle, imaginierte und explizit begründete Reaktion bzw. Antwort: Anmerkungen zur Itemkonstruktion der KMU

Das Thema religiöse Positionierung stand und steht nicht im Zentrum der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD. Wird unter einer religiösen Positionierung allerdings eine wie auch immer qualifizierte Reaktion bzw. Antwort auf ein religionsbezogenes Item oder eine religionsbezogene Frage verstanden, dann lassen sich auch im Spiegel der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen Selbstpositionierungen beschreiben.

Die Annahme, dass sich einzelne Items aus den KMU-Fragebögen den von Laura Philipp identifizierten vier Typen von Positionierungsaufgaben aus Schulbüchern zuordnen lassen, konnte durch ein deduktives Verfahren der Kategorienbildung für drei Typen bestätigt und eigenständig ausdifferenziert werden. Zugleich wird deutlich: Es fehlen Items, die sich als ‚fachwissenschaftliche Positionierungsaufforderung‘ begreifen lassen (zu den vier Typen von Positionierungsaufgaben siehe Käbisch & Philipp, 2022a sowie Käbisch & Philipp, 2022b; zum Dissertationsvorhaben von Laura Philipp im hessischen Exzellenzverbund Religiöse Positionierung siehe die Projektbeschreibung unter www.RelPos.de).

Zahlreiche Antworten der Proband:innen können unter dieser theoretischen Voraussetzung als spontane religiöse Positionierung verstanden werden, z.B.:

  • Denken Sie, dass die evangelische Kirche Wesentliches zur Lösung der folgenden Fragen beitragen kann?“ (KMU V, 2012)

  • „Wie wichtig ist es für Sie, persönlichen Kontakt mit dem Pfarrer / der Pfarrerin Ihrer Gemeinde zu haben?“ (KMU IV, 2002 und KMU V, 2012)

  • Sagen Sie mir bitte jeweils, ob Sie dafür, dagegen oder unentschieden sind, dass die evangelische Kirche das tut.“ (KMU IV, 2002 und KMU V, 2012)

Während die Proband:innen bei diesen Beispielen dazu aufgefordert werden, sich spontan, d.h. ohne lange Überlegung zu positionieren, zielen andere Items darauf, mehr über die generellen Einstellungen und Meinungen zu erfahren. Auch wenn beide Typen nahe beieinanderliegen (und ggf. auch als ein Typ beschrieben werden könnten), zeigen die folgenden Beispiele, dass es hier explizit darum geht, mehr über die allgemeinen und dauerhaften Einstellungen und Meinungen der Proband:innen herauszufinden:

  • Wie stehen Sie ganz generell zu der Frage unterschiedlicher oder gleicher Religions- und Konfessionszugehörigkeit in einer Wohngegend? Welcher dieser Aussage stimmen Sie persönlich am ehesten zu?“ (KMU IV, 2002)

  • „Krankheit und Heilung: Bitte nennen Sie uns Ihre Einstellung zu folgenden Fragen.“ (KMU V, 2012)

  • „Was gehört Ihrer Meinung nach dazu, evangelisch zu sein? Es gehört dazu, dass man…“ (KMU II, 1982; KMU III, 1992; KMU IV, 2002; KMU V, 2012)

  • „Es gibt unterschiedliche Einstellungen zu Ehe und zum Zusammenleben von Unverheirateten. Welcher dieser Meinungen stimmen Sie am ehesten zu?“ (KMU II, 1982; KMU III, 1992; KMU IV, 2002)

Von der spontanen und generellen Positionierung sind Positionierungen in imaginierten Situationen zu unterscheiden, da diese voraussetzen, dass die Proband:innen probeweise eine bestimmte Perspektive einnehmen, z.B.:

  • „Ich werde Ihnen jetzt eine Situation beschreiben, bei der eine Entscheidung zu fällen ist. Im Vorort einer deutschen Großstadt soll nach Wunsch der türkischen Minderheit eine Moschee gebaut werden. Der Stadtrat will die Moschee genehmigen, macht aber zur Auflage, daß kein Minarett, d.h. kein Turm für das Gebetshaus gebaut wird und kein Muezzin mehrmals am Tage die Gläubigen ruft. Einige Mitglieder des evangelischen Kirchenvorstandes haben eine Eingabe an den Stadtrat gemacht, auch das Minarett als Zeichen der Toleranz und Verbundenheit der Religionen zu genehmigen. Andere lehnen sogar den Bau der Moschee insgesamt als religiöse Überfremdung ab. Was ist Ihre Meinung?“ (KMU IV, 2002)

Von einer begründeten Positionierung kann schließlich dort die Rede sein, wo explizit nach den Gründen einer eingenommenen Position gefragt wird, z.B.:

  • „Gründe für die Beteiligung am kirchlichen Leben. Inwiefern stimmen Sie den folgenden Aussagen zu?“ (KMU V, 2012)

  • „Kein regelmäßiger Gottesdienstbesuch: Gründe (trifft zu, trifft nicht zu, keine Angabe).“ (KMU IV, 2002)

  • „Freiwilliges Engagement: Auf dieser Liste sind einige Gründe aufgeführt. Sagen Sie mir bitte jeweils anhand der Skala mit den 7 Stufen von ‚sehr wichtig‘ bis ‚völlig unwichtig‘, wie wichtig ein Grund für Sie persönlich ist bzw. wäre – egal, ob und wie Sie sich zur Zeit ehrenamtlich engagieren.“ (KMU IV, 2002)

Auch wenn die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen teilweise direkt nach den dauerhaften Einstellungen und Meinungen fragen, bleibt unter forschungsmethodischen Gesichtspunkten offen, ob mit dem vorgestellten Erhebungsinstrument wirklich dauerhafte Einstellungen und Meinungen gemessen werden können. Folgt man den Annahmen der Item-Response-Theorie, dann wird mit dem Fragebogen lediglich eine Reaktion auf einen Impuls standardisiert gemessen. Dabei ist davon auszugehen, dass den beobachtbaren (manifesten) Reaktionen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eine nicht beobachtbare (latente) Eigenschaft bzw. Einstellung oder Meinung zugrunde liegt.

2 Religionspädagogische Leerstellen und Wahrnehmungslücken: Das Partizipationsverhalten an kirchlichen Bildungsangeboten

Eine der eingangs erwähnten Innovationen der KMU VI besteht darin, dass erstmals „Meldedaten und Daten aus Kirchbüchern in einer Sonderauswertung räumlich hochdifferenziert analysiert und mit den KMU-Daten verknüpft werden“ (Wunder, 2022b). Bereits die auf solchen Daten basierende Freiburger Studie zur Entwicklung der Kirchenmitgliedschaft und Kirchensteuer hat u.a. vor Augen geführt, dass die wachsende Zahl an Konfessionslosen ein Untersuchungsgegenstand von Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen bleiben muss (vgl. Peters et al., 2019; Gutmann & Peters, 2021). Religionspädagogisch interessant sind dabei insbesondere die Altersgruppen der schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen sowie das Teilnahmeverhalten an kirchlichen Bildungsangeboten.

Die Statistik der Freiburger Studien zeigt beispielsweise den Anteil evangelischer und katholischer Kinder und Jugendlichen an der gleichaltrigen Bevölkerung in Deutschland im Zeitverlauf. Das Jahr 2020 wird demnach nicht nur als das Jahr in die Geschichte der Religionspädagogik eingehen, in dem die Corona-Pandemie uns alle vor neue Herausforderungen in der Theorie und Praxis religiöser Bildung gestellt hat. Das Jahr 2020 markiert auch den Zeitpunkt, in dem erstmals weniger als 50% der Kinder und Jugendlichen einer der beiden Großkirchen angehören. Auch wenn die Zahlen stärker nach Ost und West, Nord und Süd sowie Stadt und Land differenziert werden müssten, wird deutlich, dass sich der Pool an Abiturient:innen, die beispielsweise für ein Theologiestudium im jetzigen Format in Frage kommen, bis 2060 halbieren wird. Nur noch 12% der Jugendlichen werden in diesem Jahr aller Voraussicht nach einer evangelischen Kirche angehören (vgl. Peters et al., 2019; Gutmann & Peters, 2021).

Werden die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen seit 1992 gesichtet, um mehr über das Teilnahmeverhalten von Konfessionslosen an kirchlichen Bildungsangeboten zu erfahren und Prognosen über die weitere Entwicklung abgeben zu können, wird jedoch eine bedenkliche Schieflage deutlich. Im Zentrum der bisherigen KMU stehen die Pfarrperson und der Gottesdienst, während kirchliche Bildungsangebote und die dafür verantwortlichen Akteur:innen nur am Rande vorkommen. Allein sieben Fragen beschäftigen sich in der 2012 durchgeführten KMU ausschließlich mit der Pfarrperson, z.B.: „Kennen Sie die Pfarrerin bzw. den Pfarrer der Kirchgemeinde, in der Sie wohnen?“ (KMU V, 2012). Darüber hinaus kommt die Pfarrperson als Antwortmöglichkeit in weiteren sechs Fragen in den Blick, z.B.: „An welchen Stellen kommen Sie oder sind bereits mit der evangelischen Kirche in Berührung gekommen?“ (KMU V, 2012). Alle anderen kirchlichen Mitarbeitenden finden lediglich in einer Frage Erwähnung (vgl. Ilg, 2017, S. 322). Kurzum: Erzieher:innen in evangelischen Kindertagesstätten und die Mitarbeitenden in der pädagogisch grundierten Jugend-, Familien-, Senior:innen- und kirchenmusikalischen Arbeit waren in den bisherigen Fragebögen unterrepräsentiert. Chronisch unterbelichtet sind insbesondere die Konfirmand:innenarbeit, der schulische Religionsunterricht und evangelische Kindertagesstätten.

Die Schieflage, die sich aus dieser Fragebogenkonstruktion im Auswertungsband der KMU V ergeben haben, hat Wolfgang Ilg (2017) anschaulich vor Augen geführt. Mehr als 560-mal wird der Begriff Gottesdienst auf gut 450 Seiten des Auswertungsbandes „Vernetzte Vielfalt“ (Bedford-Strohm & Jung, 2015) verwendet, während der Religionsunterricht auf fünf Nennungen, die Jugendarbeit gar nur auf eine einzige Nennung kommen. Die Wahrnehmung von Kirche wird auf den Gottesdienst verengt, während formale und non-formale Bildungsangebote der Kirchen unter den Tisch fallen. An einem durchschnittlichen Sonntag besuchen laut EKD-Statistik zwar deutschlandweit knapp 560.000 Menschen einen evangelischen Gottesdienst. Folgt man der Statistik der Evangelischen Bildungsberichterstattung des Comenius-Instituts, dann besuchen aber auch 576.000 Kinder eine evangelische Kindertageseinrichtung in Deutschland. Es ist daher nicht nachvollziehbar, warum Gottesdienste und Pfarrpersonen in die Analyse der KMU V einbezogen wurden, evangelische Kindertageseinrichtungen und Erzieher:innen jedoch nicht. Eine ähnliche Schieflage konstatiert Wolfgang Ilg (2017) beim Religionsunterricht: Im Schuljahr 2017/18 besuchten 2,1 Millionen Schüler:innen den evangelischen Religionsunterricht, und 168.000 Jugendliche partizipierten an der Konfirmand:innenarbeit einer Gemeinde, was ca. 90 % der evangelischen Jugendlichen dieser Alterskohorte ausmacht.

Wer Bildungsangebote aus einer Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung ausklammert, erhält nicht nur ein fragmentarisches Bild über das vielfältige Partizipationsverhalten an kirchlichen Angeboten. Auch Konfessionslose kommen nur unzureichend in den Blick, da diese häufiger den schulischen Religionsunterricht oder andere Bildungsangebote besuchen als den Sonntagsgottesdienst.

3 Neue Fragen zum Religionsunterricht und zur Konfirmand:innenarbeit: Eine religionspädagogische Horizonterweiterung der KMU VI

Aufgrund der beschriebenen Schieflage haben sich die Verantwortlichen im wissenschaftlichen Beirat dafür eingesetzt, religionspädagogische Leerstellen und Wahrnehmungslücken in der 2022 durchgeführten KMU VI zu schließen. Dies war aufgrund der begrenzten Gesamtlänge der Befragung von einer Stunde und der gewünschten Item-Kontinuität zu den Vorgängerstudien ein facettenreicher Aushandlungsprozess. Neue Items bedeuteten, dass andere gestrichen werden mussten. Neu sind im aktuellen Fragebogen u.a. die folgenden drei Fragen zum schulischen Religionsunterricht:

  • „Hatten Sie persönlich Religionsunterricht in der Schule? Wenn ja, in welchen Schuljahren?“ (Fragebogen KMU VI, 2022)

  • „Wenn Sie an den Religionsunterricht denken, den Sie selbst in der Schule hatten: Welche der folgenden Aussagen treffen darauf voll zu, eher zu, eher nicht zu oder gar nicht zu?“ (Fragebogen KMU VI, 2022)

  • „Stimmen Sie den folgenden Aussagen zum Thema Religionsunterricht […] zu? a) Das Schulfach Religion ist in der heutigen Zeit besonders wichtig. b) […] c) […].“ (Fragebogen KMU VI, 2022)

Darüber hinaus kommt der Religionsunterricht in verschiedenen Antworten in den Blick:

  • „Zu welchen der folgenden Themen sollte sich die Kirche heute ihrer Ansicht nach engagieren oder öffentlich äußern? Egal ob die Kirche das schon tut oder nicht. Es geht darum, ob Sie persönlich das wünschen. […]“ (Fragebogen KMU VI, 2022)

  • „Oft wird die spätere Einstellung zu religiösen Fragen ja in der Kinder- und Jugendzeit geprägt. Wer hatte damals, in Ihrer Kinder- und Jugendzeit, einen gewissen Einfluss darauf, wie sich ihre spätere Einstellung zu religiösen Fragen dann entwickelt hat? Bitte einfach mit ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ antworten. […]“ (Fragebogen KMU VI, 2022)

Neu sind darüber hinaus Fragen zur Konfirmand:innenarbeit, den ca. 90% der evangelischen Jugendlichen besuchen:

  • „Für Kinder und Jugendliche gibt es in der evangelischen Kirche die Konfirmation, in der katholischen Kirche die Erstkommunion und Firmung. Eine nicht-religiöse Feier ist die Jugendweihe. Woran haben Sie als Kind oder im Jugendalter teilgenommen?“ (Fragebogen KMU VI, 2022)

  • „Aus welchen Gründen haben Sie sich damals für eine Konfirmation entschieden? Trafen die gleich genannten möglichen Gründe auf Sie […] zu?“ (Fragebogen KMU VI, 2022)

  • „Es gibt verschiedene Meinungen über die Bedeutung der Konfirmation. Welchen der folgenden Aussagen stimmen Sie persönlich zu und welchen nicht?“ (Fragebogen KMU VI, 2022; vgl. aber bereits Vorläufer dieser Frage in der KMU I bis V in Varianten)

Der Zusammenhang zwischen der religiösen Selbst-Positionierung der Befragten und der eigenen Bildungsbiographie kann auf der Basis des neuen Fragebogens differenzierter als bisher beschrieben werden.

4 Das religionspädagogische Begleitprojekt: Die Wertorientierungen und Welterschließungsperspektiven von Jugendlichen und jungen Erwachsenen

Zu den eingangs genannten Innovationen der laufenden KMU VI gehört die Unterstützung und Einbeziehung von flankierenden Projekten. Die Projekte beschäftigen sich mit Teilaspekten wie „Religion als Option – Entscheiden über Zugehörigkeit und Partizipation als sozialer Prozess“ (so federführend Kristin Merle u.a.), den vielfältigen „Formen der Kommunikation des Evangeliums“ (Uta Pohl-Patalong u.a.), den verschiedenen Aspekten von Gemeindefusionen/‑kooperationen (Daniel Hörsch u.a.), der „Bedeutung von Kirchenmusik für kirchliche Bindung“ (Christian Fuhrmann u.a.) und der „Partizipation und Relevanz von Kirche in der Perspektive unterschiedlicher Wertorientierungen und Welterschließungsperspektiven“ (Carsten Gennerich & David Käbisch).

Forschungsmethodisch ruht das religionspädagogische Begleitprojekt auf zwei Säulen: zum Ersten auf dem 10-Items umfassenden Portrait Values Questionnaire (PVQ) nach Shalom Schwartz, um die 1992 eingeführte Wertmessung nach Helmut Klages zu erweitern (vgl. Gennerich, 2001; Gennerich, 2010; Gennerich, Käbisch & Woppowa, 2021), und zum Zweiten auf imaginierten, aber lebensweltnahen Anforderungssituationen. Diese sollen als innovatives Forschungsinstrument dabei helfen, die Welterschließungsperspektiven von Jugendlichen und jungen Erwachsenen beschreiben und verstehen zu können. In der empirischen Bildungsforschung spricht man bei diesem Aufgabenformat von sogenannten Fall-Vignetten. Damit sind imaginierte Szenarien gemeint, die bei der Datenerhebung, bei der Datenanalyse oder bei der Dateninterpretation (z.B. in der sozialpsychologischen Urteils- und Entscheidungsforschung) einbezogen werden (vgl. Rosenberger, 2016, S. 204). Fall-Vignetten sind u.a. dazu geeignet, den Einfluss des Sozialstatus auf das Entscheidungsverhalten in imaginierten Entscheidungssituationen zu untersuchen. Dies ist beispielsweise der Fall in der folgenden Vignette, die (neben der oben bereits erwähnten Positionierungsaufgabe zum Moscheebau) Eingang in den Fragebogen der KMU IV gefunden hatte:

„Es wird ja darüber diskutiert, dass mehr Geschäfte an Sonntagen geöffnet werden dürfen als bisher. Sind Sie dafür oder dagegen, dass am Sonntag mehr Geschäfte als bisher geöffnet werden dürfen? Welche Argumente spielen bei Ihrer Entscheidung eine Rolle? Sagen Sie mir das bitte anhand dieser Liste.“ (Fall-Vignette 1 aus IV. KMU)

Die 2002 erprobte, 2012 aber wieder abgeschaffte Datenerhebung mit Fall-Vignetten wird in dem religionspädagogischen Begleitprojekt aufgegriffen und in einer separaten Studie weitergeführt. Die Leistungsfähigkeit von zehn möglichen Fall-Vignetten konnte im Pretest überprüft werden, um eine begründete Auswahl für die Haupterhebung treffen zu können. Die Fall-Vignetten beziehen sich auf unterschiedliche Aspekte kirchlichen Partizipationsverhaltens, z.B. auf den Gottesdienstbesuch (Liturgia), das soziale Engagement (Diakonia), das Bekenntnis (Martyria), Kirchliche Bildungsangebote (Paidea) und die kirchliche Gemeinschaft (Koinonia).

Die Antworten der Proband:innen sollen Auskunft über die politischen, rechtlichen, ökonomischen, ästhetischen, religiösen etc. Welterschließungsperspektiven geben, die bei der (Mikro‑)Entscheidung für oder gegen ein konkretes Partizipationsangebot von Kirche und den damit einhergehenden Relevanzeinschätzungen eine Rolle spielen. Im Zentrum steht also die Forschungsfrage, wie sich die Wahrnehmung und Einschätzung von Relevanz in Abhängigkeit zu den eingenommenen Welterschließungsperspektiven ändert. Es macht einen Unterschied, ob Proband:innen die Frage nach der Relevanz von Kirche in einer ökonomischen, politischen, juristischen, sozialen, pädagogischen, medizinischen oder religiösen Perspektive beantworten (vgl. Käbisch, 2022). Aufschlussreich ist die Frage nach den eingenommenen Welterschließungsperspektiven vor allem dann, wenn sie in Konkurrenz zueinander treten. So können Proband:innen beispielsweise die hohe soziale Relevanz von kirchlichen Angeboten bejahen, aber trotzdem aus ökonomischen Gründen aus der Kirche ausgetreten sein, weil ihnen beispielsweise die Kirchensteuer zu hoch ist.

Der Fragebogen des religionspädagogischen Projekts eröffnet vor diesem bildungs- und systemtheoretischen Hintergrund die Möglichkeit a) Korrelationen zwischen den (vergleichsweise stabilen) Wertorientierungen der Proband:innen und den eingenommenen (situationsabhängigen und inkonsistenten) Welterschließungsperspektiven zu berechnen und b) mit dem in der KMU erforschten Partizipationsverhalten an kirchlichen Angeboten in Beziehung zu setzen. Von dieser doppelten Forschungsfrage erhoffen wir uns nicht nur weiterführende Impulse in den Diskussionen zur Systemrelevanz von Kirche in und nach der Corona-Krise, sondern auch zum Bildungsauftrag der Kirche im Rahmen einer bildungstheoretisch begründeten Didaktik des Perspektivenwechsels (vgl. Käbisch, 2013; Dressler, 2018).

5 Fazit

Religiöse Positionierungen begegnen in den seit 1972 durchgeführten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD u.a. als spontane, generelle, imaginierte und explizit begründete Reaktionen bzw. Antworten auf religions- bzw. kirchenbezogene Items und Fragen. Diese Reaktionen bzw. Antworten sollen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Auskunft über die nicht beobachtbaren Einstellungen, Meinungen bzw. subjektiven Positionen der Befragten gegenüber den Angeboten der evangelischen Landeskirchen geben. Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD fügen damit dem facettenreichen „Containerbegriff“ der Positionierung (Käbisch & Philipp, 2022b) eine weitere Facette hinzu.

Im Vergleich zu dem vom Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst geförderten Forschungsschwerpunkt „Religiöse Positionierung: Modalitäten und Konstellationen in jüdischen, christlichen und islamischen Kontexten“ (www.relpos.de) an der Goethe-Universität Frankfurt/Justus-Liebig-Universität Gießen fallen in den bisherigen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen jedoch auch zwei Leerstellen auf: zum einen die konstitutive Einbeziehung interreligiöser Fragestellungen (vgl. Wiese, 2017 und Wiese, 2022), zum anderen die Berücksichtigung religionspädagogischer Perspektiven auf Kirchenmitgliedschaft und das Verhältnis von Partizipation, Reflexion und Relevanz in Bildungsprozessen (vgl. Käbisch, 2022).

Die Konzeption der KMU VI sucht die religionspädagogischen Leerstellen und Wahrnehmungslücken der Vorgängerstudien in dreifacher Hinsicht zu schließen: indem sie explizit nach Bildungsangeboten und den dafür verantwortlichen Akteur:innen fragt, der Altersgruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen besondere Aufmerksamkeit schenkt und kirchliche Angebote nicht nur kirchentheoretisch, sondern auch bildungstheoretisch reflektiert. Angesichts des skizzierten bildungstheoretischen Hintergrunds sollen am Ende des Projektzeitraums die Bedeutung unterschiedlicher Welterschließungsperspektiven für das kirchliche Partizipationsverhalten differenziert beschrieben werden. Die im Projekt zu überprüfende These, dass eine loyale Kirchenmitgliedschaft die Kompetenz einer situationsgemäßen Koordination von Welterschließungsperspektiven voraussetzt, geht zudem mit der Erwartung einher, die KMU mit einer weiterentwickelten Wertemessung für internationale religionspädagogische, religionspsychologische und religionssoziologische Diskurse beispielsweise auf dem Feld interreligiöser Begegnungen zu öffnen (dazu Gennerich, 2018).

Literaturverzeichnis

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Gennerich, C. (2001). Die Kirchenmitglieder im Werteraum: Ein integratives Modell zur Reflexion von Gemeindearbeit. Pastoraltheologie, 90(4), S. 168–185.

Gennerich, C. (2010). Empirische Dogmatik des Jugendalters: Werte und Einstellungen Heranwachsender als Bezugsgrößen für religionsdidaktische Reflexionen. Stuttgart: Kohlhammer.

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Gutmann, D. & Peters, F. (2021). #projektion2060 - Die Freiburger Studie zu Kirchenmitgliedschaft und Kirchensteuer: Analysen - Chancen - Visionen. Neukirchen‑Vluyn: Neukirchener Verlag.

Ilg, W. (2017). Notwendige Horizonterweiterungen für die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen. Zeitschrift für Pädagogik und Theologie, 69(4), S. 317–329.

Käbisch, D. (2013). Didaktik des Perspektivenwechsels – Einheitsmoment religiöser Bildung in unterschiedlichen Schulformen? In B. Schröder & M. Wermke (Hrsg.), Religionsdidaktik zwischen Schulformspezifik und Inklusion. Bestandsaufnahmen und Herausforderungen (S. 351–379) Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt.

Käbisch, D. (2022). Konfessionslosigkeit und Subjektorientierung. Ein Beitrag zum Verhältnis von Partizipation, Reflexion und Relevanz in Bildungsprozessen. In S. Altmeyer, B. Grümme, H. Kohler-Spiegel, E. Naurath, B. Schröder & F. Schweitzer (Hrsg.), Jahrbuch der Religionspädagogik. Bd. 38: Religion subjektorientiert erschließen (S. 111–120). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Käbisch, D. & Philipp, L. (2022a). Urteilen, Entscheiden und Positionieren im Ethik- und Religionsunterricht. Eine Analyse von Aufgabenstellungen. Zeitschrift für Pädagogik, 68(2), S. 168–181.

Käbisch, D. & Philipp, L. (2022b). Positionierung im Ethik- und Religionsunterricht – Überlegungen zur Aufgabendidaktik. Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik, 21(2).

KMU I: Hild, H. (Hrsg.) (1974). Empirische Untersuchungen in der Evangelischen Kirche in Deutschland. Wie stabil ist die Kirche? Bestand und Erneuerung; Ergebnisse einer Meinungsbefragung (2. Aufl.). Gelnhausen & Berlin: Burckhardthaus-Verlag.

KMU II: Hanselmann, J., Hild, H. & Lohse, E. (Hrsg.) (1987). Was wird aus der Kirche? Ergebnisse der zweiten EKD-Umfrage über Kirchenmitgliedschaft (4. Aufl.). Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Mohn.

KMU III: Engelhardt, K. (Hrsg.) (1997). Fremde Heimat Kirche. Die dritte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

KMU IV: Huber, W. (Hrsg.) (2006). Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge: Die vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

KMU V: Bedford-Strohm, H. & Jung, V. (Hrsg.) (2015). Vernetzte Vielfalt: Kirche angesichts von Individualisierung und Säkularisierung. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

Peters, F., Ilg, W. & Gutmann, D. (2019). Demografischer Wandel und nachlassende Kirchenzugehörigkeit. Ergebnisse aus der Mitgliederprojektion der evangelischen und katholischen Kirche in Deutschland und ihre Folgen für die Religionspädagogik. Zeitschrift für Pädagogik und Theologie, 71(2), S. 196–207.

Rosenberger, K. (2016). Fall-Vignetten. Ein methodisches Instrument in der Bildungsforschung, Forschungsperspektiven 7, S. 203–215.

Schröder, B., Hermelink, J. & Leonhard, S. (Hrsg.) (2017). Jugendliche und Religion: Analysen zur V. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD. Stuttgart: Kohlhammer.

Wiese, Ch. (2017). „Religiöse Positionierung“ im Spannungsfeld von Diversität, Differenz und Dialogizität – eine Problemskizze. In Ch. Wiese, S. Alkier, M. Schneider (Hrsg.), Diversität – Differenz – Dialogizität. Religion in pluralen Kontexten (S. 1–29). Berlin/Boston: de Gruyter.

Wiese, Ch. (2022). „Religiöse Positionierungen“: Theoretische Überlegungen und historische Orientierungen aus der Perspektive der jüdischen Religionsphilosophie, Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik, 21(2).

Wunder, E. (2022a). Ausblick auf die VI. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD im Herbst 2022. In G. Lämmlin (Hrsg.), Zukunftsaussichten für die Kirchen. Beiträge zum 90. Geburtstag von Karl-Fritz Daiber (S. 275–280). Baden-Baden: Nomos Verlag.

Wunder, E. (2022b). Selbsterkundung für die Zukunft. Die neue Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung hat begonnen, Zeitzeichen (erscheint 12/2022).

Diese Publikation erscheint im Kontext des vom LOEWE-Programm des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst geförderten Forschungsschwerpunkts „Religiöse Positionierung: Modalitäten und Konstellationen in jüdischen, christlichen und islamischen Kontexten“ (www.relpos.de) an der Goethe-Universität Frankfurt/Justus-Liebig-Universität Gießen mit der Laufzeit von fünf Jahren (2017-2021).

 

Dr. theol. habil. David Käbisch ist seit 2013 Professor für Religionspädagogik am Fachbereich Evangelische Theologie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.