1 Rahmung und Vorgehen der Untersuchung
1.1 Zur Herleitung der Forschungsfragen
Das übergeordnete Ziel des Forschungsprojektes besteht darin, den Beitrag interreligiöser Lehrveranstaltungen zur Entwicklung einer respektvollen und zugleich differenzerhaltenden Haltung der Studierenden gegenüber anderen Religionen zu bestimmen – was als Bildungsziel in den christlichen Religionslehrer*innenbildungen vorausgesetzt wird (vgl. Kubik, 2022, N.N.). Dieses Ziel wird in diesem Projekt so operationalisiert, dass wir die Rekonstruktion des Umgangs mit interreligiösen Differenzen im Lehrgeschehen fokussieren und dabei vor allem auf zwei Dimensionen achten: 1. Was bringen die Lehrenden und die Studierenden an Konzepten in den gemeinsamen Lehr-/Lernprozess mit ein und 2. Wie wirken sich diese Konzepte in der konkreten Situation im Kontext von Hochschule aus?
Zu 1. Für die handlungsleitenden Konzepte greifen wir zum einen auf den Beitrag von Kamcili-Yildiz und Dobras (2022) in dieser Reihe zurück, der die vorherrschenden Mindsets religiöser Pluralität bei Hochschullehrenden in der christlichen Religionslehrer*innenbildung thematisiert. Wie dort verstehen wir unter Mindsets überindividuelle, vorgelagerte, mit emotionaler Valenz geladene, zunächst abstrakte Denkformen, die von einzelnen Individuen übernommen werden können. Mindsets sind deshalb keine personengebundenen Einstellungen oder Überzeugungen, sondern von diesen ablösbare handlungsleitende Konstrukte, auf die Menschen in Situationen spezifisch zurückgreifen (vgl. Kamcili-Yildiz & Dobras, 2022, S. 5). Die individuell beschreibbaren Konstrukte lassen sich in ihren Strukturen zu Mindsettypen bündeln. Dazu wurde auf acht Interviews mit Dozierenden von fünf verschiedenen Universitäten in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen zurückgegriffen. Für die Konzepte beziehen wir uns zum anderen auf den Beitrag von Reis und Hasenberg (2022) zur Rekonstruktion der Mindsets guter Lehre, der zugleich einen Zusammenhang herstellt, wie Lehrende auf der Einstellungsebene strukturell beide Mindsets verknüpfen. Ein Ergebnis ist für uns später als interpretativer Bezugsrahmen zentral: Anders als im Vorgängerprojekt(vgl. Reis, Hillebrand, Mauritz, Wittke & Kamcili-Yildiz, 2020a, S. 249–266) fällt auf, dass die Lehrenden hier über ein explizites Rollenverständnis in der Hochschullehre verfügen, hochschuldidaktische Kenntnisse besitzen und auch auf den Fachdiskurs zum interreligiösen Lernen zurückgreifen. Es lassen sich zwei Formen von Lehrvorstellungen unterscheiden: eine, die Lehre konkret vom Gegenstand des interreligiösen Lernens und der religiösen Differenz her entfaltet, und eine andere, die stärker von dem Kontext der Hochschullehre, den dortigen (hochschuldidaktischen) Lehrerwartungen ausgeht.
Zu 2. Zu der leitenden Frage, wie sich die beiden Mindsets in der konkreten Lehre in der christlichen Religionslehrer*innenbildung auswirken(vgl. Reis, Wittke, Mauritz, Hillebrand & Kamcili-Yildiz, 2020b, S. 267–282) tritt die Frage, ob und wie die Professionalisierung die Situations- und Handlungsauffassung der Lehrenden in der konkreten Lehrsituation beeinflusst. Während im Vorgängerprojekt einzelne Lehrende durchaus abwertende und differenzstarke Mindsets religiöser Pluralität in die Lehre mitbrachten, diese aber in der praktischen Lehre durch den Hochschulkontext egalisiert wurden, wäre hier zu erwarten, dass die Mindsets religiöser Pluralität und guter Lehre durch die Professionalisierung der Lehrenden und die Toleranzerwartung der Studierenden selbst schon eher differenzabschwächende Interaktionsmuster präferieren. Mendl beschreibt mit Blick auf die Studierenden in seinem universitären Lehrprojekt Gesichter der Religionen die Dominanz des Konstruktionsmusters einer emotionslosen Indifferenz gegenüber der*dem Fremden. Dies liegt aus seiner Sicht vor allem daran, „dass die Studierenden weder über ein umfassendes Wissen über andere Religionen verfügen […] noch intensive Kontaktzonen mit Menschen haben, die einer anderen Religion oder Konfession angehören“(Mendl, 2017, S. 106).
Vor diesem Hintergrund prüft der Beitrag erstens, ob sich diese Wahrnehmung in dieser Untersuchung bestätigen lässt, dass die Lehrenden aufgrund ihrer Mindsets und ihrer Professionalisierung sowie die Studierenden aufgrund ihrer Toleranzforderung diese emotionslose Indifferenz in die Lehre eintragen oder ob sich andere Formen im Umgang mit der Differenz etablieren, die strukturell im Zusammenhang mit den Mindsets stehen. Es ist zweitens zu klären, welchen Beitrag die konkrete Lehrsituation mit ihren konkreten Praktiken (der Online-Lehre) zu dieser Differenzform leistet. Denn es ist nicht davon auszugehen, dass sich konkrete Lehre einfach aus der Verschränkung der Mindsets ergibt. Vielmehr macht schon das Vorgängerprojekt auf die besondere Bedeutung des Kontextes und der singulären Situation aufmerksam.
1.2 Zum methodischen Vorgehen
Im Rahmen dieses Teilprojekts wurden insgesamt drei Sitzungen von zuvor interviewten Lehrenden videografisch aufgenommen. Es handelte sich dabei durchgehend um andersreligiöse Lehrveranstaltungen mit einem interreligiösen Schwerpunkt. Da die Seminare während der COVID-19-Pandemie stattfanden und daher nur Onlinelehre möglich war, liegen Aufnahmen von Zoomkonferenzen vor. Aufgrund des begrenzten Rahmens steht in diesem Artikel ein Lehrort im Fokus. Die Auswahl der Lehrperson D4 bzw. des zugehörigen Lehrvideos geschah nach dem Zufallsprinzip. Aus dieser Aufnahme wurden wiederum drei Sequenzen ausgewählt, die mit Blick auf die Fragestellung einen dichten Interaktionsmoment angeboten haben, in dem durch Impulse der Studierenden die geplante Lehre für einen kurzen Moment aus den Fugen gerät und sich so die Akteure mit ihren Handlungsvorstellungen neu orientieren müssen. Diese Momente sind deshalb gut geeignet, um das Zusammenspiel der Mindsets und des Kontextes in bestimmten Praktiken zu beobachten. Sie wurden in der Form der Dichten Beschreibungen gefasst, die zentrale verbale Äußerungen erhalten, aber sich sonst vor allem auf die sinngenerierenden Interaktionen konzentrieren (vgl. Geertz, 1987).
Die weitere Analyse der Szenen folgt in Anlehnung an das Vorgängerprojekt der Struktur einer praxistheoretischen Case Summary(vgl. Kuckartz, Dresing, Rädiker & Stefer, 2008, S. 58–59) „Zwei Prinzipien sind hier dominant: Zum einen wird die Szene in ihrer Interaktionsstruktur nachgezeichnet und zum anderen wird das Verhalten der Lehrkraft jeweils von den Profilen her als mentales Bezugssystem plausibilisiert“ (Reis et al., 2020b, S. 269). Die Interaktionsstruktur bildet sich – so die Annahme in der Auswertung – wiederum einerseits kontextuell in bestimmten Praktiken und andererseits in der Kontingenz der Situation. „Die Praxistheorie sucht deshalb auch die varianzerzeugenden Faktoren, welche das spontane, flexible Handeln der Dozierenden zur Performanz bringen und dabei auch die für diese Situation notwendigen Programmatiken in Verbindung setzten“ (Reis et al., 2020b, S. 269). Die Lehre ist demnach ein Ort, an welchem die Profile der Mindsets beobachtbar werden, sich aber auch ausschärfen (vgl. Reis et al., 2020b, S. 268).
1.3 Zum praxistheoretischen Hintergrund des Beitrags
Lehre als elaborierte Interaktionsform stellt sich als Bündel von Praktiken dar, in denen spezifische und verstreute Praktiken – das sind Praktiken, die in verschiedenen Bündeln aufgerufen werden können wie eine Meldepraxis – miteinander funktional organisiert sind. Damit eine Praxis funktioniert, müssen die Akteure auf ihren Beitrag in dieser Praxis ausgerichtet sein. In den sogenannten Lebenszuständen menschlicher Akteure spielen praktisches Regelverständnis und die Fähigkeit, geforderte teleo-affektive Strukturen auszuführen, eine entscheidende Rolle. Gerade die teleo-affektiven Strukturen als das emotionale und volitionale Ausgerichtetsein auf die hierarchisch organisierten Handlungsverläufe einer Praxis stellen sicher, dass sich die Beteiligten zielgerichtet verhalten und die Praktik wie gedacht ablaufen kann (vgl. Cress, 2021, S. 13–24). Die Mindsets zur religiösen Pluralität und zur guten Lehre verstehen wir genau als solche Lebenszustände, die auf ihre Weise die Arbeitsform und die Gegenstandsrepräsentation in der Lehre prägen werden; aber so, dass – das ist der Grundgedanke der Praxistheorie – sich die Situation ihre Akteure zur Aufführung einer sozialen Praxis sucht (vgl. Schäfer, 2019, S. 20). Die Mindsets dienen deshalb nicht dazu, Akteure wesenhaft zu beschreiben. Menschen geraten in Praktiken und spielen mithilfe ihrer Mindsetprofile mit und zugleich ist die Teilnahme auch der Ort, um die Profile anzulegen. Deshalb sind zunächst die Situationen, ihre Aufforderungsstrukturen in den Interaktionen und die in ihnen wirksamen Faktoren, die Kontingenz auslösen, zu beschreiben. Dann kann man die funktional passenden bzw. nichtpassenden Lebenszustände eingrenzen, die auf der einen Seite den Fortgang der Praxis unterstützen oder auf der anderen Seite den Fortgang blockieren (vgl. Reis et al., 2020b, S. 268). In der Untersuchung ist es dementsprechend unser Ziel, für die interreligiöse Lehre diese Beziehung zwischen situativer Interaktionsstruktur, situativer Varianz und den Mindsets als Lebenszustände zu verstehen. Diese Elemente, die eine Varianz auslösen, werden im Folgenden als Faktor X bezeichnet und solche Momente mit einem Faktor X sind der konkrete Analysegegenstand.
1.4 Zum Vorgehen
Der Artikel strukturiert sich wie folgt: Im ersten Schritt folgt nun die Case-Summary zu der Lehrsituation mit D4. Diese ist so aufgebaut, dass zunächst die Rahmenbedingungen der Lehrveranstaltung und der Sitzung beschrieben werden. Daran schließt sich die Analyse dreier Szenen an. Den Abschluss der Case-Summary bildet die Queranalyse aller drei Szenen. Im zweiten Schritt werden diese Ergebnisse aus Platzgründen nur sehr kurz mit der Analyse der Lehrvideos von zwei weiteren Lehrorten abgeglichen. Im dritten Schritt werden die Einsichten zu allen drei Lehrsituationen zu Thesen verdichtet, wie andere Religionen in der christlichen Religionslehrer*innenbildung als Gegenstand vorkommen.
2 Case Summary zur Lehrveranstaltung 1
2.1 Rahmenbedingungen
Das Seminar greift als Gegenstand den Ansatz der Komparativen Theologie im interreligiösen Lernen auf und zielt darauf ab, diesen Ansatz auch in der Lehre selbst als Modus der Interaktion erfahrbar zu machen. Das Thema der Sitzung, die videographiert wurde, lautet „Interkultureller und interreligiöser Perspektivwechsel am Beispiel von Zafer Senocak“, einem deutschen Schriftsteller, der im Alter von 9 Jahren mit seiner Familie aus der Türkei nach Deutschland floh. Lernmedium ist in dieser Sitzung ein Ausschnitt des Buches „Das Fremde, das in jedem wohnt“.
Das Seminar findet aufgrund der 2021 herrschenden Coronapandemie über die Videoplattform Zoom statt. Es nehmen neben der Lehrperson (D4) weitere zehn Studierende und ein Mitglied der Forschungsgruppe, welches im Weiteren als G1 bezeichnet wird, an der Sitzung teil. Der Gast gehört dem Islam an, die restlichen Seminarteilnehmenden dem Christentum.
Die Seminarsitzung verläuft wie folgt: Zur Vorbereitung lasen die Studierenden einen Text bzw. einen Erfahrungsbericht Zafer Senocaks. Die Sitzung selbst startet mit einem Zitat. In einer Art Brainstorming fordert die Lehrperson die Studierenden zur Äußerung erster Assoziationen auf. Nach dieser Phase bilden sich drei Kleingruppen, welche an den von den Studierenden zuvor aufgerufenen Fragestellungen und Themenvorschlägen arbeiten. In Kleingruppen werden die Themen „doppelte Heimat?!“, „Instrumentalisierung von Religion“ und „Kirchenglocken vs. Ruf des Muezzins“ diskutiert. Abschließend treffen sich die Seminarteilnehmenden zur Vorstellung der Ergebnisse aus der Gruppendiskussion wieder im Plenum. Aufgrund verschiedener zusammenwirkender Faktoren, auf die später noch genauer eingegangen wird, wird eine Expertenbefragung von G1 eingeschoben.
2.2 Erste Szene: Meine Erfahrungen
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Wir befinden uns in der Phase des Brainstormings. Ein Student (S4) beginnt mit seinem Beitrag. Zuvor wurden erste Assoziationen zum Text geäußert.
„Also ich wollte nochmal zurück auf diesen Begriff der Instrumentalisierung. (D4: „Hmh.“) Es ist ja interessant äh wie Senocak äh Seite 165 das Fremdglauben. Da wird er ja ungeheuer direkt und äh sagt Folgendes: Er er betrachtet da diesen demonstriertenIslam auf der Straße und dann sagt er: ‚Das ist neu!‘.“
Asynchrone Bewegung bei D4 und S4 in den Kacheln.
„Die Gemeinde der Gläubigen wächst und dann will er aber nicht bei diesen Gläubigen sein und er schreibt ganz extrem: Warum widert es mich an, dass diese Männergruppen etc. (D4: „Hmh.“) Mich stört das das offene Antlitz des Islam irritiert mich. (D4: „Hmh.“) Dieses zur Schau stellen der Religion scheint mir nicht weit entfernt von ihrer Instrumentalisierung. Also was er da. Das habʼ ich ja selber sehr oft kennengelernt in den arabischen Ländern, auch in Ägypten. Es gab einen Ausdruck der Gläubigkeit, der war so aufgesetzt demonstrativ, dass ich dasselbe empfunden habe wie er, das hat mich gestört. (D4: „Hmh.“) Ich bin gerne in eine Moschee gegangen zum Gebet, hab da zugehört. Wenn das ein in sich meditativer Ausdruck von Religion war. Aber dieser diese wirklich aufgesetzte, werbewirksame Demonstration von Religion, das findʼ ich ganz ganz schrecklich! Aber das findʼ ich auch in Bayern manchmal schrecklich, wenn ich diesen demonstrativen Katholizismus sehr, der sich versteckt hinter.“
D4 schaut in die Kamera und nickt immer wieder. Einige Studierenden ändern unruhig ihre Sitzposition. D4 wechselt von der Galerieansicht zur Bildschirmteilung.
S4: „Äh äh bürgerlicher Tradition oder bäuerlicher Tradition und im Grunde inhaltsleer ist. (D4: „Hmh.“) Nun hab ich auch ein ein dasselbe Problem wie Senocak hab ich, wenn ich in Bayern in einen katholischen Gottesdienst geh. Es gelingt mir nicht, mich als Teil dieser Gemeinschaft zu definieren, wenn ich mir immer vorstelle, welche Leute demonstrativ den Katholizismus in Bayern nach außen bringen (D4: „Hmh.“) und wo der medienwirksam dargestellt wird. (D4: „Hmh.“) Da fühle ich mich nicht zugehörig. (D4: „Hmh.“) Ich hab‘ ‘ne andere Beziehung zur Religion und ich hab‘ ‘ne andere Beziehung zu Gott. (D4: „Hmh.“) Äh also da da treff ich mich sehr mit mit Senocak.“ D4: „Hmh.“
D4 nickt mehrfach und übernimmt nach dem Beitrag von S4 das Wort.
„Ja dankeschön X, ähm, wir lassen das einfach mal stehen, unkommentiert, weil wir gleich genau in solche Fragen nochmal reingehen werden. Ähm, sehr sehr spannend. Genau und auch bei dem was äh äh was die anderen jetzt gesagt haben. Ich hab versucht, das (-) kurz mitzuschreiben.“
D4 fährt mit der Maus über die Stichpunkte, die während des Brainstormings ergänzt wurden.
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Nachvollzug der Interaktionsstruktur
Der Student unterscheidet in seinem Redebeitrag zwischen gutem und schlechtem Islam bzw. gutem und schlechtem Katholizismus. Durch die Dichotomie von gut und schlecht stellt er eine Parallele zwischen Islam und Katholizismus her, da er das Schema auf beide Religionen anwendet. Der gute Islam sei meditativ, privat und still. Der schlechte Islam sei demonstrativ, instrumentalisiert und männlich. Der schlechte Katholizismus hingegen sei inhaltsleer, bäuerlich und medienwirksam. Zu erkennen ist ebenfalls die emotionale Involviertheit des Studenten. Auch wenn weder Stimme noch Mimik oder Gestik an dieser Stelle durch die Bildschirmteilung zu hören oder zu sehen sind, benutzt er Ausdrücke mit binärer emotionaler Valenz wie „gern“ oder „das hat mich gestört“. Der Redefluss des Studenten wird nicht unterbrochen. Lediglich ein begleitendes Nicken oder „Hmh.“ von D4 sind zu vernehmen. Am Ende schließt D4 den Beitrag des Studenten.
Zu erkennende Praktiken
D4 reagiert auf die Äußerung des Studenten mit drei verschiedenen Praktiken, mit denen der Beitrag begleitet, abkürzt und entschärft wird.
i. Praxis des Begleitens
Durch ein wiederholendes „Hmh.“ und Nicken gibt D4 dem Studenten durchgehend Resonanz und begleitet emphatisch.
ii. Praxis des Verkürzens
Weiter nimmt D4 dem Studenten durch den Wechsel von der Galerieansicht in die Bildschirmteilung die Sichtbarkeit. Der Raum wird durch diese Praktik eingeschränkt, nicht geschlossen, da der Student mit seinem Beitrag fortfährt. Durch den Wechsel zur Bildschirmteilung schafft es D4 einerseits seinen Redebeitrag zu verkürzen und andererseits die Wirkung seiner ausdrucksstarken Worte auf die anderen Seminarteilnehmenden zu reduzieren, da sämtliche Gestiken oder die Mimik von S4 fehlen, die seine Worte stützen würden. Dadurch liegt nun nicht mehr der Fokus auf S4 in der Galerieansicht, sondern auf der neu erscheinenden Präsentation von D4.
iii. Praxis des Entschärfens
Zum Abschluss des Beitrags schaltet sich D4 mit einem Schlusswort ein, in dem bewusst betont wird, dass die aufgemachten Differenzen an dieser Stelle unkommentiert stehen gelassen werden und eine spätere Diskussion folgen soll. D4 entschärft an dieser Stelle die Situation, indem eine Orientierung an der Seminarstruktur erfolgt.
Die drei Praktiken gehören zur übergeordneten verstreuten Praxis der Moderation von Interessen in Aushandlungssituationen. Die Moderation ist keine spezifische Hochschulpraktik, sie wird aber in Seminaren genutzt, um das Rederecht zu verteilen. Wurde sie ursprünglich im Kontext partizipativer beruflicher Arbeitsformen entwickelt, hat sie auch die Hochschule erreicht und ermöglicht hier symmetrische Arbeitsbedingungen, so dass für ein bestimmtes Aushandlungsziel Parteien und ihre Interessen geschützt und invasive Verhaltensmuster verhindert werden (vgl. Sperling & Wasseveld, 2002, S. 14–22). Vor dem Hintergrund, dass D4 diese spezifische Moderationspraktik aufruft, wird deutlich, dass D4…
die Situation vor der durchaus konflikthaften Aushandlung von Interessen und knappen Ressourcen interpretiert,
sich als Hüter*in des geplanten (Aushandlungs-)Ziels versteht,
die Interessen anderer (Studierender, Zeit, geplante Arbeitsschritte) ohne ihren Eingriff beeinträchtigt sieht und
die Nichtaushandlung als notwendig sieht, um die Gesamtaushandlung nicht zu gefährden.
Klar ist aber bei der Wahl dieser Entscheidungen, dass der Konflikt nur verschoben ist. Außerdem tritt die Moderation in Opposition zur Positionierung und blendet damit die Option studentischer Opposition aus. D4 bleibt formal am Verfahren orientiert, aber in der Bewertung des expliziten Nichtkommentierens wird die Moderationsrolle in der Positionierung an deren Grenze getrieben (vgl. Sperling & Wasseveld, 2002, S. 12).
Identifizierung des Faktor X
Der dichte Moment entsteht in der ersten Szene durch den langen und die religiöse Form bewertenden Redebeitrag eines Studenten. Besonders die dichotome Anschauung der Religionen sticht hervor. In seinem Beitrag positioniert er sich gegenüber dem Andersreligiösen in den arabischen Ländern und in Deutschland und übt sich in der Kritik an anderer ausgrenzenden politisch-motivierter Religionsbindung. Der Redebeitrag löst Unruhe im Kachelbild bei D4 und den Studierenden aus und fordert die anderen beteiligten Akteure zu eigenen Positionierungen heraus, die weit über die geplante erste Resonanz zum Text hinausgehen. Genau diese Erregung der Aufmerksamkeit durch die starke Positionierung (vgl. Fabricius, 2022; Reis, 2022) in der sonst eher emotionslosen Kette an Leseeindrücken ist charakteristisch für den Faktor X und die Arbeit mit der Praxistheorie.
Anwendung von Strategien
Im weiteren Verlauf entsteht in zweierlei Hinsicht eine Herausforderung, mit dieser radikalen Positionierung umzugehen: Einerseits muss D4 den Redebeitrag wieder in die Seminarstruktur einbinden, ohne die doch radikale Äußerung zu kommentieren oder instruktiv vorzugehen (Verfahrensproblem). Andererseits führen Differenzen an dieser Stelle zu Abwertungen, welche im interreligiösen Kontext unangebracht erscheinen (Differenzproblem). Das Verfahrensproblem löst D4 an dieser Stelle so, dass direkt und ohne zu zögern auf die kommende Kleingruppendiskussion über genau solche Fragen verwiesen wird. Das aufgemachte Differenzproblem, welches zu Abwertungen und Hierarchisierungen der Praktiken in den Religionen führt, muss aus Sicht von D4 an dieser Stelle pausieren und wird auf später verschoben.
Prämissen aus den Mindsets
Die Mindsetrekonstruktion von D4 weist darauf hin (vgl. Reis & Hasenberg, 2022), dass drei Aspekte eine bedeutende Rolle in der guten Lehre spielen: Positionierung, Dialog und Begegnung. Zusätzlich legt sie Wert auf die Selbsterkenntnis der Studierenden. Die Positionierung des Studenten scheint an dieser Stelle nun also grundsätzlich gewünscht zu sein:
„Und da ist mir bewusst geworden, wie wichtig es ist, die Vorurteile – ich schreibe das ja gerne, wie du weißt, mit Bindestrich – also die ersten Urteile, die ich habe, die auch sehr impulsiv sein können, wie wichtig es ist, die aussprechen zu können und den Raum zu haben, das auch auszuführen und nicht direkt diesen Raum des ‚political richtigen Sprechens‘ vorgehalten zu bekommen, ‚das ist jetzt intolerant, das darf man gar nicht denken‘. Auch wenn es in dir wühlt, musst du es aussprechen und dann muss man darüber reden können, um dann sich von verschiedenen Perspektiven daran zu nähern“ (Transkript_D4, Pos. 9).
Die einzige Ausnahme oder Anforderung von D4 besteht darin, dass jede Positionierung diskursiv bleiben muss. Das Problem im vorliegenden Szenario besteht demnach nicht in der Positionierung an sich, sondern in den Abwertungen, die der Student mit seinem Beitrag äußert und die die ambigue Selbstreflexion Senocaks unterläuft. Durch die eigene Metaposition wird der Dialog zu religionsgebundenen Menschen erschwert. Dies widerspricht den Prinzipien von D4, was sich an der verkürzenden Intervention zeigt, die eben nicht nur auf der formalen Ebene agiert. D4 folgt den Möglichkeiten der Rolle der Lernbegleitung. D4 begleitet empathisch, übt keine Kritik an der Positionierung, sondern orientiert sich am Seminarverlauf. Mit der Aussage bzw. Antwort auf den Redebeitrag des Studenten stellt D4 klar, dass der Dialog ebenso wie die Positionierung ihre Berechtigung im Seminar hat, aber nur wenn sie nicht das Verfahren und den Verhaltenskodex behindern.
Rückschau und Ausblick
Der Beitrag des Studenten produziert in dreierlei Hinsicht Kontingenz: Er passt erstens nicht in die Phasierung, er geht zweitens abwertend mit Differenzen um und entwickelt eine emotionale Positionierung, die im Kontext Hochschule immer herausfordert. Die aufgerufene Praxis von D4, die Positionierung zu neutralisieren und in das Verfahren einzuordnen, lässt sich in den untersuchten Lehrvideos häufiger beobachten. Die Situation ist nicht als Einzelfall zu sehen, sondern markiert eine kontextuelle Herausforderung. Aus dem dichten Moment entsteht die Frage, wie mit solch starken Überzeugungen im universitären Kontext und interreligiösen Dialog umgegangen werden soll. Wann sind direkte Interventionen notwendig? Wie kann solch ein Beitrag wieder in das Verfahren eingebunden und entschärft werden?
2.3 Zweite Szene: Das Andere in mir
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Die Studierenden fanden sich zuvor in Kleingruppen zusammen, um aufgeworfene Themen intensiv zu diskutieren. Die Gruppe 3 (Thema: Kirchenglocken) beginnt nach der Aufforderung von D4.
S1: „Also was was wir gesagt haben in unserer Gruppe ist, dass ähm also Kirchenglocken für uns was Schönes sind, also die geben uns irgendwie Orientierung im Tag. Also man weiß wie viel Uhr es ist, wenn die zu jeder Stunde schlagen, man weiß ähm, wenn es 12 Uhr ist, wenn der Angelus läutet […]. Auch wenn wir zum Gottesdienst unterwegs sind. Es gibt irgendwie Motivation auf dem Weg dahin und wir haben gesagt hingegen der der Ruf des Muezzins, der würde uns eher abschrecken zum Gottesdienst zu gehen, weil er für uns in unseren Ohren sehr aggressiv klingt. Irgendwie sehr ähm, also man fühlt sich eher gezwungen dahin zu gehen. […].“
D4 fragt nach, ob dies eine von allen Gruppenmitgliedern geteilte Erfahrung/Meinung ist.
S1 bejaht dies und reichert seine Antwort mit der Beschreibung einer Situation aus seinem Alltag an.
G1 ergreift daraufhin das Wort.
G1: „Ähm (unv.), mich würde interessieren, Sie haben ja gesagt ähm, der Gebetsruf äh würde aggressiv auf Sie wirken. Woran machen sie die Aggressivität fest?“
S1 antwortet: „Ähm also, wir haben jetzt überlegt, ob wir bei uns diese Gebetsrufe hören als unsere. Also ob unsere Moscheen Lautsprecher haben, wo die zum Gebet aufrufen, was was man aus Medien, aus Filmen, aus Videos hört, ist es also auch so wie der ähm der Zafer Senocak das genannt hat, das ist sehr sehr laut ist und es ist überdreht und es es übertönt irgendwie alles. […].“
Eine andere Studierende (S2) meldet sich anschließend: „Ähm, ich würdʼ dazu gerne was sagen, […]. Ich glaube, es liegt daran, dass man die Sprache auch nicht kennt und dass man einfach, glaub ich ähm dann in bestimmten Sprachen vielleicht auch denkt, dass Leute diskutieren oder sich gerade streiten und dann das gar nicht der Fall ist und vielleicht ist es dann noch dieses laute und vielleicht auch aggressive, was dann durchdringt, weil das einfach sehr ungewohnt ist und und eben andere ‘ne andere Phonetik sozusagen vielleicht auch ‘ne Rolle spielt. Dachte ich jetzt gerade.“
Bevor D4 sich dazu meldet, schaltet sich S3 ein: „Wir wollten (G1: Tschuldigung) auch eh äh fragen, wie Sie das vielleicht empfinden, also wie das vielleicht für Sie ist, dieser Ruf ähm, ob sie da vielleicht einfach ‘ne andere Wahrnehmung darauf haben, […].“
G1 beschreibt die eigenen Erfahrungen mit Muezzinrufen in der Türkei und in Deutschland: es gibt solche und solche Rufe, wie es vielleicht auch solche und solche Glockenklänge gibt.
Anschließend entwickelt sich das Seminar in Richtung einer Expertenbefragung.
S4: „Dann noch eine Frage, die wir uns nicht beantworten konnten: Äh wie lange dauert das so, (G1: ist) also wie lange geht das?“ G1 antwortet.S5 fragt nach der Varianz der Tageszeitgebete. G1 antwortet. Weitere Fragen der Studierenden folgen.
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Nachvollzug der Interaktionsstruktur
Nach den Kleingruppendiskussionen gibt S1 nach einer Aufforderung von D4 die Ergebnisse wieder. S1 identifiziert im Beitrag das Schöne/den guten Klang mit den Kirchenglocken im Christentum und den abschreckenden Klang mit dem aggressiv klingenden Muezzinruf im Islam. Mit der Nachfrage von D4, ob alle Gruppenmitglieder diese Meinung teilen, werden weitere Stimmen auf die Bühne gerufen. Auf den ersten Blick ist es eine formale Operation nach Kleingruppenarbeiten, die anderen Mitglieder zu Ergänzungen aufzufordern. Aber da D4 hier explizit danach fragt, ob die Erfahrungen von allen geteilt werden, wird nach Kontrasterfahrungen gesucht. Mit der darauffolgenden Aussage von S1, dass dies die Meinung aller Gruppenmitglieder sei, stockt das Gespräch kurz. G1 interveniert und fordert S1 auf, Kriterien zu nennen. S1 wiederholt die vorherige binäre Differenz. S2, die nicht aus der gleichen Kleingruppe stammt, führt eine selbstreflexive kognitive Ambiguität ein. Sie relativiert den Beitrag von S1 in der Metaperspektive und bezieht sich hierbei auf die Verschiedenheit der Wahrnehmung des Muezzinrufs in Abhängigkeit von der Phonetik der Sprache. Zu der Positionierung P1 (lauter, dominanter Muezzinruf vs. schöne, autonomieerhaltende Glocken) von S1 und der von D4 ein-, aber nicht ausgeführten oppositionellen Positionierung P2 liegt nun vermittelnd meta-reflexiv P3 (Aggressivität ist die Wirkung aufgrund der fremden Sprache). In ihrem Beitrag schafft S2 den Raum dafür, dass z. B. auch Muslime legitimerweise die Glocken als laut und dominant erleben könnten. P2 selbst bleibt eine Lücke. P3 löst die Bindung der anderen Religionspraktik und deren negativer Bewertung nicht auf. Sie schafft aber durch den Perspektivwechsel eine symmetrische Ebene. S3 kann dann G1 um eine Innensicht bitten.
Diesem Wunsch kommt G1 nach. S2 hat mit ihrem Perspektivwechsel einen komparativen Schritt (grau hinterlegt) eingeleitet, den G1 mit einer bestimmten Strategie weiterführt, die zur Anreicherung der Studierenden führen könnte:
Zuerst stellt G1 eine Analogie her.
„Und so empfinde ich das auch in der Türkei.“
Damit gibt sie S1 bzw. allen Studierenden das Gefühl der Anteilnahme und des Verständnisses des störenden Muezzinrufes. Anschließend reichert sie ihre Erzählung mit einem persönlichen Erfahrungsbericht an und emotionalisiert ihr Reden.
„Da denkt man: ‚Oh Gott, was ist das denn? Wann hört das endlich auf?‘“
Dann führt sie die Studierenden in die Binnenperspektive und setzt die Differenz zwischen wohltuendem und furchtbarem Klang neu auf.
„Also ich liebe es zum Beispiel in Istanbul in der Nähe einer großen Moschee zu sein […] den Gebetsruf […] das spürʼ ich dann in meinen Zellen.“
So wie die Differenz nun gebaut ist, ist sie von der Religion gelöst und der Konnotation der Dominanz des aggressiven Anderen, das zu überwältigen droht. Die Differenz liegt nun in der Qualität wie der Ausführung der Religionspraktik.
„Diesen Unterschied, wie der Muezzin zum Gebet ruft.“
Das Andere scheint in sich differenziert. Am Ende des Beitrags steht das Angebot einer Lerngelegenheit, die Qualitätsdifferenz auch auf das Christentum und die Glockenfrage zu beziehen.
„Ähnlich wie bei den Kirchenglocken, weil ich es nicht erwarte.“
Die Studierenden könnten nun P2 selbst formulieren und damit die im Seminar angelegte Selbstbefremdung erreichen. Als P2 wäre z. B. möglich „Kirchenglocken sind nicht nur einfach schön, sie stören auch. Sie können sehr Unterschiedliches auslösen und erreichen.“ Die Leistung von G1 besteht darin, dass die in der Positionierung von S1 verschmolzenen Differenzen positive und negative Wirkung sowie vertraute und unvertraute Religion aufgebrochen und die Differenz positiv/negativ im Sinne eines Re-Entry auf beiden SeitenjederReligion – wie wir es aus Szene 1 kennen – wieder eingeführt werden. Die Studierenden nehmen weder das Angebot der eigenen Lerngelegenheit für P2 an, noch übernehmen sie die reflexive Dynamik. Die Irritation durch S1 ist durch die reflexive Mäßigung von S2 von G1 beruhigt worden. Diese Balance stabilisieren die Studierenden mit ihren religionskundlichen Fragen an G1 im Sinne einer Expertenbefragung weiter.
Zu erkennende Praktiken
i. Intervention bei unzureichenden Referaten
Die Studierenden erhalten von D4 das Rederecht zur Präsentation. Ergebnispräsentationen an Hochschulen sind keine einfachen Praktiken. Denn zum einen sollen sich Studierende hier als angehende Expert*innen erproben und können nicht folgenlos unterbrochen werden. Andererseits sind die Ergebnisse für den weiteren Lernprozess zu wichtig, um den Prozess einfach laufen zu lassen. Wie interveniert man, wenn die Präsentation nicht den gewünschten Ergebnissen entspricht, ohne die Praxis aufzuheben und eine Gegeninstruktion einzuleiten? Nun wird die problematische Differenzkopplung mit hoher Emotionalisierung in der Rolle der angehenden Expertise vorgetragen. Das Déjà-vu aus Szene 1 auf der inhaltlichen Ebene muss deshalb jetzt bearbeitet werden. Zum Moderationsrepertoire gehört hier die Intervention durch Fragen und Impulse. Unter der Annahme, dass die Lerngruppe heterogen ist und auch weniger problematische Differenzschemata vorhanden sind, gibt D4 mit einer spezifischen Nachfrage einen Impuls in eine andere Denkrichtung (vgl. Sperling & Wasseveld, 2002, S. 20). Die Intervention funktioniert aber nur, wenn Studierende auf der Metaebene schon wissen, wie mit Differenzen umgegangen werden soll und sich in Opposition zu S1 setzen.
ii. Studentisches Moderieren durch S2 und S3 (Rückzug von D4)
Das Statement von S2 moderiert zwischen S1 sowie der Intervention von D4 und eröffnet einen neuen Gesprächsraum, der noch Teil der Ergebnispräsentation dieser Gruppe ist und den die Kleingruppendiskussion auf höherem Niveau und mit neuer Expertise fortsetzt. Es ist folgerichtig, dass S3 D4 zuvorkommt und G1 in die Kleingruppe einlädt, die nun öffentlich diskutiert. Dieses Gespräch moderieren die Studierenden, D4 zieht sich zurück. Dieser Wechsel ist aus Moderationssicht von D4 angemessen (vgl. Sperling & Wasseveld, 2002, S. 20). G1 übernimmt im weiteren Verlauf die Rolle der Expertise und die Studierenden die Rolle der formalen Moderation.
Identifizierung des Faktors X
Der Faktor X ist in der zweiten Szene das Aufmachen einer binären, abwertenden Differenzsetzung. Wo in Szene 1 noch gut und schlecht sowohl dem Katholizismus als auch dem Islam zugeordnet wird, differenziert S1 hier, indem er den Katholizismus bzw. das Christentum klar als gut markiert und dem Islam das Schlechte zuschreibt. Differenzobjekt ist der Klang. Gerade die Diskussion in den Kleingruppen sollte nach D4 nicht zur weiteren Verstärkung von Differenzen führen, sondern die Differenzen zumindest zeitweise flexibilisieren. Einerseits ist es notwendig, solche Polarsierungen zuzulassen, andererseits unterlaufen sie letztlich das Seminarziel. Das Déjà-vu, das den unbearbeiteten Konflikt der ersten Szene zitiert, muss in dieser Phase von den Akteuren gemeinsam bearbeitet werden.
Anwendung von Strategien
Zu erkennen ist, dass die Differenzerfahrung koproduktiv durch S2, G1 und S3 auf das Gemeinsame umgeleitet wird. D4 bleibt an dieser Stelle außen vor und ist nicht an der Koproduktion beteiligt, aber provozierte mit der wiederholten latenten Intervention. Es sind dann vor allem S2 und G1, die mit der Ambiguität spielen. D4 braucht nicht zu intervenieren, da D4 den weiteren Verlauf des Gesprächs als erfolgreich beurteilt. Und wenn G1 eine Studierende wäre, wäre das auch offensichtlich der Fall. Auch die Äußerung von S2 lässt sich durch die Relationierung als kompetente Äußerung verstehen, genauso wie S3 durch die Intensivierung der Beziehung zu G1 eine angemessene Haltung zeigt. In diesem Geflecht geht aber unter, dass die problematische studentische Ergebnispräsentation durch eine reflektierte studentisch moderierte Expertenpräsentation ersetzt wurde.
Prämissen aus den Mindsets
Wie in Szene 1 löst die starke Positionierung und die Abwertung anderer Religionen bei D4 starke ablehnende und zugleich disziplinierte Resonanzen in ihrer Wortwahl, Mimik und Phonetik aus. P1 ist für einen Dialog problematisch und lässt nur Raum für Gegenabgrenzungen. Für den Dialog ist deshalb wieder eine geöffnete Situation herzustellen. Die Nachfrage von D4 lenkt die Studierenden allerdings nur minimal, da immer noch die Selbsterkenntnis der Studierenden im Vordergrund steht. Nachdem der Versuch dennoch gescheitert ist, lässt D4 eine Lücke, in der nun andere Akteure sich einbringen müssen, wenn sie am Erfolg des Seminars interessiert sind. In dieser Lücke übernehmen S2, S3 und G1 die Verantwortung, D4 kann sich zurückhalten, die Dynamik folgt einer Richtung, die scheinbar guter interreligiöser Lehre entspricht: Positionierungen lösen Dialoge aus, in denen es zur Begegnung kommen kann. D4 ist dafür verantwortlich zwischen den Akteuren Brücken zu bauen. Genau das ist gelungen.
Rückschau und Ausblick
Die studentische Differenzform wird in Szene 2 variiert. Nur wird in dieser Szene die Dichotomie nicht zwischen der guten privaten und der schlechten öffentlichen Religion, sondern zwischen dem guten Klang, welcher ausschließlich dem Christentum zugeschrieben wird, und dem schlechten Klang im Islam gezogen. Anders als in Szene 1 wird der aufgeworfene Konflikt an dieser Stelle bearbeitet – durch das Einschalten von G1. Das Andere wird in Form von G1 in den Raum hineingeholt und nach der Sitzung wieder entlassen (Wie wäre die Sitzung ohne G1 gelaufen?). Und schon in der Sitzung wird die Begegnung zum Austausch religionskundlichen Wissens genutzt, so dass eine eigene Positionierung, eine eigenständige komparative Reflexion nicht erfolgen muss. Damit weichen die Studierenden dem eigentlich angedachten Perspektivwechsel aus, der in dieser Sitzung am Beispiel von Zafer Senocak vollzogen werden sollte. G1 hat das Seminarziel stellvertretend für die Studierenden erreicht. Die Studierenden lassen sich von G1 entlasten. Im Austausch des religionskundlichen Wissens bleibt das Eigene das Eigene und das Andere wird personalisiert in der vertraut gewordenen Person G1. Das ist nicht wenig, unterläuft aber die Schärfe, die die Position von Zafer Senocak einbringen könnte.
2.4 Dritte Szene: Alle sind fremd
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In der sachkundlichen Diskussion (s. Szene 2) erteilt D4 S3 das Wort:
„Ja, vielen Dank. Ich wollte nur kurz loswerden was mir eingefallen ist, wie Paulus Heimat ähm definiert, also er schreibt ja unsere Heimat ist im Himmel und dass Glaubende eigentlich Fremde in der Welt sind und ich finde, das passt jetzt gut zu dem Thema (D4: „Hmh.“) also ähm, wie soll ich sagen? Das eben ähm, wie er schreibt unsere Heimat im Himmel ist, also dass der Glaubende sich vielleicht nicht unbedingt mit dem lokalen Ort zu tun hat, wo man geboren ist oder so, also eben einfach nur diesen den Aspekt auch nochmal mit einbringen finde ich also sehr spannend wie, was, wie Paulus die Heimat definiert für Glaubende.“
D4 nickt mehrfach. Auch G1 nickt nach dem Beitrag. D4 ergreift das Wort.
D4: „Hmh. Finde ich auch nochmal jetzt ihre ihre Idee sehr spannend, S3. Äh äh G1 hatte eben von einer Sehnsucht gesprochen. Äh mit der das Heimatgefühl verbunden ist und äh im Sinne Paulus wäre sozusagen die äh die Nähe zu Gott eben das Sein im im Reich Gottes, im Himmel äh dann die der Sehnsuchtsort und das ist die eigentliche Heimat und insofern sind wir alle Fremde hier. So äh lesen Sie dann auch Paulus?“
Während D4 redet, blickt sie nach rechts oben, dann nach links unten, dann wieder in die Kamera. G1 deutet ein Lächeln an und nickt leicht.
S3: „Genau, so versteh ich Paulus also als als Glaubende sind wir Fremde in der Welt. (D4: „Hmh.“) Also jetzt unabhängig, wo wir wohnen (D4: „Ja.“) oder leben oder geboren sind.
D4 nickt und lächelt. D4: „Dankeschön!”
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Nachvollzug der Interaktionsstruktur
Nach einer gewissen Zeit der Expertenbefragung geben die Studierenden die Moderationsrolle ab. D4 übernimmt diese wieder und erteilt S3 das Wort. Diese greift auf das religionskundliche Expertengespräch mit G1 zurück. Sie führt eine biblische Referenz ein, die die Differenzen noch einmal neu ordnet. Haben sich die ersten beiden Szenen zwar darin unterschieden, welche Religion bzw. was in den Religionen selbst fremd/vertraut bzw. richtig/falsch ist, so haben sie aber letztlich die binären Differenzen nicht hinterfragt. S3 egalisiert und überwindet nun die zuvor aufgeworfenen Gegensätze zwischen dem Anderen (Islam/schlechter Klang/öffentlicher Islam bzw. Christentum) und dem Eigenen (Christentum/guter Klang/privater Islam bzw. Christentum). Die gute Seite der Differenz ist mit dem Heimatbegriff belegt, die aber im Himmel und damit in der bestimmten Seite der Transzendenz (vgl. Welker, 1995, S. 59–63) verortet wird. Im Umkehrschluss ist jede Form in der Welt Fremdheit. Das ist für S3 Konsens der Glaubenden. D4 greift den Beitrag von S3 auf, wiederholt und expliziert die emotionale Sehnsucht nach Ganzheit, Richtigkeit, Vertrautheit. D4 vergewissert sich, dass die Aussage von S3 richtig zusammengefasst wurde und erhält die Bestätigung. Auch hier ist die binäre Differenz Heimat/Fremde gekoppelt mit der Differenz Himmel/Erde leitend, aber trotzdem ist die Resonanz von D4 und G1 und einzelnen Studierenden (Lächeln/Nicken) so, dass die in den Szene 1 und 2 aufgeworfenen kulturellen Differenzen durch eine Spiritualisierung, die S3 und D4 gemeinsam vollzogen haben, gelöst werden. D4 schließt den Zoom-Raum zufrieden.
Zu erkennende Praktiken
S3 nimmt nach der Befragung von G1 in die Ergebnispräsentation wieder auf und aktiviert damit auch D4 in der Moderationsrolle.
i. Isolierter Impuls
S3 bringt einen anderen Antwortbeitrag als S2 in Szene 2 auf die Frage von D4, ob es noch Ergänzungen gibt. Das Loswerden zeigt an, dass sie etwas ohne Aufforderung von sich gibt. Es ist nicht selbst in die vorherige und nachfolgende Kommunikation eingebunden. Sie rahmt ihren Beitrag in der Form eines isolierten Impulses; dieser kann immer kommen, er überlässt es aber den Zuhörenden, was man aus dem Impuls macht. Die selbstinszenierte Isolierung wird auch in der Ringstruktur deutlich, in der nach ortloser Verortung die These eingeführt und expliziert wird und S3 am Ende wieder bei der These endet. Die Umwelt muss nun entscheiden, ob der Impuls vergessen oder eingearbeitet wird.
ii. Verstärkendes Begleiten
Schon während S3 spricht, fällt auf, dass D4 aktiv bleibt und den isolierten Impuls mit einem sich durchziehenden „Hmh.“ begleitet. Hinzu kommt ein aufmerksames und sich wiederholendes Nicken, das sich von dem Nicken aus der ersten Szene unterscheidet. Dort erscheint es langsam und zögerlich, während es in dieser Szene mehrfach hintereinander und durch mimische Übertreibung explizit gesetzt ist. S3 wird darin bestärkt, den Gedanken einzubringen und auszudrücken. Sie erhält inhaltlich durch ein Lächeln nonverbale Zustimmung.
iii. Praktik des finalisierenden Einbindens
Dabei bleibt D4 aber nicht stehen und bindet den Impuls für die Ergebnissicherung weiter ein. Dabei werden zwei Praktiken gekoppelt: D4 paraphrasiert die Aussage und reichert sie so an, dass erstens ein Link zum Redebeitrag von G1 in Szene 2 und damit zur Differenzarbeit entsteht und dass zweitens der Impuls nun die Lerngruppe selbst betrifft. Wo S3 noch von Glaubenden als Fremde auf der Welt spricht, Paulus als christliche Bezugsnorm nimmt und den biblischen Bezug isoliert darstellt, sind es bei D4 konkret „wir alle [als] Fremde“ und die generelle vereinende Sehnsucht nach Gottesnähe. D4 nutzt den an sich isolierten Impuls als gemeinsame Zielrichtung, die die Differenzen so abmildert (vgl. Sperling & Wasseveld, 2002, S. 22), dass andere Positionierungen nicht mehr als emotionalisierte Bedrohungen des Eigenen wahrgenommen werden müssen.
iv. Praktik der Rückversicherung/Bestätigung
D4 achtet darauf, dass die angereicherte Paraphrasierung kein Gegenimpuls ist, sondern eine Resonanz auf den Impuls. Deshalb endet die Aussage auch konsequent mit einer Frage, die sich rückversichert, ob der Impuls richtig aufgenommen wurde: „[…] So äh lesen Sie dann auch Paulus?” S3 bestätigt dies. Aus der Sicht von Unterrichtspraktiken zeigt sich hier eine unterrichtstypische Impuls-Reply-Feedback-Struktur sowie die damit verbundenen Rollenasymmetrien bzw. Rederechtsverteilungen (vgl. Mehan, 1979, S. 285–294), nur dass sie in vertauschten Rollen ausgeführt wird. Dieser Rollenwechsel passt zur Moderationsaufgabe in der Ergebnispräsentation.
Identifizierung des Faktors X
Der hier beschriebene dichte Moment der dritten Szene sticht durch einen unerwarteten biblischen Bezug hervor, fügt sich aber in die Gesamtkomposition der Seminarsitzung, was bei der Betrachtung des Zusammenhangs der drei Szenen deutlich wird. Nach der Expertenbefragung von G1, die sich an kulturellen Bräuchen und Riten orientierte, folgt religiöse Rede. Aufmerksamkeit erregt hier nicht der biblische Bezug an sich, sondern die Kontextlosigkeit.
Anwendung von Strategien
D4 bietet der Beitrag von S3 die Möglichkeit, das religionskundliche Gespräch zu stoppen und differenzauflösend umzulenken. Die Strategien der Differenzflexibilisierung stehen am Ende als legitime Form da. Die anderen beiden Stereotypen verstärkenden Statements sind darin nicht aufgehoben, erhalten kein direktes Feedback und bleiben stehen. Dass die drei Statements hierzu in sich nicht übereinstimmen, wird nicht geklärt. Auch die Stärken und Schwächen der Flexibilisierung oder deren Nähe zu komparativen Reflexionsmustern der anreichernden Perspektivenverschränkung zwischen den beteiligten Überzeugungssystemen werden nicht explizit gemacht. Die Flexibilisierung an sich ist schon legitimes Ziel. Durch die studentische Umlenkung auf das Gemeinsame und Verbindende stehen nicht länger die Differenzen im Mittelpunkt. D4 weitet in der Antwort auf den Vorschlag von S3 die Thematik aus und macht sie religionsplural anschlussfähig.
Prämissen aus den Mindsets
Bezieht man die Szene nun auf die Prämissen aus dem Mindset guter Lehre von D4, so wird deutlich, wie entscheidend es an dieser Stelle ist, dass es die Studierenden selbst waren, die die Lösung für das aufgeworfene Problem gefunden haben (Selbstkonstruktion). Die aufgeworfene Differenz muss nicht instruktiv von D4 bearbeitet werden, sondern wird durch den spiritualisierten Beitrag von S3 aufgelöst und versöhnlich zu Ende gebracht. Diese Versöhnung geht nur durch den Dialog, der Differenzen und widersprüchliche Positionierungen aushalten muss. Die Bedeutung von Perspektivwechseln zeigt sich in der didaktischen Anlage der Sitzung. In den konkreten Szenen vollziehen vor allem die Studierenden, die eine Flexibilisierung vornehmen, solche Perspektivwechsel. Die Studierenden mit den eher stereotypen Vorstellungen sind dafür die Medien.
Rückschau und Ausblick
Szene 3 ist davon geprägt, Unterschiede zu überwinden – daran arbeiten S3 und D4 gemeinsam. Die aufgeworfene Differenz aus Szene 1, die Zuspitzung in Szene 2 und das anschließende Frage-Antwort-Spiel suchen ein Ende. Dieses Ende wird durch den transzendenten Bezug von S3 herbeigeführt. S3 egalisiert über den Himmel als Sehnsuchtsort die Differenz von Fremde und Heimat. Damit werden die kulturell-religiösen Differenzen aus Szene 1 und 2 spiritualisiert. Von Szene 3 aus gesehen wird deutlich, dass D4 die ganze Sitzung sehr aktiv und steuernd ist, selbst wenn sie als Lehrende unsichtbar wird oder formal den Studierenden die Steuerung überlässt. D4 unterscheidet in der spontanen Resonanz und auch im weiteren didaktischen Umgang genau zwischen normativ richtigen und unzureichenden Vorstellungen. Entscheidend ist das friedliche Miteinander, das auch die Studierenden (S1 und S4) mit eher starren Differenzmustern nicht gefährden.
2.5 Gegenstandsbezogene Differenzorganisation über alle drei Szenen hinweg
Die drei dichten Momente der Sitzung sind zwar verstreut, aber rufen sich gegenseitig auf. In allen drei Szenen sind es die Studierenden, die mit wenig Emotionen verbundene Lehrsituationen unerwartet und aus dem Nichts anheizen und das Differenzschema in zwei Richtungen entwickeln: a) starke Differenzkopplungen von S4 und S1, die eine Religion oder Religionsform emotional abwerten, und b) Differenzflexibilisierungen von S2, G1 und S3, die in sich inkonsistent sind, sich aber alle darin einig sind, die Position des anderen stehen lassen zu können. Am Ende bleiben die Flexibilisierungen als Ziel stehen, die stereotypen Schemata sind Medien dieser Flexibilisierung, ohne dass sie direkt abgelehnt würden. Der mit der Flexibilisierung im Rahmen der komparativen Bewegung der ganzen Seminarsitzung angeregte Perspektivwechsel in die andere Religion ereignet sich in Ansätzen – auch in dem religionskundlichen Gespräch –, die Lerngelegenheit für den eigenen Glauben wird nur protagonistisch von S2 und S3 ausgeführt.
Das von Mendl (vgl. Mendl, 2017, S. 106–118) erhobene Konstrukt der emotionslosen Indifferenz der Studierenden zeigt sich hier nicht. Sowohl die differenzschematisierenden Beiträge als auch die flexibilisierenden Beiträge dokumentieren die Bereitschaft, sich zu positionieren und über das wenig aussagekräftige Statement „Ich toleriere andere Religionen“ hinauszugehen. Daran hat D4 einen erheblichen Anteil. Die komparative Anlage, der provozierende Grundlagentext, die Offenheit auch fachlich schwierige Differenzformen auszuhalten und die Verfahrensorientierung an der Moderation, sind hervorragend geeignet, um Dialoge zu eröffnen und differenzorientiert am Laufen zu halten. Gerade die in der Professionalisierungsform von D4 angelegte Zurückhaltung, nicht direkt autoritär auf die Provokationen zu reagieren, sondern am Verfahren festzuhalten (vgl. Reis & Hasenberg, 2022), sorgt für Zugzwänge bei den Studierenden.
Diese Lehre ist vom Gegenstand, seiner Modellierung in der Komparativen Theologie geprägt, die stark auf Prozesse des reflektierten Perspektivwechsels setzt (vgl. Reis & Potthast, 2017, S. 85–105). D4 gehört damit zu der Gruppe der Lehrenden, die das interreligiöse Lernen an der Hochschule vom Gegenstand her konzeptionieren (vgl. Reis & Hasenberg, 2022). Die Professionalisierung wirkt sich hier so aus, dass D4 in der Moderationsrolle die Form findet, um sich zu mäßigen (moderare [lat.] » mäßigen, beruhigen): D4 dämpft die eigene Biografie, die Emotionen und das eigene Präkonzept zur religiösen Pluralität ab, um Raum für die studentischen Positionierungen und Aushandlungen zu lassen. Die starke Verfahrensorientierung hilft dabei, in der Seminarplanung den Zielpunkt einer Flexibilisierung stereotyper Vorstellungen der eigenen und der anderen Religion zu erreichen. Die Lernbewegung braucht eine Repräsentation des Anderen im Raum. Dabei ist weniger der Text von Senocak entscheidend als die Anwesenheit von G1. Dieses Lehrkonzept lässt auch genügend Ambiguität zu, die immer wieder in neuen Schüben das gemeinsame Differenzmanagement vorantreibt. Was diese spezifische gegenstandsorientierte Form der Moderation weniger leistet, ist der Aufbau systematischer Wissenskomplexe – ist vom Mindset guter Lehre für D4 aber auch nicht entscheidend –, die inhaltliche Sicherung der Ergebnisse – im Sinne einer Konsistenzprüfung der verschiedenen Flexibilisierungen und der Bearbeitung der schematisierenden Differenzmuster – und die Wahrnehmung, was die Situation differenzverstärkend für G1 bedeutet, auch wenn oder gerade weil sie in der Lösung mitinkludiert wird.
3 Charakteristika weiterer Lehrorte
Die herausgearbeiteten Kriterien können – wenn man die konkrete Ausformung abstrahiert – auch auf die anderen Lehrorte angewendet werden, um Tendenzen interreligiöser Veranstaltungen aufzuzeigen.
3.1 Lehrvideo 2
Verfahrensorientierung: In Lehrvideo 3 erfolgt eine konsequente Orientierung am hochschuldidaktischen Konzept des Problem-based-learning (PBL). Im Semester werden verschiedene Fälle behandelt, die die Studierenden selbst auswählen. Die Bearbeitung des Fallbeispiels folgt einem festgelegten Schema. Lediglich der Rahmen des Seminars wird von D3 festgelegt, sodass der Arbeitsprozess von den Studierenden selbst übernommen werden kann.
Differenzmanagement: Inhaltliche Differenzen oder Konflikte bleiben von D3 unkommentiert. Nur bei organisatorischen Fragen oder Verständnisfragen wird D3 direkt adressiert. Die Verantwortung zum Umgang mit aufgeworfenen Differenzen liegt bei den Studierenden. Stereotype Schematisierungen treten nicht auf, stattdessen die Tendenz zu emotionsloser Flexibilisierung im Religionspluralismus.
Das Andere: Die Studierenden holen das Andere über die konkreten Fallbeispiele medial in den Raum. Konflikte werden eher kognitiv angesprochen und sind weniger mit eigenen Positionierungen verbunden.
Ambiguität: In der Durcharbeitung der PBL Methode wird die aufgeworfene Ambiguität zu einer Sicherheit durch Wissen umgewandelt, was am Ende des Fallbeispiels steht.
3.2 Lehrvideo 3
Verfahrensorientierung: In diesem Seminar führen D5 und D6 ausgehend von einem konkreten Fall die Strukturen immer enger in Richtung theoretischer Grundlagen. Der scheinbar offene Raum zu Beginn der Sitzung läuft am Ende auf ein klares Ziel hinaus.
Differenzmanagement: Differenzen werden von den Dozierenden direkt sortiert und Begrifflichkeiten instruktiv bearbeitet. Als Beispiel ist hier die präzise und wiederholte Unterscheidung zwischen Kultur und Religion zu nennen. Die Studierenden verursachen durch ihre Passivität oder fachlich unzureichenden Aussagen unabsichtlich Unruhe. Am Differenzmanagement sind sie allerdings nicht beteiligt.
Das Andere: Die Dozierenden verstehen sich als Anwälte des Anderen außerhalb des Raumes und es scheint so, als müssten sie das Andere gegenüber vereinfachenden, aber nicht stark auf religiöse Differenzen zielende Anfragen der Studierenden verteidigen.
Ambiguität: Ambiguität erleben wir in diesem Seminar nur bei den Lehrenden selbst, von den Studierenden wird dies nicht übernommen.
3.3 Lehrprofile
Während bei Lehrveranstaltung 2 die Verfahrensorientierung an der hochschuldidaktischen Lehrform die Arbeit am Gegenstand dominiert, koppelt Lehrveranstaltung 3 hochschuldidaktische Kleinformen und unterbricht diese für gegenstandbezogene, dann aber instruktive und differenzstarke Momente. Diese fehlen in Lehrveranstaltung 2 und wenn dann entstehen sie dadurch, dass auf Ansätze inhaltlicher Spannungen verfahrensbezogene Interventionen folgen. Mit Blick auf die Unterscheidung von Reis und Hasenberg (2022) verstärkt die Professionalisierung von D3 die Distanz und die persönliche Zurücknahme, was Raum für die Studierenden und deren Lernprozess lassen soll. Doch wirkt dieser Lernprozess selbst sehr distanziert zum Gegenstand. Orientierung am Kontext Hochschule und die Professionalisierung verstärken sich gegenseitig. Dabei sind die religiösen Differenzen im Raum, sie werden aber didaktisch routiniert weggearbeitet. In Lehrveranstaltung 3 gibt ebenfalls die didaktische Grundstruktur die Rahmung vor, aber die Gegenstandsorientierung bricht sich ab und zu Bahn, wenn die Studierenden die geplante Linie verlassen oder differenzbezogene Fehler machen. Anders als in Lehrveranstaltung 1 ist das kokonstruktive Differenzmanagement aber nicht eindeutig angelegt, so dass sich die Studierenden ähnlich wie bei Mendl (Jahreszahl ?) durchaus emotional indifferent verhalten können. Nach der bisherigen Auswertung ist es nur in der Lehrsituation 1 möglich, die für das interreligiöse Lernen so wichtige Ambiguität zu erfahren (vgl. Meyer, 2019, S. 16).
4 Ertrag der Untersuchung
Setzt man die Ergebnisse dieses Teilprojekts in Zusammenhang mit dem vorherigen Projekt zur Lehrveranstaltungsanalyse, so fällt auf,
dass erstens in allen Lehrveranstaltungen deutliche didaktische Strukturen die Sitzung formen;
dass zweitens diese didaktischen Strukturen durch die Professionalisierung als Element des Mindsets guter Lehre tief in das Selbstverständnis der Lehrenden eingeprägt sind;
dass drittens die stark instruktive und wissensorientierte Lehrform kaum zu beobachten ist;
dass viertens die durchgängige Dialogorientierung auf der Mindsetebene hier durch die didaktischen Strukturen und den Anspruch des professionellen Lehrens geordnet wurde;
dass fünftens die gegenstandsorientierte Lehre dichte Momente zulässt und in/mit der Verfahrensorientierung auf differenzbezogene Dialoge organisieren kann;
dass sechstens diese Art der interaktionalen Auseinandersetzung mit den anderen Religionen trotzdem auch die typischen Mechanismen der Hochschullehre wahrt, dass Äußerungen freiwillig blieben oder dass Positionen nicht direkt angegangen werden;
dass siebtens Studierende weiterhin ein klares Bedürfnis nach Wissen äußern. Hier kann die Annahme erst Instruktion, dann Dialog (vgl. Wenzl, 2014, S. 15–43) erneut bestätigt werden;
dass achtens wissensorientierte Lehreinheiten (Lehrsituation 2 und teils 3) nicht mit der personalen Ausrichtung (Lehrsituation 1 und teils 3) zusammengehen, sondern additiv bleiben.
Im Vergleich zum Vorgängerprojekt kommen starke und explizit bearbeitete Differenzen in dieser Lehre vor und werden gezielt in didaktischen Verfahren gemanagt. Aber immer noch bleibt spürbar, wie Studierende und Lehrende an der Universität durch differenzstarke Beiträge von Studierenden oder Lehrenden verunsichert und herausgefordert sind. Der starke Professionsbezug markiert genau diese Verunsicherung (vgl. Reis & Hasenberg, 2022). Wo im letzten Projekt noch eine Passivität der Studierenden, ein Gespräch auf Metaebene und eine Steuerung durch den oder die Dozierende*n dominant waren, so sind es jetzt die Studierenden selbst, die Varianz in die Seminarsitzung bringen und geladene Momente erzeugen. Die Lehrperson lässt den Studierenden diesen Raum und setzt sich den mitgebrachten Differenzerfahrungen der Studierenden offen aus, reagiert aber jeweils abhängig von ihren Mindsets religiöser Pluralität und guter Lehre und ihrer Vorstellung von Professionalität anders. Die analysierten exemplarischen Sequenzen der Lehrveranstaltungen verweisen darauf, dass auch in der christlichen Religionslehrer*innenbildung je nach Profil der Lehrenden eine differenzstarke Auseinandersetzung im erkenntnisorientierten Dialog nicht einfach vorausgesetzt werden kann. Auch hier zeigen die unterschiedlichen Ausformungen der Kriterien, dass die Lehrenden sehr unterschiedliche Lernanlässe bieten, die in ihrer Passung zu den curricularen Rahmungen Unterschiedliches leisten.
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Dr. Dr. Oliver Reis, Professor für Religionspädagogik unter besonderer Berücksichtigung von Inklusion am Institut für Katholische Theologie der Universität Paderborn
Katharina Saß, Wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Religionspädagogik unter besonderer Berücksichtigung von Inklusion am Institut für Katholische Theologie der Universität Paderborn
Marius Borchert, Wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Praktische Theologie und Religionspädagogik am Institut für Evangelische Theologie der Universität Osnabrück