„Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.“
(Paulus, 1.Kor 13,11–12).
1 Positionierungen
1.1 Erste Positionierung: Unser Reden von Gott wird immer Stückwerk sein und bleiben
Den zitierten Worten des Paulus werden wohl die meisten zustimmen: Unser Reden von Gott kann immer nur Stückwerk sein. Unsere Gedanken und Worte, unsere Dialoge und Diskussionen, unsere Erklärungen und Bücher sind immer nur Annäherungen an den oder die oder das, der, die und das wir mit Gott und unsere arabisch sprechenden Geschwister mit Allah bezeichnen. Und auch wenn wir nach Bultmanns Diktum von Gott nur im Modus der Rede vom Menschen reden können, bleibt unser Reden und Denken Stückwerk, unvollendet und immer im Modus des Suchens.
Unser Reden von Gott wird so lange vorläufig bleiben, wie wir von Gott reden als dem oder der, die abwesend ist. Christian Lehnert schreibt treffend: „Wenn Gott anwesend sein wird, braucht es keine Kirche mehr“ (Lehnert, 2017, S. 20–21). Und ich ergänze: Wenn Gott anwesend sein wird, dann braucht es keine Theologie mehr, dann braucht es nicht mehr unsere Dialoge und Diskussionen, unsere Aufsätze und Tagungen und Bücher. Oder um es mit Nikolaus von Kues zu sagen: Wir kommen bei unserem Theologisieren nicht über die „docta ignorantia“, die „belehrte Unwissenheit“, hinaus.
Im Blick auf eine pluralistische Religionspädagogik ist mir diese Vorbemerkung (1.) wichtig im Blick auf die in meinen Augen für die Geisteswissenschaft der Theologie notwendige Demut. Die Demut braucht es, damit ich meine Ideen und Gedanken, meine Ergebnisse und Bücher nicht absolut setze und mir immer bewusst bleibt, dass Gott sich als Objekt des Nachdenkens sowie auch des Lehrens und Lernens unserem Bemühen immer entzieht – und entziehen wird, solange wir so Theologie treiben, wie wir es heute tun (müssen).
Zugleich ist mir (2.) die Weite des Denkens wichtig, da es mir gerade die Bruchstückhaftigkeit der göttlichen Erkennbarkeit erlaubt, Gott über die eigenen Deutungskategorien und fremden Deutungshoheiten hinaus zu denken. Es wirkt befreiend, gerade eingedenk der eigenen docta ignorantia Gott umso größer denken zu können. Das impliziert dann auch offen zu sein für Spuren Gottes an anderen, fremden Orten – denn das haben alle Religionen gemein, dass sie Gotteserfahrungen und Gottesgedanken suchen und nur Spuren finden: Eine „Spur gibt es nur dort, wo etwas fehlt“ (Lehnert, 2017, S. 21) und theologische Zeugnisse sind wie „Fährte[n] im Schnee – flüchtiges Zeugnis eines anwesend-abwesenden Gottes“ (Lehnert, 2017,S. 20–21).
In der islamischen Tradition ist die Unterscheidung zwischen den bekannten 99 Namen Gottes und den darüber existierenden unbekannten Namen Gottes Ausdruck einer Demut gegenüber der Erhabenheit Gottes und seiner bleibenden Unergründlichkeit, was die vollständige Kenntnis der Namen Gottes verbietet (vgl. dazu z.B. Cornille, 2013, S. 22).
Gott in diesem Sinne auch in anderen Religionen zuzulassen und auch die zunächst fremden Vorstellungen existent sein zu lassen, diese fremden Vorstellungen nicht nur zu tolerieren, sondern ehrlich offen zu sein, die Spuren in anderen Religionen auch als mögliche göttliche Selbstbekundungen wahrzunehmen und anzuerkennen – das sehe ich am plausibelsten und am besten gegeben in einer pluralistischen Haltung gegenüber der eigenen und allen anderen Religionen.
1.2 Zweite Positionierung: Wider den Einwand der Megatheorie oder der Vogelperspektive
Sehr oft begegnet mir im Blick auf eine pluralistisch konzipierte Religionspädagogik der Einwand, dass deren Vertreter*innen eine Metatheorie schaffen würden mit der Rede von der (einen) transzendenten Wirklichkeit oder Gott als letzter Wirklichkeit, Gott als „The Real“ (John Hick). So ist die pluralistische Theologie der Religionen für Friedrich Schweitzer „höchst umstritten“: „Als eines der zentralen Argumente aus der kritischen Diskussion sei hier nur darauf verwiesen, dass die pluralistische Theologie der Religionen im Sinne Hicks und Schmidt-Leukels so etwas wie eine ‚Gott-Perspektive‘ für sich in Anspruch nehmen muss. Denn wie sonst könnte man wissen, dass es eine transzendente Wirklichkeit ‚an sich‘ überhaupt gibt? … Wie ließe sich ohne eine ‚Gott-Perspektive‘ feststellen, dass die verschiedenen Religionen auf dieselbe Wirklichkeit verweisen?“ (Schweitzer, 2014, S. 99–100). Und Reinhold Bernhardt bemerkt im Diskursband zu „Dialog und Transformation“: „Mit dem apriorischen Postulat einer letzten Einheit werden die grundlegenden Unterschiede der Religionstraditionen ‚hintergangen‘“ (Bernhardt, 2022, S. 156).1 Und Katja Boehme schreibt im selben Band: „Insofern erweisen sich Pluralisten als voreingenommen, denn noch bevor ein Dialog überhaupt stattfindet, wird vorausgesetzt, dass alle Religionen gleich sind und sich auf ein und dasselbe religiöse Fundament zurückführen lassen“ (Boehme, 2022, S. 247).
Letztlich wird hier ein Vorwurf laut: ein apriorisches Vorurteil mit einer impliziert falschen Perspektive. Natürlich gehen dem geschriebenen Buch mit seinen Konklusionen und der Darlegung einer Theorie das Denken und der Dialog voraus. Wie sollte es auch anders sein? Aber auch der Exklusivist oder der Inklusivist geht vorbereitet in den Diskurs, hat seine Theoriebildung vorangetrieben und bringt diese ins Gespräch ein! Das trifft auf alle von uns zu.
Wenn es denn stimmt, dass Gott größer ist, als es jede religiöse Tradition je spezifisch bekennt und bekennen kann, und wenn es stimmt, dass jede Religion eine in sich plausible Manifestation des immer noch größer seienden Gottes darzustellen und zu vertreten beansprucht, und wenn es möglich ist, diese religiösen Positionen aus den Traditionen der unterschiedlichen Religionsgemeinschaften wahrzunehmen, zu reflektieren und sich dabei selbst als Teilfamilie der Großfamilie der Religionen wahrzunehmen, dann ist es doch kein verwerfliches oder mit Hybris behaftetes Wagnis, den überall das eigene Vorstellungs- und Artikulationsvermögen übersteigenden und größer geglaubten Gott als transzendente Wirklichkeit zu denken, die als uns letztlich unbekannte Größe auch in allen anderen Religionen wirkend existent sein kann. Dabei nehme ich in keiner Weise zwingend eine Vogelperspektive oder „Gott-Perspektive“ (s.o.) ein: Ich wage es einfach nur, Gott als die Inklusivität schlechthin zu denken.Alle Rede von Gott ist und bleibt notwendigerweise eine Theorie: Von ihrer Herkunft her ist jede Theorie (ἡ θεωρία) vom altgriechischen θεωρέειν / θεωρεῖν her ein Beobachten, ein Betrachten und ein Anschauen, eine wissenschaftliche Betrachtung der Wahrheit durch reines Denken. Einer solchen Theoriebildung bedienen sich nicht nur pluralistisch denkende Theologinnen und Theologen: Die Ausführungen Eberhard Jüngels in „Gott als Geheimnis der Welt“ produzieren auf ihre Art und Weise auch eine Metatheorie über Gottes Wirken in der Welt. Und überhaupt: Vertreten nicht die Theologien, die dem Exklusivismus oder dem Inklusivismus zuzuordnen sind, sehr viel stärker eine Theologie von oben und ein „apriorisches Postulat“ (Bernhardt, 2022, S. 156), da sie ja vorgeben zu wissen, dass allein ihre Religion seligmachend ist oder zumindest so heilsvoll ist, dass alle anderen Religionen dereinst einmal in ihnen aufgehen werden? 2 Auch eine pluralistische Haltung basiert auf Hypothesen. Das ist eine Hypothek, die allerdings vielen theologischen und normativ daherkommenden Aussagen gemein ist.
2 Pluralistisch theologisieren eröffnet neue Denkräume – Motivationen
2.1 Gottes Inklusivität entdecken und zulassen
Die Überzeugung, dass Gott über den Religionen steht und allein Gott vollkommen ist und keine der Religionen, führt Ephraim Meir zu dem programmatischen – und zugegebenermaßen steilen – Satz: „Göttliche Inklusivität untersagt religiöse Exklusivität“ (Meir, 2016, S. 44). Gott inklusiv zu denken erschließt sich aus der Überlegung, dass Gott die Größe und Wirklichkeit abbildet, über die hinaus weitere Transzendierungen nicht möglich sind, soll die mit „Gott“ benannte Größe die transzendente Instanz schlechthin – d.h. schlicht Gott – bleiben. Und von daher wird diese alle Transzendierungen inkludierende Größe im Deutschen mit den etymologisch nicht sicher zu erklärenden vier Buchstaben /GOTT/ als „Gott“ oder arabisch als „Allah“ oder als die letzte Wirklichkeit oder – mit Hick – schlicht als „The Real“ oder wie auch immer bezeichnet. Aber was sollte daran nicht legitim sein?
Diese Inklusivität Gottes, die nicht zu verwechseln ist mit dem religiösen Inklusivismus in der Debatte um die Religionstheologie, eröffnet neue theologische Perspektiven (vgl. zum Folgenden auch Obermann, 2020, S. 359–364): So kann beispielsweise das traditionell exklusiv gedeutete „Erste Gebot“ (Ex 20,3; Dtn 5,7) als Wort gedeutet werden, das die Konzentration auf Gott anmahnt, ohne andere Götter auszuschließen. Auf diese Fährte führt die Übertragung Martin Bubers: „Nicht sei dir andere Gottheit mir ins Angesicht“ (Ex 20,3; Dtn 5,7). Bubers Übertragung entspricht dem hebräischen Grundtext (Ex 20,3; Dtn 5,7) und dem schwierig zu übersetzenden
עַל־פָּנָֽ֗י
לֹ֣א יִהְיֶ֥ה־לְךָ֛֩ אֱלֹהִ֥֙ים אֲחֵרִ֖֜ים עַל־פָּנָֽ֗יַ׃
Die Septuaginta folgt in Dtn 5,7 dem Hebräischen Text im Sinne Bubers, während Ex 20,3 mit πλ́ην (außen oder über) das traditionell exklusive Verständnis wiedergibt:3
οὐκ ἔσονταί σοι θεοὶ ἕτεροι πρὸ προσώπου μου. (Dtn 5,7)
οὐκ ἔσονταί σοι θεοὶ ἕτεροι πλ́ην (Ex 20,3)
Im Hebräischen und bei Buber geht es nicht um ein „neben“ der Götter wie beim traditionellen „Du sollst keine Götter neben mir haben“. Es geht vielmehr um ein „zwischen“ der Götter - d.h. Götter und andere Entitäten, die zwischen mir und Gott stehen. Metaphorisch ist dabei ein Gegenüberstehen vorausgesetzt. Es geht also um die ausschließliche Beziehung und Hinwendung des „Du“ zu seinem Gott. Oder anders gesagt: Nichts soll mir im Gegenüber zu Gott im Wege stehen – und dazu zählen eben auch andere Götter. Diese je eigene - subjektive und damit auch „exklusive“ – Fokussierung des „Du“ auf seinen Gott schließt nun aber gerade andere subjektiv „exklusive“ Fokussierungen nicht aus: Meine eigene – subjektiv „exklusive“ – Fokussierung auf Gott als die einzige Form zu postulieren, wäre vermessen angesichts der Unbegreifbarkeit, Unsichtbarkeit und Unaussprechbarkeit Gottes.
In einem Gespräch über diese Auslegung nannte Ephraim Meir sie eine kreative mögliche Interpretation im Kontext einer „kontinuierlichen Interpretationskette“ (Meir, 2016, S. 173). Mouhanad Khorchide betont, dass es im muslimischen Glaubensbekenntnis bewusst negativ heiße, „dass es keine andere Gottheit gibt, außer dem einen Gott.“ Das Glaubensbekenntnis ruft damit seiner Auffassung nach auf Befreiung von allem, was unseren „freien Blick [auf Gott; A.O.] einschränkt und uns abhängig macht“ (Khorchide, 2014, S. 24). Die von mir vorgetragene inklusiv-weite Auslegung des ersten Gebotes findet Resonanzräume innerhalb der monotheistischen Religionen.
Die Überzeugung meines Nachbarn, in seiner Tradition gleichermaßen wie ich vor dem einen Gott zu stehen, erschließt sich mir nur im Glauben und Vertrauen. Nikolaus von Kues hat diese Dimension des Ersten Gebotes in seinem 1453 verfassten Werk „De Visione Dei“ seinen Schülern am Beispiel des Alles-Sehers demonstriert: Der Alles-Seher - „imaginem omnia videntis“ - (Kues, 2002,S. 94) ist eine Person in einem Bild, das seinen Betrachter immer anschaut, egal von welcher Seite dieser sich dem Bild nähert. Von Kues ließ nun seine Schüler im Halbkreis um das Bild aufstellen und fragte sie, welchen von ihnen der Alles-Seher angucke. Alle antworteten: „Mich.“ Danach ließ er sie alle von beiden Seiten je auf das Bild zugehen. Dabei sollten sie beobachten, ob der Alles-Seher sie die ganze Zeit angucken würde. Und wenn sich die Wege von zwei Schülern trafen, sollten sie sich jeweils bestätigen, dass der Alles-Seher sie die ganze Zeit angesehen habe. Auch jetzt konnten alle Schüler das nur bejahen! Keiner habe, so resümierte Kues, mehr als die je mündliche Bestätigung des anderen – und der könne man nur glauben, dass es wahr sei, dass der Alles-Seher alle immer zugleich gesehen habe. So wollte Kues demonstrieren, dass Gott alle Menschen zugleich ansehe. Diese Gemeinschaft in verschiedener Perspektivität kommt dem Einzelnen nur im Modus des Glaubens zu, sofern sich Gott im Anderen nur erschließt, wenn ich den Anderen als glaubwürdigen Zeugen seines Gottessehens anerkenne. Erst die Existenz des Anderen eröffnet in der ausschließlichen Hinwendung zu Gott die Spezifität der eigenen Gottesbeziehung wie auch die Erfahrung von Gemeinschaft in Verschiedenheit.
2.2 Gottes Inklusivität eröffnet Räume neuer Beziehungen und Gemeinschaften
Gottes Inklusivität im Sinne Martin Bubers in Beziehung zu denken verhindert, den göttlichen Beziehungsreichtum durch menschliche Grenzziehungen bzw. Exklusivitäten einzuschränken. Gott als Beziehungsgeschehen hält vielmehr im Spannungsfeld von Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Religionen für alle religiöse Menschen den gemeinsamen Fokus auf den einen Gott offen: Wo Gott nicht mehr im Beziehungsreichtum von „Ich“ und „Du“ erfahrbar wird, da geht auch der Kontakt zum mitgläubigen und andersgläubigen Menschen verloren. Gottes inklusiver Beziehungsreichtum bewahrt davor, Gott zu einem reinen Objekt unserer Gedanken zu machen. Gottes beziehungsreiche Inklusivität setzt die Offenheit einer Gemeinschaft mit allen religiösen – und nichtreligiösen – Menschen gewissermaßen konstitutiv aus sich heraus.4
So konstituiert sich in versöhnter Verschiedenheit eine inter- und transreligiöse Gemeinschaft in dem Bewusstsein, bei je eigener unzulänglicher Gotteserkenntnis doch eine Manifestation des Heilswillens des einen Gottes zu sein, Allahs oder einer wie auch immer benannten Transzendenz. In unserem Diskussionspapier sprechen wir hier von einem „neuen Wir“, das sich im gemeinsamen aufeinander Hören und miteinander Erörtern auch als „third space“ erweist. Wir nennen diesen Raum auch „multioptischen“ Ort, an dem die Schüler*innen ihre unterschiedlichen Perspektiven auf Gott bzw. die alle Wirklichkeit übersteigende Transzendenz kritisch-konstruktiv ins Gespräch bringen können.
Das hat unweigerlich Konsequenzen für den realen Religionsunterricht: In einem dialogisch-pluralistisch angelegten Religionsunterricht ist die Zugehörigkeit eines Ich nicht nur die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft, sondern auch die Zugehörigkeit zur pluralen Lerngemeinschaft der Klasse insgesamt. In dieser Lerngemeinschaft sind religiös Andere kein „Es“, sondern die Gruppe spricht mit religiösen Anderen zu einem „Du“. Die Schüler*innen sind als Gesamtgruppe ein „Wir“: So sind in der Lerngruppe einige von uns Jüdinnen und Juden, einige von uns Muslime und Muslimas, einige von uns sind Christen und Christinnen, einige sind nichtreligiös usw. In einer solchen Perspektive ist Zugehörigkeit zunächst einmal Zugehörigkeit zu einer spezifischen Teillerngruppe, aber auch zu der weiter gefassten Gemeinschaft der dialogisch Lernenden als Gesamtgruppe. Dieses gemeinschaftliche „Wir“ ist ein Ergebnis dialogischer Lernprozesse. Hierin liegt ein nicht zu unterschätzender Beitrag zur gesellschaftlichen Integration (Inklusion) aller Menschen – eine Befähigung, die die EKD und andere als „Pluralitätsfähigkeit“ benennen.
Diese Gedanken haben eine ethisch-religionspädagogische Konkretion: Gert Pickel unterscheidet jüngst im „Deutschen Pfarrerblatt“ (2022) zwischen „monoreligiösen“ und „transreligiösen“ Einstellungen von Gläubigen. Während die monoreligiös eingestellten Gläubigen auf die „eigene religiöse Gemeinschaft und die Grundlagen des eigenen Glaubens“ fokussiert sind, „kennzeichnet die in der Größenordnung unter Kirchenmitgliedern weiter verbreitete Transreligiosität […] ein pluralistisch, universalistisches Denken von Religion“ (Pickel, 2022,S. 475). Pickel resümiert zum Verhältnis der beiden Gruppe gegenüber Vorurteilen: „So steigert Monoreligiosität Vorurteile. Während Menschen mit dogmatischen, andere Religionen als unwahr ansehenden Religionsvorstellungen erkennbar mehr Vorurteile gegenüber anderen Gruppen als der Durchschnitt der Bevölkerung aufweisen, reduziert ein offenes, man könnte sagen: liberales Verständnis von Religion und Kirche (Transreligiosität) Vorurteile“ (Pickel, 2022, S. 475): Das „neue Wir“ bietet auch ethische Impulse, die nicht nur unsere Religionsgemeinschaften inter- und intrareligiös brauchen, sondern unsere gesamte Gesellschaft.
2.3 Gottes Inklusivität bedeutet keine religiöse Relativität oder Indifferenz
Der interreligiöse Dialog wie auch ein Religionsunterricht in religiös-heterogenen Lerngruppen stehen immer wieder vor der Frage des rechten Umgangs mit Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Religionen.5 lm Diskussionspapier reden wir an dieser Stelle von der „Trans-Differenz“. Dazu schreibt Karlo Meyer: „Es geht in der Schule mehr als unter ausgebildeten Theologinnen und Theologen auch darum, Differenzen und Anderssein ‚aushalten‘ zu können, Fremdartigkeit und einen Abstand stehen lassen zu können, weil sich gerade auch in der Schule nicht jede und jeder bei einem Dissens gleich auf eine Argumentationsebene der Annäherung schwingen kann“ (Meyer, 2022, S. 285). „‚[Ü]berbrücken‘ und ‚das Besondere [...] überschreite[n]‘ ist ein hehres Ziel, das Dialogexperten sich zweifellos auf die Fahnen schreiben sollten. Tatsächlich müssen Schülerinnen und Schüler auch und vielleicht zuerst einmal lernen, das Anderssein anderer zu ’ertragen’ und gegenseitiges Fremdbleiben hinzunehmen“ (Meyer, 2022, S. 285–286). Meyer bringt dies auf den Punkt, wenn er ein „klares Nein und ein klares Ja nebeneinander“ (Meyer, 2022, S. 289) einfordert.
Gemeinsamkeiten wahrnehmen und Differenzen benennen – beides ist wichtig für den Dialog wie für den Religionsunterricht. Natürlich bleiben in einer pluralistischen Religionspädagogik auch substantielle Unterschiede bestehen – und im Dialog gibt es auch das Ringen um die maßgebenden Kriterien für die Bestimmung der gemeinsamen Basis, z.B. um einen Religionsunterricht gemeinsam zu verantworten. Diese Kriterien gilt es im Diskurs gemeinsam zu erarbeiten und dann auch anzuwenden. Zudem gilt es nur vermeintliche Gemeinsamkeiten deutlich wieder als Differenz zu benennen. Dazu gehört in meinen Augen z.B. die oft kommunizierte Rede davon, dass Weihnachten und Chanukka das gleiche Fest seien, nur weil bei beiden Festen Kerzenlichter eine Rolle spielen, dass das Judentum Pessah hätte und das Christentum dafür Ostern oder dass jüdische Männer die Kippa tragen und der Papst und die Bischöfe auch eine Kopfbedeckung – Unterschiede so zu nivellieren führt in eine Oberflächigkeit, die den Dialog nicht fördert (vgl. Meir, 2016, S. 44).
Eine pluralistische Religionspädagogik steht folgerichtig nicht für eine theologische Beliebigkeit, sondern für die Ausformulierung gemeinsamer Überzeugungen bei gleichzeitiger Wahrung von unterschiedlichen Vorstellungen z.B. bei Fragen der Ausgestaltung des Heils, eines Lebens nach dem Tod oder bei ethischen Entscheidungskriterien. Genau an dieser Stelle spielt die Trans-Differenz eine große Rolle. Denn das „trans“ meint nicht eine Egalisierung aller Differenzen oder die Negierung substantieller Dispute. Die Trans-Differenz beschreibt vielmehr eine Dynamik auf einem Weg, auf dem die Präsenz des religiös Anderen zum Normalfall geworden ist und auf dem die Vertreter*innen der gemeinsam unterwegs seienden Religionen versuchen, durch die Differenzen hindurch und in diesen gemeinsame Perspektiven zu finden und den Blick auf gemeinsame Grundlagen zu lenken, um so Brücken zu schlagen zwischen den religiös und anders Verschiedenen: Trans-Differenz beschreibt die Bemühung, eine Einheit unter Wahrung der Unterschiede zu suchen, indem die Fremdheit des Anderen erst einmal ausgehalten und damit „sowohl eine absolute Assimilation als auch eine extreme Dissimilation“ (Meir, 2016, S. 160) vermieden wird.
2.4 Dialog meint nicht nur miteinander reden
Der Terminus Dialog ist ein schillernder Begriff. Wer heute dialogisch unterwegs ist, der ist bildungspolitisch vermeintlich auf der guten Seite. Doch mit dem Begriff werden meist ganz unterschiedliche Inhalte verbunden – von einer einfachen Kommunikation zwischen Partnern bis hin zu einer verbalen Begegnung, bei der im Austausch alle Partner voneinander lernen und durch die Begegnung mit dem anderen Fremden verändert aus dem Dialog herausgehen. Auf Grund dieser Unschärfe möchte ich den Dialog näher beschreiben als Basis und Modus eines pluralistischen Religionsunterrichts und lehne mich an Ausführungen von Catherine Cornille (2013) an. Ein Dialog, der Lernräume für ein gegenseitiges Lernen eröffnen und das je eigene Wachstum ermöglichen soll, braucht nach Cornille erstens die Demut, „Humility“: Ein Dialog setzt eine demütige Anerkennung der begrenzten oder unvollkommenen Art und Weise voraus, in der die letzte Wahrheit innerhalb der eigenen Religion erfasst werden und ausgedrückt werden kann (vgl. hierzu oben unter 1.1). Zudem setzt ein Dialog die Lernbereitschaft und die Einsicht voraus, dass man selbst im Blick auf das Verstehen und Kommunizieren der Fülle der Wahrheit noch wachsen kann (vgl. Cornille, 2013, S. 20). Diese demütige Haltung werde zudem dialogisch gestärkt durch Unterscheidung zwischen der letzten Wirklichkeit selbst und den finiten Manifestationen, in denen sie in den unterschiedlichen Religionsgemeinschaften zum Ausdruck kommt: “This recognition of the distinction between the ultimate reality itself and the finite categories in which it is expressed may come to reinforce epistemological humility and open up space for the possibility of growth“ (Cornille, 2013,S. 22).
Ich ergänze, was bei Cornille so nicht explizit steht: Zum Gelingen eines solchen Dialogs gehört m.E. auch der Verzicht auf jegliche Absolutheitsansprüche und deren normative Setzung - erst das ermöglicht die Option eines von mehreren Religionsgemeinschaften gemeinsam verantworteten und authentischen Religionsunterrichts auf Augenhöhe.
Als zweites Kriterium nennt Cornille das jeweilige “commitment to a particular religious tradition” (Cornille, 2013, S. 23, vgl. zum Folgenden ebd.). Dieser konstitutive Rückbezug der Dialogpartner*innen auf die je eigene Religion verhindert, dass der Dialog zu einer rein persönlichen Angelegenheit wird, zu einem nur subjektiv fokussierten Fragen und Antworten. Angesprochen sind hier gewissermaßen die beiden Seiten der konfessionellen Prägung des Religionsunterrichts nach Art. 7,3 GG: Während die existentielle Seite der reflektierten Positionalität in der Verantwortung der am Dialog beteiligten Einzelperson liegt und als solche frei sein muss, um die rein persönlichen Einstellungen und Haltungen der Dialogpartner*innen zu wahren und stärken, bedarf es zugleich auch der normativen Seite der reflektierten Positionalität, sofern es zumindest im Religionsunterricht um die Grundüberzeugungen von Religionsgemeinschaften geht. Für die Religionsgemeinschaften selbst ist diese Rückbindung an ihre Überzeugungen deshalb von Bedeutung, weil die Traditionen der je eigenen Religionsgemeinschaft sich nur entwickeln und verändern können, wenn Erkenntnisse aus dem Dialog offen zur eigenen Tradition in einem kritischen Diskurs kommuniziert werden und dadurch eigene Positionen mitunter auch revidiert werden – was die Religionsgemeinschaften allerdings wollen müssen.
Als drittes Kriterium nennt Cornille ,“that every religious tradition involved develop a religious self-understanding in which (at least some of) the teachings of other religions are somehow related to or relevant for one’s own religious conception of truth“ (Cornille, 2013, S. 26). Das setzt zudem die Überzeugung voraus, “that religions actually do have something to do with one another, that they deal with some of the same fundamental religious and existential questions” (Cornille, 2013, S. 24). Dieser Aspekt spielt auch im Diskussionspapier eine bedeutende Rolle, wenn wir dort die Tiefentheologie Abraham Heschels in den Diskurs einbringen. Dabei möchte ich an dieser Stelle auf einen Einwand eingehen, den Miriam Schambeck und Henrik Simojoki formuliert haben: Die Tiefentheologie werde, so die beiden, so sehr als zeitlich vor den partikularen religiösen Traditionen seiend gezeichnet, dass nicht mehr explizit genug deutlich werde, “dass auch dieser ewige Grund, das principium, immer dann, wenn es sich auf den Menschen und damit die Welt bezieht, nur in raumzeitlichen Kategorien und damit konkret geschichtlich erfasst werden kann“ (Schambeck & Simojoki, 2022,S. 334). Abraham Heschel würde dem zustimmen! Natürlich sind die Dimensionen, die Heschel mit seiner Tiefentheologie im Sinn hat, hier und heute in den Religionen zu suchen und zu finden. Heschels Anliegen ist es, die grundlegenden existentiellen Fragen der Menschen, auf die die Religionen eine Antwort geben, wieder freizulegen von ihrem dogmatisch-rituell-institutionellen Ballast – aber dabei hat er natürlich die je gegenwärtigen Traditionen der Religionen im Blick und keine unerreichbaren, vorzeitlichen Ideen. Im Diskussionspapier suchen wir mit der Tiefentheologie diese Dimension von Religion und Theologie als einigende Basis eines gemeinsamen religionspädagogischen Fragehorizontes mehrerer Religionsgemeinschaften darzustellen. Davon unbenommen ist auch bei Heschel das Verständnis dafür, dass die je konkret-geschichtlichen Ausformulierungen natürlich auch Differenzen aufweisen, die nicht vortheologisch oder wie auch immer einzuebnen sind. Angesichts des tiefentheologischen Grundverständnisses sind sie aber nicht mehr exklusiv trennend, haben nicht das letzte Wort: „Theologie spricht“, so Heschel, „für alle, Tiefentheologie nur für den Einzelnen. Theologie strebt nach Kommunikation, nach Universalität; Tiefentheologie strebt nach Einsicht, nach Einzigartigkeit. […] Theologien trennen uns, Tiefentheologie eint uns“ (Heschel, 1985, S. 100). Ohne diese existentielle Basis kann ein Dialog theologisch noch so interessant sein, im Blick auf einen reflektiert positionellen Austausch und ein entsprechendes Lernen wäre er dann jedoch – nach Cornille – sinnlos und irrelevant (vgl. Cornille, 2013, S. 24).
Als weitere Bedingung nennt Cornille “Hospitality” (Cornille, 2013, S. 28–30), sofern Gastfreundschaft die zuvor genannten Bedingungen als Voraussetzung aufnimmt: „The final, and sole sufficient condition for dialogue involves recognition of actual truth in another religion and hospitality toward integrating that truth in one’s own tradition” (Cornille, 2013, S. 28). Hierzu braucht es die Demut gegenüber der Wahrheit meiner eigenen Tradition und der meines Gegenübers, die Verbundenheit zur eigenen religiösen Tradition, die Offenheit für die Wahrheit anderer Religionen, das Verständnis einer grundlegenden Verbundenheit der Religionen und schließlich das Verständnis des Anderen. Ernüchtert resümiert Cornille abschließend: “It is clear that most religions are not by nature disposed to constructive dialogue with other religious traditions” (Cornille, 2013, S. 30).
Einen Dialog zu führen ist demnach anspruchsvoll und impliziert einen Lernprozess. Das gilt gerade dann, wenn ich zulasse, dass mich ein authentisch geführter Dialog in eine Situation führt, bei der ich vorher nicht weiß, welche meiner Überzeugungen ich verifizieren kann, welche Ansichten ich in Frage stellen oder gar revidieren muss (vgl. Meir, 2016,S. 82–86). Ein Veränderungen implizierender Dialog kann treffend als reziproker Dialog benannt werden – als ein Dialog, der wechselseitig auf Einstellungen, Haltungen und Erfahrungen einwirkt, der Beziehungen in Bewegung setzt und damit Raum für Veränderungen am „Ich“ und am „Du“ bewirkt. Ein reziproker Dialog ist ein kreativer Prozess, der Haltungen, Erfahrungen und Beziehungen interpersonal transformiert, weshalb unser Projekt bewusst den Terminus „Transformation“ im Titel führt.
3 Perspektiven – nicht nur Visionen
3.1 Den Religionsunterricht konsequent inklusiv gestalten
Für die interreligiöse Expert*innengruppe des Diskussionspapiers war es von Anfang an das Anliegen, nicht den bröckelnden Religionsunterricht als Grund für die Entwicklung einer pluralistischen Religionspädagogik anzusehen. Wir sind vielmehr der Meinung, dass es nur einer der pluralen Wirklichkeit gewachsenen Theologie und Religionspädagogik gelingen wird, mit all denen, die an einer religiös-positionellen Bildung im öffentlichen Raum interessiert sind, dem zunehmenden gesellschaftlichen Druck zur Abschaffung oder Marginalisierung des Religionsunterrichts gemeinsam standzuhalten und eine plausible und kommunikativ vermittelbare Alternative entgegenzustellen. Ich selbst werde meinen Dienst wohl noch mit Art. 7,3 GG beenden können, doch es besteht die große Gefahr, dass der Religionsunterricht binnen der nächsten 10 Jahre marginalisiert werden wird, wenn es z.B. flächendeckend ein für alle verpflichtendes Fach „Ethik“ (o.ä.) geben wird oder der bekenntnisgebundene Religionsunterricht inklusive des konfessionellen kooperativ erteilten Religionsunterrichts (für den Religionsunterricht Berufskollegs in NRW kommt die konfessionelle Kooperation 25 Jahre zu spät) mangels Schüler*innen immer weniger vorgehalten werden kann.
Dass eine Neuorientierung des Religionsunterrichts an der Zeit ist, unterstreicht auch die EKD-Ratsvorsitzende Präses Annette Kurschus. Unter der Überschrift „Religionsunterricht für alle […]“ (2020) schreibt Kurschus: „Wer war Jesus Christus? Und wer ist er für dich? Was hat es mit Mohammed und den fünf Säulen auf sich? […] Katholische, evangelische und muslimische Lehrkräfte gestalten den Unterricht in gemeinsamer Verantwortung. So erfahren Schülerinnen und Schüler, was die meisten von zu Hause nicht mehr kennen: die Begegnung mit gelebter Religion. […] Die Kritiker wittern Gleichmacherei und Vermischung. Sie fragen: Geben wir zunehmend auf, was uns selbst kostbar ist? Verwässern wir unsere Inhalte? Ich nehme die Bedenken sehr ernst – und frage dennoch zurück: Könnte nicht gerade der Dialog mit anderen das eigene Profil schärfen und stärken?“ (Kurschus, 2020, o.S.).
Entsprechend zur multireligiösen Zusammensetzung heutiger Lerngruppen im Religionsunterricht bedarf es einer Vielfalt religiöser Überzeugungen auch auf der Seite der Lehrkräfte, um authentisch alle Positionen der in einem Religionsunterricht beteiligten Religionsgemeinschaften repräsentieren zu können. Allein so kann der positionelle Charakter eines dialogischen Religionsunterrichts nach Art. 7,3 GG am stärksten zum Ausdruck kommen. Die Ideallösung wäre ein Religionsunterricht im Team-Teaching – was realistisch allerdings erst einmal eine Utopie bleiben dürfte. Die Weiterentwicklung der von der EKD schon 1994 in den Diskurs eingebrachten Fächergruppe kann auf dem Weg dorthin zunächst ein geeignetes Instrument sein. Weiterhin gibt es Modellschulen nicht nur in NRW und Hamburg, die schon lange darum ringen, wie ein Religionsunterricht für Schüler*innen aller Religionen verantwortlich gestaltet und umgesetzt werden kann. Wobei ein pluralistischer Religionsunterricht nicht an Materialien oder Strukturen hängt, sondern zutiefst eine Frage der Haltung der Lehrkraft ist: Auch ein klassisch konfessionell erteilter Religionsunterricht mit nur einer Lehrkraft kann sehr wohl dialogisch-pluralistisch sein, wenn die Lehrkraft die entsprechende Haltung mitbringt und ihren Unterricht entsprechend didaktisch und religionspädagogisch konzipiert. Entgegen der Annahme, dass mein Unterricht als evangelische Lehrkraft im Blick auf die Kommunikation z.B. mit muslimischen Schüler*innen immer nur religionskundlich sein könne, ist die Schulwirklichkeit komplexer: Während mein Reden über z.B. den Islam bei muslimischen Schüler*innen nur kundlich ankommen kann, ist deren direkte Antwort darauf wiederum positionell. D.h.: Mein Unterricht als evangelische Lehrkraft ist nicht grundsätzlich für andersreligiöse Schüler*innen religionskundlich, sondern das wechselt je nach der gerade kommunizierten Positionalität und kann durchaus in pluralistischer Perspektive geschehen.
3.2 Die Kooperation mit Weltanschauungsgemeinschaften
Der von Peter L. Berger in den Diskurs eingebrachte Begriff des „doppelten Pluralismus“ (Berger, 2017) zeigt an, dass nicht allein die religiöse Welt bunter, vielfältiger und damit pluraler geworden ist, weshalb zu einer pluralistischen Religionspädagogik unbedingt auch der Dialog mit Weltanschauungsgemeinschaften, die wiederum selbst in pluraler Vielfalt vorkommen, gehört. Jedenfalls leuchtet der „vielfache Pluralismus“ ein: Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass (1.) kein Schüler und keine Schülerin in ihrem Selbstkonzept durch und durch evangelisch oder katholisch, jüdisch, alevitisch, muslimisch, hinduistisch usw. ist und von daher alle unsere Selbstkonzepte konstitutiv plural sind und selbstverständlich auch säkulare Anteile haben, gehört die säkular-nichtreligiöse (und aufgeklärt-rationale) Dimension als Modus der Welterschließung konstitutiv zum Religionsunterricht mit hinzu - wie umgekehrt der religiöse Weltzugang zum Philosophieunterricht konstitutiv dazugehört. Ulrich Riegel hat in dieser Richtung ja schon eine Perspektive für einen Religionsunterricht für übermorgen in den Diskurs eingebracht als „Kooperativen Weltanschauungsunterricht“ (vgl. Riegel, 2018, S. 183–206).
Unabhängig von der organisatorischen Verfasstheit sind (2.) Unterrichte mit religiösen, philosophischen und ethischen Inhalten konstitutiv immer intentional (positionell) ausgerichtet, wenn die Schüler*innen – in Anlehnung an den Beutelsbacher Konsens – die Kompetenz erlangen sollen, fremde religiöse Haltungen und Traditionen im Zusammenhang ihrer eigenen Tradition und ihres eigenen Denkens analysieren und reflektiert werten zu können. Da es für alle in Frage kommenden Werte keine letztgültigen und für alle Menschen verbindlichen normativen Grundsätze geben kann, sofern sich alle Werte konstruktivistischer Ableitungen verdanken, sind solche Unterrichte konstitutiv positionell.6
Ungeachtet der konstruktivistischen Basis und positionellen Grundausrichtung der Fächer weisen philosophische und religiöse Lernprozesse gemeinsame materiale Frage- und Problemhorizonte auf, d.h. viele Unterrichtsgegenstände der Fächer weisen Gemeinsamkeiten auf (z.B. haben die Themenbereiche „Lebenssinn“, „Gerechtigkeit“, „Frieden“ oder „Naturschutz“ / „Klimakrise“ konstitutiv verwandte gemeinsame ethische, philosophische und religiöse Bezüge und Inhaltsaspekte). Angesichts der vielen inhaltlichen Übereinstimmungen der religiösen und philosophischen Bildung bedarf es m.E. ernsthafter Initiativen, die auf der Basis des Beutelsbacher Konsenses – insbesondere des „Kontroversitätsprinzips“ – eine Kooperation der religiös und ethisch-philosophisch orientierten Fächer vorantreiben.
3.3 Insellösungen erschließen keine neuen Horizonte
In der Europäischen Union gibt es ein großes Interesse an religiöser Bildung, beispielsweise ersichtlich am „Wegweiser“ aus dem Jahr 2014: „Signposts – Policy and practice for teaching about religions and non-religious world views in intercultural education“.7 Diese Handreichung soll die Umsetzung der EU-Empfehlungen zur religiösen Bildung in ihrem eigenen nationalen, regionalen und lokalen Kontexten unterstützen (vgl. Jackson, 2014, S. 18–19). Der Europarat präferiert einen dialogischen Unterricht der Religionen und Weltanschauungsgemeinschaften, der durch die Begriffspaare „truth and meaning“ (Jackson, 2014, S. 56) sowie „freedom of religion or belief“ (Jackson, 2014, S. 56) bestimmt wird und damit dem hier vertretenen Dialogverständnis sehr nahekommt. Dabei sei der Klassenraum zu verstehen „as a safe space“ (Jackson, 2014, S. 47; vgl. dazu insgesamt S. 47–57), in dem alle Äußerungen auf Augenhöhe geschehen sollen (Jackson, 2014, S. 57).
Abschließend möchte ich noch einen Blick nach England werfen, wo seit Jahrzehnten ein reflektiert positioneller Religionsunterricht unter Einschluss aller Schüler*innen und unter Beteiligung aller Religionsgemeinschaften vorangetrieben wird: So heißt es im Rahmenplan „Religious Education“ des Jahres 2004 unter der Überschrift „The importance of religious education“: „Religious education provokes challenging questions about the ultimate meaning and purpose of life, beliefs about God, the self and the nature of reality, issues of right and wrong and what it means to be human. It develops pupils’ knowledge and understanding of Christianity, other principal religions, other religious traditions and other world views that offer answers to questions such as these. It offers opportunities for personal reflection and spiritual development. […] Religious education encourages pupils to learn from different religions, beliefs, values and traditions while exploring their own beliefs and questions of meaning. It challenges pupils to reflect on, consider, analyse, interpret and evaluate issues of truth, belief, faith and ethics and to communicate their responses“ (Zitate je Religious education. The non-statutory national framework, 2004, S. 7). Angesichts dieses Votums kann ich beim besten Willen nicht erkennen, warum bei uns oft immer noch gesagt wird, „religious education“ in England käme doch eher einer reinen Religionskunde gleich und von daher als Referenz für Deutschland nicht in Frage. Denn was unterscheidet „religious education“ im Blick auf eine reflektierte Positionalität als didaktische Leitkategorie von unserem positionell-bekenntnisgebundenen Religionsunterricht – außer dass mehr Religionsgemeinschaften verantwortlich eingebunden sind?
Ein letzter Impuls: Warum lernen wir nicht von dem neuesten englischen Entwurf (2018): „Religion and Worldview. The way foreward. A national plan for Religious Education“? Vor dem Hintergrund der fortschreitenden Säkularisierung wird von der „Commission on Religious Education (CoRE)“ der Versuch unternommen, die gegenwärtige religiöse und weltanschauliche Vielfalt der englischen Gesellschaft (vgl. z.B. Religion and Worldviews, 2018, Foreword, o.S.) in einem integrierten Unterrichtsmodell zusammenzuführen, da Religious Education auf dem bisherigen Niveau nicht ausreiche, den heutigen pluralen Herausforderungen des Alltags gerecht zu werden (Religious education. The non-statutory national framework, Qualifications and Curriculum Authority, 2004, S. 7).Damit „religious education“ angesichts der zukünftigen Herausforderungen nicht verdorre wie ein Weinstock, bedürfe es der vorgeschlagenen Erweiterung – als „new vision“ – und einer gleichzeitigen Qualitätsverbesserung durch das neue Fach „Religious Education and Worldviews“ (Religious education and Worldviews, 2018, Foreword, o.S.). Beide Vorgaben werden nach dem CoRE durch das neue Fach erreicht: „The time is right for a new vision for the subject, if we are to prepare children and young people for living in the increasingly diverse world in which they find themselves. We need to move beyond an essentialised presentation of six ‘major world faiths’ and towards a deeper understanding of the complex, diverse and plural nature of worldviews at both institutional and personal levels. We need to ensure that pupils understand that there are different ways of adhering to a worldview – you may identify with more than one institutional worldview, or indeed none at all. More still needs to be done to ensure that a wider range of institutional worldviews is taught, particularly Hinduism, Buddhism and Sikhism, which are sometimes neglected. And there needs to be a greater understanding, at a conceptual level, of how worldviews operate, the accounts they provide of the nature of reality, and how they influence behaviour, institutions and forms of expression. It is this powerful, conceptual knowledge that all pupils need to have“ (Religious Education and Worldviews, 2018,S. 6).8 Angesichts der großen Zahl von berücksichtigten Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften – „Christianity, Buddhism, Hinduism, Islam, Judaism and Sikhism, non-religious worldviews and concepts including Humanism, secularism, atheism and agnosticism“ (Religion and Worldviews, 2018, S. 13) – kann ein solches Fach nicht landesweit verbindlich für alle Regionen implementiert werden, sondern es bedarf je regionaler Umsetzungen, um unterschiedliche regionale Bedingungen und religionssoziologische Voraussetzungen berücksichtigen zu können wie z.B. in der Industriestadt Birmingham (vgl. The Birmingham Agreed Syllabus, 2022) oder der kleineren Kommune Oldham bei Manchester (vgl. Religious Education Agreed Syllabus […], o.J.).
Diese neue Vision aus England eröffnet mit ihrer breiten pluralistischen Anlage und den vielfältigen Erfahrungen, auf denen sie aufbaut, gewiss auch Impulse für eine Neuorientierung des Religionsunterrichts bzw. der religiösen Bildung im öffentlichen Raum in Deutschland. Warum halten wir unser Treffen nicht einmal in England ab und informieren uns aus erster Hand, wie dort die religiöse Bildung im öffentlichen Raum in gemeinsamer Verantwortung der Religionsgemeinschaften in Zusammenarbeit mit dem Staat konzipiert und vor allem theoretisch-theologisch begründet wird? Einen Versuch wäre es wert.
Literaturverzeichnis
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Reinhold Bernhardt spricht auch von einer „Gott-Perspektive“ (Bernhardt, 2022, 157).
Im Blick auf die inhaltliche Frage nach dem Heil im Kontext des Heils anderer Religionen, d.h. den exklusiven Heilsanspruch, möchte ich an dieser Stelle mit Worten des ÖRK sagen: Als Christ*innen „we cannot point to any other way of salvation than Jesus Christ; at the same time we cannot set limits to the saving power of God“ (World Council of Churches, 2016, S. 9).
Die Septuagintatexte entstammen der z.Zt. maßgeblichen Ausgabe Septuaginta Gottingensia, ed. J.W. Wevers, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1992.
Dieser Ansatz geht konform mit vielen Texten der Hebräischen Bibel und des Neuen Testaments, die die Einheit der Menschen und den universalen Heilswillen des einen Gottes bzw. der einen alle Wirklichkeit umschließenden transzendenten Größe ausdrücken (vgl. z.B. Gen 1,12,4a; Ps 8, Ps 104; 1. Tim 4,10 oder Tit 2,11).
Wobei ich an dieser Stelle nur daran erinnern möchte, dass sich diese Frage nicht nur in interreligiösen Kontexten stellt, sondern auch in intrareligiösen Zusammenhängen.
Vgl. dazu ausführlich den 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung. URL: https://www.bmfsfj.de/kinder-und-jugendbericht [Zugriff am 23.11.2020].
Der Download der unterschiedlichen Übersetzungen des „Signpost“ findet sich: https://theewc.org/resources/signposts (Zitate im Text folgen je der gedruckten Ausgabe).
Eine detaillierte Auflistung und Beschreibung von Lerninhalten und verbundenen Inhaltsaspekten unter Berücksichtigung von historischen Entwicklungen der Religionen und Weltanschauungen untereinander werden mehrfach in dem Strategiepapier aufgeführt (vgl. z.B. Religious Education and Worldviews, 2018, S.12–13 oder S. 34–35).