1 Was ist ein (wissenschaftliches) Narrativ?

Dieser Beitrag schließt in seinem Verständnis eines Narrativs an den Beitrag von Joachim Willems an (Willems, 2021), der Narrative im Anschluss an die formalen, die eigene wissenschaftliche Disziplin betreffenden selbstreflexiven Analysen von Hayden Whites und die eher inhaltliche Rekonstruktion von Tim Karis als kulturwissenschaftliche Perspektive auf gesellschaftliche Wissensorganisation versteht. Ausgehend von strukturellen Mustern des Erzählens werden Muster des Erzählens auch an Orten entdeckt, an denen oberflächlich nicht erzählt wird. Aus einer narratologischen Perspektive können aber wie in dem Beispiel von Karis in Tagesschau-Beiträgen, die zunächst einmal von der Form her informierende Berichte sein sollen, narrative Strukturen ausgemacht werden, die die einzelnen Beiträge als Elemente einer größeren kommunikativen Struktur verstehen lassen. Der Einzelbeitrag fügt sich dann auf eine bestimmte Weise in das Gesamtgefüge, so dass ein Diskurs hinter den Beiträgen aufscheint. Wenn man sich in diesem Sinne auf Narrative bezieht, geht es nicht darum, ein Narrativ zu gestalten oder ein Narrativ zu entwickeln, sondern darum, die impliziten und der direkten intentionalen Steuerung entzogenen Muster zu rekonstruieren, die einen Kommunikationsbeitrag vor dem Hintergrund der diskursiven Strukturen zu einem Thema konfigurieren. ‚Narrative zu gestalten‘ wäre aus dieser Sicht der Versuch, über die Gestaltung von Beiträgen, die diskursive Ordnung zu bestimmen. Dieses Anliegen unterschlägt die narratologische Erkenntnis, dass auch diese Umordnungsversuche selbst im Diskurs narrativ gefasst sind. Das bedeutet, wie auch schon Joachim Willems feststellt, dass man mit dem Zugang der Narrativ-Forschung aus den narrativen Strukturen unterschiedlicher Reichweite gar nicht herauskommen kann (Willems, 2021). Das heißt auch, dass dieser Beitrag selbst in bestimmten narrativen Strukturen konfiguriert ist und einen Beitrag liefert, der im religionspädagogischen Forschungsdiskurs vorstrukturiert ist.

Man kann also Narrative nicht objektiv erforschen, aber man kann über die Rekonstruktion von Narrativen durchaus (selbst)aufklärerische Beobachtungen einspielen, die durch die dominante Diskursordnung zu einem Thema eher nicht erzählt werden. In diesem Sinne interpretiere ich auch den Titel des Beitrags, dass in einem kleinen Selbstexperiment der Rekonstruktion von narrativen Strukturen in der religionspädagogischen Forschung an einem zentralen Begriff ein Eindruck möglich wird, wie diese selbstaufklärende Funktion der narrativen Perspektive auf den Diskurs wirkt, und so auch Chancen und Grenzen des Einsatzes dieser Perspektive erahnbar werden, die sonst nicht meinen Forschungsalltag prägt.

Während sich Joachim Willems in seiner Beispielrekonstruktion zum interreligiösen Lernen auf die Struktur der problematisierten Ausgangslage und der wiedergewonnenen Balance konzentriert, wie sie narratologische Strukturen prägen (Willems, 2021), konzentriere ich mich an dieser Stelle eher auf den Plot zwischen den beiden Zuständen. Mit Koschorke (2012) hat der Plot die Aufgabe, die Ausgangssituation so zu dynamisieren, dass der angestrebte Endzustand erreichbar wird. Narrative werden zwar von vorne nach hinten erzählt, aber weil der gewünschte Endzustand dem Narrativ selbst vorausliegt, geht es faktisch darum, von dem Ziel nach vorne legitimierend zu erzählen. Räume, Zeiten, Personen werden im Plot sinnstiftend verbunden und erzeugen so ein vereindeutigendes Raum-Zeit-Kontinuum. Unterwegs trifft das Narrativ Unterscheidungsentscheidungen, die emotionalisierend begleitet werden. Narrative ‚erzählen‘ das verdrängte Dritte, die immer mögliche andere Option als überwunden und bewahren unmarkiert so im Schatten die nicht-realisierte Entscheidung. So stehen Narrative grundsätzlich in Konkurrenz zum nichterzählten Narrativ, aber jederzeit wieder erzählbaren. In der Dominanz bestimmter Erzählentscheidungen – wenn sich also Bündel von Narrativen bilden, die die Ausgangssituation ähnlich interpretieren und die Prämissen zum gewünschten Endzustand teilen – werden so auch Dominanzstrukturen in den thematischen Diskursen erkennbar. So bilden sich Narrativbündel, die in ihrer Selbstverständlichkeit gar nicht mehr als Narrative erkennbar sind. Aus dieser Perspektive sind Narrative nicht in sich wahr (oder falsch), aber sie werden in den Erzählpraktiken als wahr konstituiert, weil sie genauso sinnstiftende Wirklichkeitsdeutungen auslösen, die ihrerseits wieder Anschlüsse ermöglichen. Narrative erzählen die Welt, schaffen so genau bei allen verdrängten Entscheidungen den Eindruck einer erzählbaren Welt. Von daher sind Narrative nicht neutral, aber auch nicht an sich böse. Sie ordnen die Welt und stellen Handlungsfähigkeit her. Wenn ein Narrativ bestritten wird, dann wird die Weltdeutung aus einem anderen Narrativ heraus abgelehnt.

Wenn man nun wissenschaftliche Kommunikation als Narrativketten versteht, die sich verstärken oder auch als Gegenerzählungen irritieren, dann wird damit die wissenschaftliche Kommunikation auf eine bestimmte Weise strukturiert: Es wird deutlich, wie stark die Erzählziele die Erzählwege prägen. Es ist eine gute Übung in einem wissenschaftlichen Text nach der Einleitung das Ergebnis zu imaginieren. Es ist erstaunlich, wie vorhersagbar auch religionspädagogische Forschung ist. Auch Forschung – so kann man sagen – ist ein Plot, der in der Methodenorientierung legitime Verdrängungen möglicher Alternativen aufgrund bestimmter Prämissen ‚erzählt‘. Schon die Problematisierung im Ausgangszustand folgt vorangegangenen Narrativen, die in einer bestimmten Erzählintention Narrativbündel bilden. Die starke Methodenorientierung auch in der Religionspädagogik wird so verständlich, weil jeder Anschluss heikel ist. Denn die Alternativen sind ja beobachtbar und damit auch die Erzählintention vom Ende her. Deshalb muss die richtige Alternative bewehrt werden, was zu einer Exklusionsgeschichte von Themen, Personen, Orten und Institutionen auch in der Religionspädagogik führt, die zu heben interessant wäre. Für die wissenschaftliche Kommunikation ist dann aber wiederum typisch, dass Diskurse zwar von der Wiederholung leben (‚Der Königsweg im interreligiösen Lernen ist das Begegnungslernen.‘), um so widerspruchsfreie Anschlussfähigkeit herzustellen, dass gleichzeitig aber für die Innovation auch verdrängte Erzählperspektiven gebraucht werden (‚Das Reifizierungsmoment prägt auch die interreligiöse Begegnung‘ [Woppowa & Caruso, 2021]), um die Forschungsdynamik aufrechtzuhalten. Lebendige Wissenschaftsdiskurse bewahren sich Gegennarrative.

Wenn nun im Folgenden im Rahmen des kleinen Experiments Narrative Muster in der religionspädagogischen Forschung rekonstruiert werden, dann wird damit so getan, als wäre es möglich, Narrative von außen zu beobachten und Muster wissenschaftlich zu beschreiben. Aber zwei Vorbemerkungen sind wichtig: Erstens erfolgt die Rekonstruktion nur thetisch, sie setzt voraus, dass die damit getroffenen Entscheidungen genügend interne Plausibilität besitzen. Weil aber zweitens transparent ist, dass hier selbst ein Narrativ erzeugt wird, ist klar, dass – selbst bei bestem methodischem Vollzug – diese Plausibilität von den geteilten Prämissen abhängt. Aus meiner Sicht kann es also nicht darum gehen, die Erzählentscheidungen von außen objektiv zu heben. Aus einem alternativen Narrativ heraus werde ich versuchen, narrative Strukturen der Entscheidung und der Verdrängung zu beschreiben. Die Rekonstruktion von Narrativen dekonstruiert den Boden der Tatsachen, ohne selbst auf einen solchen Boden verzichten zu können. Mit dem Ansatz der Narrative zu forschen, gerade in der eigenen Disziplin, ist deshalb nicht unproblematisch, weil immer die Gefahr besteht, selbst zu meinen, die Einheit der Unterscheidung von Erzähltem und Nicht-Erzähltem gefunden zu haben (Brieden, 2022, S. 134, 188). Das liegt nahe, weil die narrative Struktur auf vereindeutigte Erzählketten drängt, die eben die Welt erklären. Unter diesen Vorbehalten versuche ich mich an der Aufgabe.

2 Narrative in der religionspädagogischen Forschung

2.1 Religionspädagogische Narrative differenziert nach Reichweite und Funktion

In einem ersten Schritt möchte ich mit Koschorke (2012, S. 397) auch in der Religionspädagogik Narrative in ihrer Reichweite und Funktion unterscheiden. Die großen Erzählungen von Lyotard sind so etwas wie kulturstiftende Narrative, aber es gibt auch kleine, situative narrative Episoden, die in Narrative größerer Reichweiten eingeschrieben sind. Die eine Meta-Erzählung, die alle Narrative bündelt, gibt es nicht mehr – dieses Ende hat schon Lyotard für die Postmoderne ausgemacht (Lyotard, 1987, S. 33–38), aber für einzelne gesellschaftliche Bereiche gibt es trotzdem große Erzählungen, die in Konkurrenz miteinander, um die Ziele, den Sinn und die Relevanz ringen. In der Funktion schlage ich vor, in wissenschaftlichen Narrativen solche zu unterscheiden, die Forschungsrahmen markieren und damit die Intentionen sichern, an denen sich dann Narrative einlagern, die eher helfen von der problematischen Ausgangslage zu diesen Zielen zu gelangen. Sie übersetzen die Ausgangslage zum Endzustand und sorgen für interne Kohärenz und plausibilisieren damit gleichzeitig, dass Alternativen nicht erzählt werden müssen oder sogar dürfen. Es gibt aber auch Narrative, die gegen solche Erzähltrends wie Findlinge scheinbar daliegen. Von der Architektur her sind diese Einsprengsel den Trends fremd, aber sie verweisen auf kaum oder nicht erzählte Rahmungen. Sie machen damit auf die Bewehrung der großen Erzähltrends in der Forschung aufmerksam.

Abb. 1 zeigt, wie sich dann entlang der beiden Achsen eine Erzählarchitektur aufspannt, die sich mit Schlagworten aus religionspädagogischen Textkorpora füllen lässt. Die hier getroffene Auswahl ist nur bedingt systematisch erfolgt. Ich habe mir das letzte Print-Heft der religionspädagogischen Beiträge (83/2020) und das erste Heft der online-Ausgabe der gleichen Zeitschrift (44(1)/2021), die beide programmatischen Charakter besitzen, und schließlich noch den letzten Jahrgang von Theo-Web und des Österreichisch-Religionspädagogischen Forums angesehen, um den Blick über Deutschland hinaus und explizit ökumenisch-multireligiös zu weiten. Ohne den Anspruch einer methodischen Diskursanalyse, wie dies bei Karis erfolgt, lassen sich Themen und Zugzwänge identifizieren, für die ich exemplarisch ein paar Spots für unterschiedliche Funktionen und Reichweiten eingetragen habe.

Abb. 1: Narrative in der Religionspädagogik mit unterschiedlicher Reichweite und Funktion

2.2 Subjektorientierung als Beispiel für narrative Strukturen in der Religionspädagogik

Ein zentrales Element der Forschungsnarrative in der Religionspädagogik stellt die Subjektorientierung dar, die in Abb. 1 beim Forschungsrahmen verortet ist. Allerdings lässt sie sich an verschiedenen Positionen in der Architektur verorten und übernimmt damit verschiedene Funktionen (Abb. 2). Ein Einsprengsel gegen den Trend findet sich bei Georg Langenhorst:

„Gleichzeitig findet in Augsburg die ‚MEHR-Konferenz‘ statt, getragen vom ‚Gebetshaus Augsburg‘. 12.000 Menschen kommen zusammen, um (anzu-)beten, Lobpreis zu singen, Vorträgen und Katechesen zu lauschen und ihren Glauben zu feiern. Das starke Gefühl von Gemeinschaft, von Aufbruch, von Beauftragung zur Mission herrscht vor. Vor allem Jugendliche sind hier, junge Erwachsene“ (Langenhorst, 2020, S. 89).

Die AKRK-Jahrestagung 2016 folgt der Säkularisierung der Lebenswelten als ein Phänomen der Heterogenität mit dem Interesse an Konfessionslosigkeit, an der Verdunstung beobachtbarer Religionsausübung. Die Subjektorientierung legitimiert diesen Trend, der durch die Beobachtung Langenhorsts irritiert wird, ohne dass dieser hieraus einen veränderten Rahmen ableitet. Auf der Rahmenebene bleibt die Subjektorientierung mit ihrem Anspruch erhalten, das Ich gegenüber kirchlichen und auch schulischen Autoritätsansprüchen zu bewahren – wie es Schulte (2013, S. 22) griffig mit dem „Programm der Ich-Rettung“ formuliert. Dieses Programm wird immer wieder aufgegriffen, so auch bei Boschki:

„Die Religionspädagogik als Gesamtdisziplin kann (…) als Prozess verstanden werden, der sich an jeder Stelle selbst reflektiert (…) und der v. a. diejenigen in den Mittelpunkt stellt und ihnen ihre Aufmerksamkeit schenkt, um die es in aller religionspädagogischen Forschung, Theorie und Praxis geht: die lernenden Subjekte“ (Boschki, 2007, S. 45).

Auf der mittleren, methodischen Ebene in der Übersetzung von der Vereinnahmung der Schüler/innen hin zu deren Freisetzung durch religiöse Bildung beschreibt Brieden (2022, S. 380) die „Prüfsteinfunktion der Subjektorientierung“, mit der gute Konzepte für das interreligiöse Lernen zu identifizieren sind – für Sajak (2020, S. 63) ist die Orientierung an den realen multireligiösen Lebenswelten der Schüler/innen entscheidend.

Abb. 2: Subjektorientierung als Narrativbündel mit unterschiedlicher Reichweite und Funktion

Schon hier wird deutlich, dass die Subjektorientierung einen klaren emanzipativen Rahmen spannt, der auch für die methodische Übersetzung im Plot genutzt wird. Gleichzeitig markiert das Einsprengsel, dass es durchaus unterschiedliche Erzählprogramme gibt, welche normative Modellierung der Schüler/innen problematisch ist: die religiöse oder nicht-religiöse? Geht es darum, die Heterogenität der Schüler/innen immer weiter auszufächern und sie damit als religions- bzw. institutionenkritisch zu homogenisieren? Oder ist die homogenisierende Darstellung der Jugendlichen auf der Wallfahrt gerade Teil einer alternativen Form der Heterogenisierung, in der auch religionsbezogene Jugendliche ihren Platz finden können?

2.3 Das Subjekt als plottreibendes Element in unterschiedlichen Forschungslinien

Weil die Subjektorientierung zum narrativen Prämissenset der gegenwärtigen Religionspädagogik gehört, kann sie nicht nur verschiedene Programme auslösen, um entlang des Differenzwerts der Ich-Rettung zu kommunizieren. Es ist auch möglich zu beobachten, dass die Orientierung am Subjekt geradezu als Teil der autoritäre Gouvernance gegenüber Schüler/innen beschrieben wird. In beiden Fällen muss die religionspädagogische Forschung „das Anderssein des Anderen nicht nur voraussetzen, sondern erzeugen, um Ansatzpunkte für ihr eigenes Operieren zu konstruieren“ (Luhmann, 1998, S. 138). Die stetige und nie endende Beschreibung des Anderssein des Anderen ist vielleicht das Paradigma der religionspädagogischen Forschung seit den 1970er Jahren und richtet sich gegen Kirche, Unterricht und eben auch die Religionspädagogik selbst. So lassen sich drei Forschungslinien unterscheiden, die das Anderssein gegen Unterschiedliches richten:

1. Im Mainstream hilft der Subjektbegriff seit den 1970er Jahren normative Einflüsse u.a. von Kirche zu erkennen und über die Autonomiehypothese der Schüler/innen, individuell als Träger von Bedeutung zu sehen. Das Religionsstunden-Ich gilt als Symbol der Unterwerfung unter lebensferne Regime, das gegenüber den authentischen Positionen oberflächlich antrainiert wird, dem Subjekt äußerlich bleibt. Die sich in der Religionspädagogik etablierte Einstellungs- und Vorstellungsforschung hat hier ihren Sitz im Leben:

„Indem die Empirie dazu beiträgt, religiöse Vollzüge in den Lebenswelten der Menschen präzise zu beschreiben, entspricht sie dem Ziel der wahrnehmungs-wissenschaftlichen Perspektive, ‚Religion in der Lebenswelt‘ aufzufinden. Hinzu kommt noch das Ziel der ‚Unterstützung bei (rel.) Lebensdeutung‘, mit dem sich das Interesse dieser Perspektive an einer Subjektorientierung zeigt, die pädagogischen Takt zu ihrem Prinzip erhebt“ (Brieden, 2022, S. 383).

Wenn hier das Individuum beforscht wird, wird es in seinem Anderssein gegenüber traditionellen Vorstellungen als eigenständig anders konstruiert. In diesem Anderssein sind aber alle gleich und sie sind identisch mit ihren Positionierungen. Dafür werden die Subjekte substantialisiert: Es sind ihre Gedanken, die erforscht werden, sie gehören stabil ihnen. Dies ist eine starke Modellierungsannahme, die forschungspraktisch wichtig ist. Aber dass eine Äußerung zu einer Person gehört und sie damit individualisiert wird, ist eben schon Teil des narrativen Plots, in dem Alternativen ausgeblendet werden.

2. Genau das wird in der zweiten Linie kritisiert. Der Subjektbegriff selbst ist schon kritisch zu sehen, weil er Unterwerfung eines Individuums unter ihn bestimmende Prädikate bedeutet. Er ist Teil von Differenzpraktiken über Subjektivierung, die gerade Freiheit einschränken (Brandstetter & Reis, 2020). Die Person ist anders als das von der Gesellschaft konstruierte Subjekt. In ethnographischer Forschung mit postkolonialer Ausrichtung wird immer wieder beschreibbar, wie das Subjekt von seiner Umgebung eingeschränkt wird. Beforscht wird diese einschränkende Umgebung, die die Person verobjektiviert. Die Person selbst kann gar nicht anders als ein Subjekt in Erscheinung treten, so dass die Forschung selbst mit der emanzipativen Ausrichtung die Schüler/innen als solche modellieren muss, die in den gesellschaftlichen Strukturen und Diskursen funktional sind. Die scheinbar emanzipative Subjektorientierung ist zu überwinden – aber auch diese Form der Subjektkritik ist von gesellschaftlichen Diskursen bestimmt.

3. In der dritten Linie wird gefordert, die Orientierung an dem Subjekt, der Person oder auch dem Individuum hinter der Modellierung – das ist der Ansatzpunkt, um immer wieder neues Anderssein zu konstruieren – insgesamt aufzugeben. Für die Einstellungs- und Vorstellungsforschung, aber auch für die Unterrichtsforschung ist kein X mehr beschreibbar, das nicht immer in seinem Denken und Handeln vorkonfiguriert ist. Der Subjektbegriff und jede Form des markierten Andersseins wird aufgegeben, um das Ich zu retten. Nicht die Inklusion der verborgenen wirklichen Person ist die Herausforderung, sondern der Schutz vor der Totalinklusion – wie auch an dem Begriff der „Heterogenität“ gut sichtbar wird (Reis, 2020). Das religionspädagogische Interesse an Menschen ist aus dieser Sicht immer ein Interesse für die eigenen Belange. Noch so oft kann die Bedeutung der Subjekte/Personen/Individuen usw. behauptet werden, sie sind eine Variable, um die eigene Forschungserzählung im Plot zu fassen. Beforscht werden hier Praktiken, die Menschen aufrufen, die aber vor den Menschen da sind, Netzwerke, in denen Menschen von Akteuren aufgefordert werden und selbst wieder andere Akteure auffordern, oder Systeme, die Kommunikation über Erwartungsstrukturen organisieren. Das dahinterliegende Persönliche bleibt unsichtbar und wird gerade so gerettet – auch vor der Forschung. Doch diese Linie wird in der religionspädagogischen Forschung nur wenig erzählt, die anderen beiden Linien sind auf der Ebene der identitätsstiftenden Narrative gut bewehrt. Da die Systemtheorie

„Intentionen von Subjekten (…) in ihrer Relevanz negiert“ und „sich in dem Maße radikalisiert, dass sie die Komplexität und Autonomie der jeweiligen Teilsysteme erhöht, dabei aber die lebensweltlichen Ressourcen der Subjekte unterspült, (…) gefährdet sie die Gesellschaft insgesamt“ (Grümme, 2018, S. 96–97).

Das Problem der beiden ersten Linien wird eher so versucht zu bearbeiten, dass die zweite Linie durch eine Steigerung der Subjektorientierung reflexiv über die erste aufklärt:

„Denn was passiert, wenn die religionspädagogische Wissenschaftstheorie nicht auf ihre Implikationen, ihre Voraussetzungen, ihre stillschweigenden und unausgewiesenen Unterstellungen reflektiert, wenn sie nicht kritisch bedenkt, inwieweit ihre Vollzüge, ob sie dies will oder nicht, in einer – freilich noch genauer – zu bestimmenden Weise mit Macht zu tun haben? Sie könnte nicht jene performativ vollzogenen Inklusionen oder Exklusionen analysieren, die die Intention einer auf Bildung, Freiheit und Mündigkeit aller Subjekte abzielenden Religionspädagogik konterkarieren“ (Grümme, 2019, S. 23–24).

Das ist eine sinnvolle Erzählstrategie, mit der Nebenfolge, dass erneute Subjektmodellierungen für die Befreiung des Subjekts aus den Modellierungen legitimiert werden.

Offenbar lässt die religionspädagogische Forschung sehr unterschiedliche Formen zu, die Subjektorientierung im Plot zu nutzen, solange der Rahmen nicht hinterfragt wird. Und so zeigt Tab. 1 unterschiedliche Kontexte, in denen Subjekte in ihrem Anderssein gegenüber Anderen beschrieben werden. Und diese unterschiedlichen Modellierungen erlauben dann unterschiedliche Forschungen. Die Kindertheologie grenzte sich z.B. zunächst von der Erwachsenentheologie ab und differenzierte dann noch einmal die Jugendtheologie aus. Diese Modellierung von Menschen als Kind oder als Jugendliche sorgte für entwicklungsspezifische Vorstellungs- und Verhaltenswelten, die Unterrichtssettings unterscheiden helfen. Die Modellierung als Schüler/in dagegen spannt Menschen in Unterricht und damit in bestimmten Rollenasymmetrien ein. Diese können unreflektiert übernommen werden oder gerade aufgebrochen werden – je nach Intention. Wenn Kinder als Theolog/innen modelliert werden, dann wird ihnen damit ein bestimmtes Potenzial zugeschrieben, das Handlungserwartungen formuliert, die dann wieder durch Rollenasymmetrien eingefordert werden können. Sie werden aber immer von wissenschaftlichen Theolog/innen abgegrenzt, um den pädagogischen Kontext aufrechtzuhalten, sie bleiben behandelbar.

Tab. 1: Modellierungen in der Subjektorientierung und deren Funktionalität

2.4 Subjekte in den Narrativen und die nicht-erzählten Subjekte

Schon die bisherigen Überlegungen haben auf zwei Phänomene aufmerksam gemacht: Erstens kann über die Subjektorientierung Anderssein homogenisiert (Schüler/innen sind heute nicht kirchlich gebunden.) und auch heterogenisiert (Entgegen den üblichen Annahmen gibt es auch Schüler/innen mit einer hohen kirchlichen Bindung) werden. Es ist zweitens möglich, über die Subjektorientierung mal die Person und mal die Umgebung zu fokussieren. Das kann zu dem interessanten Effekt führen, dass – wie in Abb. 3 dargestellt – die Subjektorientierung auf der Rahmeneben begründet, warum man z.B. Region (ländlicher/städtischer Raum) als Kontext für religionspädagogisches Handeln beforscht, aber im Forschungsprozess folgerichtig vor allem die Kontextfaktoren beforscht. Dabei benutzt man das Regionalitätsprinzip einerseits, um die Heterogenitätssensibilität zu steigern, andererseits werden dabei aber die Schüler/innengruppen in den Regionen homogenisiert. Sie werden als normalverteilt gegenüber dem Differenzmerkmal angenommen. Das Engagement für die Schüler/innen einer bestimmten Raumordnung wird in die Arbeit an den Raumfaktoren überführt. Das ist sinnvolle Arbeit, aber die Subjekte sind am Anfang anders, deshalb ist Forschung nötig. Ihre Bedingungen sind zu verbessern. Aber am Ende, wenn die differenzerzeugenden kontextuellen Faktoren erhoben sind, werden sie geradezu in den Differenzmerkmalen festgeschrieben. Sie sind für den Forschungsprozess zur bekannten Umwelt geworden. Man weiß schon genügend über ihre problematische Ausgangslage und so werden sie Teil des Narrativs.

Abb. 3: Transformation der Subjekte zu Variablen im Forschungsprozess

Die zentrale Erkenntnis aus diesen Überlegungen ist, dass die Subjektorientierung in den Forschungsprozessen immer weiter Subjekte ausdifferenziert, ohne dass es wirklich um die Subjekte geht, sie bleiben der Forschung äußerlich. Auch wenn sich die Religionspädagogik für diese Subjekte advokatorisch beauftragt sieht, sollte man nicht die narrative Innenwelt mit der Wirklichkeit verwechseln. Es geht der Religionspädagogik um sich selbst, um ihre Reproduktion und dafür braucht sie Subjekte, braucht sie das stetige neue, modellierbare Anderssein.

3 Konsequenzen und Ertrag

Die Subjektorientierung ist ein Element innerhalb der religionspädagogischen Forschungslogik und ist beteiligt am narrativen Rahmen und der Plotbildung. Die Modellierungen in den Narrativen sind Teil des operativen Erzählens. Auf diese Modellierungen kann die Religionspädagogik auch nicht verzichten. Sie bilden die Prämisse für die Erzählungen, so dass religionspädagogische Narrative in ihrem Subjektbezug Subjekte brauchen und verbrauchen. Jedes Narrativ hebt etwas hervor und nimmt anderes aus der Aufmerksamkeit. Religionspädagogische Narrative sind an diese Geschlossenheit des Erzählens gebunden, so dass die religionspädagogischen Problematisierungen und Lösungen in der Erzählung erschaffen und bewältigt werden. Jede erzählte Lösung besitzt auf diese Weise ihre eigene Überzeugungskraft, ihre verdrängten Alternativen und ihre Nicht-Lösung. Der Zugzwang, trotzdem immer weiter zu forschen, liegt auch im Wissenschaftssystem begründet, das die Religionspädagogik zu Forschung und damit zu Problematisierungen für die Subjekte drängt, da sie damit im System Plausibilität erreicht. Das System muss aber nicht überwunden werden, es bietet den Rahmen, um auf genau diese Weise Wissen über die bedrängten Subjekte zu erwerben – selbst wenn durch das narratologisch informierte Wissen klar ist, dass sich die Bedrängung durch die Narrative nicht verändert. Wir operieren nicht außerhalb von Narrativen, sondern in ihnen, deshalb wird die Religionspädagogik weiter neue bedrängende modellierende Ansprüche an die Menschen formulieren, um die Bedrängung zu lindern. Das Ziel des Beitrags ist es nicht, die Religionspädagogik im Angesicht der Paradoxie zu lähmen.

Die Analyse hilft aber erstens dabei, die eigenen Pfadabhängigkeiten zu erkennen. Religionspädagogische Forschung ist in ihren Intentionen und Plotentscheidungen gut durchschaubar. Und die Intentionen werden nicht in ihr gebildet, sondern in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Trends. Das hat zur Folge, dass religionspädagogische Forschung – über den Narrativ-Zugang – auf das Ungleichgewichtig zwischen dem advokatorischen, selbstgesetzten Auftrag und den blinden Flecken für die eigenen Operationen aufmerksam gemacht wird.

Die Analyse verweist so zweitens darauf, dass die Überzeugung der Subjektorientierung zu dienen, für die Prozesse blind machen könnte, in denen die Praktiken in der Religionspädagogik aus vielerlei Gründen selbst nicht diesen Standards genügen. Die Erzählung von der Subjektorientierung ist der Religionspädagogik aufgegeben, aber sie ist damit in eine gesellschaftliche Gemengelage eingespannt, deren wahren Intentionen sich nicht immer durchblicken lassen. Solange die Religionspädagogik so wenig darüber weiß, wem und was sie mit der Subjektorientierung dient, wäre es aus meiner Sicht gut, sparsam im Urteil über z.B. die Kirche und ihre Verdrängungen zu sein, bzw. in das Urteil sich selbst einzuschließen. Die Religionspädagogik wird sich und ihre Praktiken zukünftig selbst viel stärker als Referenz beobachten müssen. Was für sie selbst nicht geht, sollte sie auch nicht von anderen fordern.

Die Überlegungen sollen drittens nicht dazu aufrufen, religionspädagogische Forschung einzustellen. Aber neben den üblichen Ansätzen, mit dem Problem umzugehen, das die narratologische Analyse vorgelegt hat, gibt es durchaus auch strategische Ansätze, die zumindest die simple, gradlinige Weiter-So-Erzählung etwas unterbrechen und das Selbstverständnis steigern könnten. Ich denke hier vor allem daran, a) bisherige Forschungen in praktischen Interventionen zu erproben, b) Ergebnisse im Geltungsanspruch zu validieren und vor allem auch zu falsifizieren, c) Häresiebildung zu unterstützen, um überhaupt mehr Alternativen und ihre Konsequenzen zu erkennen. Die Bewehrung bestimmter Prämissen ist nachvollziehbar, um die Anschlussfähigkeit zu steigern, aber die Variation der Erzählung und das gegenseitige Prüfen der Erzählung ist schon sehr gering (Mendl, 2020, S. 12–14). Auch d) die historische Forschung wäre eine willkommene Abwechslung, sie könnte verdrängte Alternativen stark machen und das Bewusstsein für bestimmte Muster der Plotbildung schärfen, um gegenüber den eigenen Erzählungen misstrauisch zu sein.

Nun beende ich das Experiment, narratologisch auf die religionspädagogische Forschung zu schauen. Bisher ist es in der Religionspädagogik wenig verbreitet, in Forschungen Narrative zu entdecken. Die selbstreflexive Rekonstruktion war für mich ertragreich, aber nicht unproblematisch. Sie erzeugt eine Perspektive, gegen die sich die Religionspädagogik mit der Subjektorientierung wehrt. Und wollen wir über unsere eigenen Mechanismen aufgeklärt werden? Und bräuchten wir dazu die Narratologie? Nein, bräuchten wir nicht. Auch andere konstruktivistische Theorien können das (Reis, 2016). Es erzeugt jedoch schon einen eigenen Reiz, Kommunikation als Erzählung zu verstehen und die Erzählmechanismen im eigenen Diskurs zu erkennen. Aber es ist auch kein Zufall, dass narrative Rekonstruktionen in der Regel auf vergangene oder fremde Kommunikationen gerichtet werden. Dann lässt es sich besser mit dem eigenen Narrativ leben.

Literaturverzeichnis

Boschki, R. (2007). Der phänomenologische Blick: „Vierschritt“ statt „Dreischritt“ in der Religionspädagogik. In: Ders. & M. Gronover (Hrsg.), Junge Wissenschaftstheorie der Religionspädagogik (Tübinger Perspektiven zur Pastoraltheologie und Religionspädagogik 31) (S. 25–47). Berlin: LIT-Verlag.

Brandstetter, B. & Reis, O. (2020). Machtvolle Differenzierungen: Wie Inklusionsdiskurse (religions-)pädagogische Praxis prägen. In: T. Knauth, R. Möller & A. Pithan (Hrsg.), Inklusive Religionspädagogik der Vielfalt. Konzeptionelle Grundlagen und didaktische Konkretionen (S. 375–385). Münster: Waxmann.

Brieden, N. (2022). Paradoxien entfalten und bearbeiten. Beobachtungen zu Differenzierungspraktiken in der Religionspädagogik aus konstruktivistischer Perspektive. Stuttgart: im Erscheinen.

Grümme, B. (2018). Aufbruch in die Öffentlichkeit? Reflexionen zum ‚public turn‘ in der Religionspädagogik. Bielefeld: transcript.

Grümme, B. (2019). Religionspädagogische Denkformen. Eine kritische Revision im Kontext von Heterogenität (Quaestiones Disputatae 299). Freiburg i.Br.: Herder.

Koschorke, A. (2012). Wahrheit und Erfindung. Grundsätze einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a.M.: Fischer.

Langenhorst, G. (2020). Evangelikal – charismatisch – katholisch?  Religionspädagogische Herausforderungen durch eine neuartige Liaison. RpB, 83, S. 89–97.

Luhmann, N. (1998). Religion als Kommunikation. In: H. Tyrell, V. Krech & H. Knoblauch (Hrsg.), Religion als Kommunikation (Religion in der Gesellschaft) (S. 135–145). Würzburg: Ergon.

Lyotard, J.-F. (1987). Postmoderne für Kinder. Briefe aus den Jahren 1982–1985. Wien: Passagen.

Mendl, H. (2020). Blinde Flecken. Ein wertschätzend-kritischer Blick zurück. RpB, 83, S. 5–14.

Reis, O. (2016). Was kann eine konstruktivistische Religionsdidaktik von der Narratologie lernen? In: G. Büttner, H. Mendl, O. Reis & H. Roose (Hrsg.), Narrativität (Religionen Lernen. Jahrbuch für konstruktivistische Religionsdidaktik 7) (S. 175–180). Babenhausen: LUSA.

Reis, O. (2020). Unisichtbar, lähmend oder steuernd. Heterogenität als didaktischer Akteur im Unterricht. In: B. Grümme, T. Schlag & N. Ricken (Hrsg.), Heterogenität. Eine Herausforderung für Religionspädagogik und Erziehungswissenschaft (Religionspädagogik innovativ 37) (S. 137–150). Stuttgart: Kohlhammer.

Sajak, C. P. (2020). Interreligiöses Lernen – aber wie? Gedanken zur Zukunftsfrage des schulischen Religionsunterrichts. RpB, 83, S. 61–70.

Schulte, G. (2013). Der blinde Fleck in Luhmanns Systemtheorie (1993) (Wissenschaftliche Paperbacks 23). Berlin: LIT-Verlag.

Willems, Joachim (2021). Narrative in der religionspädagogischen Forschung. In: Theo-Web, 2, S. 71–80

Woppowa, J. & Caruso, C. (2021). Gemeinsam lernen? Erkenntnisse und kritische Anfragen aus einem Unterrichtsversuch zum religionskooperativen Religionsunterricht. In: M. H. Tuna & M. Juen (Hrsg.), Praxis für die Zukunft. Erfahrungen, Beispiele und Modelle kooperativen Religionsunterrichts. Stuttgart: Kohlhammer (im Erscheinen).

Dr. Dr. Oliver Reis, Professor für Religionspädagogik unter besonderer Berücksichtigung von Inklusion, Katholisches Institut an der Universität Paderborn.