Die Überschrift der Tagung lädt zum Räsonieren ein: „,Verlust der Mitte‘ – Ein prägendes religionspädagogisches Narrativ!?“ Es enthält ein Fragezeichen und ein Ausrufezeichen. In der Tat überwiegen bei mir die Fragezeichen, wenn ich mich der mir zugewiesenen Fragestellung annähere. Und zwar in zweierlei Hinsicht: Ich habe meine Anfragen, was die Begrifflichkeit des Narrativs betrifft, vor allem inhaltlich entfaltet auf die These vom „Verlust der Mitte“ hin. Das führt zum zweiten Vorbehalt, wenn ich diese These auf die Studierenden hin anwende.
1 Narrativ – ein sozialwissenschaftliches Modewort
Zum ersten Vorbehalt: Narrativ ist ein sozialwissenschaftliches Modewort, das inzwischen auch theologisch kräftig in Gebrauch genommen wird – von der narrativen Exegese bis hin in die Religionspädagogik hinein: Auch das 7. Jahrbuch unseres Vereins für Konstruktivismus in Theologie und Religionsdidaktik e.V. wendete sich im Jahr 2016 dem Thema „Narrativität“ zu (vgl. Büttner, Mendl, Reis & Roose, 2016). Was versteht man unter einem Narrativ? Ein Narrativ ist eine sinnstiftende Erzählung; also ein Konstrukt, wie wir unsere Welt wahrnehmen und wir sie dann auch wortreich beschreiben. Ganz wichtig: Ein Narrativ enthält neben Kognitionen auch Emotionen. Der Bezugspunkt und die Reichweite dieses soziologischen Konstrukts können unterschiedliche soziologische Einheiten sein, z.B. die Gesellschaft allgemein, für die Lyotard die These vom Ende der Metaerzählungen geprägt hat (Lyotard, 1979 u. 2021). Religionspädagogisch bedeutsam sind sicher narratologische Ansätze einer Erzähltheorie (Koschorke, 2012), um beispielsweise biblische Texte und ihre Verwendungszusammenhänge besser zu verstehen (Fischer, 2013).
Nach dem behaupteten Ende der Metaerzählungen gibt es, so die soziologische Grundannahme, eine Vielzahl kleiner Narrative. Die These vom „Verlust der Mitte“ ist ein solches Narrativ. Eine Hypothese? Eine Alltagstheorie? Oder nur ein wissenschaftlich aufgeblähtes Vor-Urteil? Ich weiß es nicht und erwarte mir eine Aufklärung durch diese Tagung!
2 „Verlust der Mitte“ – in Gesellschaft und Kirche?
Damit bin ich beim zweiten Vorbehalt: Ich kann die These vom „Verlust der Mitte“, wie sie auch in der Einladung skizziert ist, durchaus nachvollziehen: Unsere Gesellschaft differenziert sich in einem zunehmenden Maße aus; die Ränder wachsen an. Diese soziologische Analyse leuchtet mir zwar ein, wobei ich schon im politischen Zusammenhang meine Zweifel anmelden möchte: Alle politischen Parteien tummeln sich derzeit in der Mitte. Bei den Analysen der Bundestagswahl 2021, die kurz nach der gemeinsamen GwR- und AKRK-Tagung stattfand, wurden ähnliche Deutungsmuster formuliert: Zwar hat sich das Parteienspektrum ausdifferenziert, aber letzten Endes beanspruchen alle Parteien, die für eine Regierungsbildung in Frage kommen, irgendwo in der „Mitte“ angesiedelt zu sein.
Meine Vorbehalte vertiefen sich, wenn ich das Narrativ vom Verlust der Mitte auf Kirche und Religion beziehe; meine Wahrnehmung ist hier eher entgegengesetzt gelagert: Wenn ich an die Kirchen, ihre Organisationen, Praktiken und Räume denke, dann erscheinen sie mir immer noch als zu sehr mittelschichtsorientiert – und zwar gleichermaßen in Sprache wie im Stil (Altmeyer, 2011). Belegen kann ich diese Wahrnehmung mit den Sinus-Milieustudien (Calmbach, Borgstedt, Borchard, Thomas & Flaig, 2016; Mendl, 2021, S. 50-53): Nur noch wenige, eher mittige Milieus, haben einen Zugang zu Kirche, die gesellschaftlichen Leitmilieus (z.B. die modernen Performer bzw. Expeditiven) und die Randmilieus (die prekären) sind weit von Kirche entfernt. „Hinaus ins Weite“ (Ebertz & Hunstig, 2008) lautete die Folgerung aus den Sinus-Milieustudien. Kirche müsste viel neugieriger sein auf Menschen, die anders sind. Nicht umsonst propagiert Papst Franziskus immer wieder, die verbeulte Kirche müsse viel stärker „an die Ränder gehen“.
3 Narrative über Studierende
Auch der Blick auf unsere Studierenden lässt meine Skepsis bezüglich des Narrativs vom Verlust der Mitte wachsen; dabei nehme ich im Folgenden ausschließlich die Lehramtsstudierenden in den Blick.
Ich beginne mit einer Globaleinschätzung, die eher das Gegenteil belegt, und wende mich dann drei deutlicher fachbezogen-theologischen Narrativen zu, von denen man aus das Narrativ vom Verlust der Mitte durchaus stützen könnte.
3.1 „Lehramtsstudierende sind eher mittelmäßig“
Achtung: Die folgenden Ausführungen können schnell als ein Studierendenbashing verstanden werden; nichts liegt mir ferner! Dennoch erscheint es als legitim, sich die soziologischen Voraussetzungen unserer Studierenden einmal genauer anzuschauen. Die wenigen Studien, die es gibt, belegen eindeutig: Nicht die Spitzenabiturienten, sondern eher die mittelmäßigen nehmen in Deutschland ein Lehramtsstudium auf (FAZ, 25.12.2009). Martin Neugebauer leitet seine Untersuchung mit dem bezeichnenden Titel „Wer entscheidet sich für ein Lehramtsstudium – und warum? Eine empirische Überprüfung der These von der Negativselektion in den Lehrerberuf“ mit folgendem Narrativ ein: „In öffentlichen Diskussionen wird häufig die Annahme formuliert, dass sich Personen mit ungünstigen kognitiven und motivationalen Merkmalen für den Lehrerberuf entscheiden“ (Neugebauer, 2013, S. 1); die Ergebnisse seiner Studie belegen, dass nicht-gymnasiale Lehramtsstudierende schlechtere Abiturleistungen und eine geringere fachliche sowie wissenschaftliche Studienwahlmotivation aufweisen. Neugebauer folgert weiter zu den unterschiedlichen Studiengängen: „Des Weiteren zeigt sich, dass insbesondere nicht-gymnasiale Lehramtsstudiengänge vermehrt weibliche Studienberechtigte und solche aus bildungsfernen sozialen Schichten anziehen.“ (Neugebauer, 2013, S. 1). Dass die nicht gymnasialen Studierenden schlechtere Abiturleistungen aufweisen und geringere fachliche sowie wissenschaftliche Studienwahlmotivationen als ihre Kommilitonen im Gymnasiallehramt haben, würde ich hinterfragen: Dort, wo fürs Grundschullehramt ein Numerus Clausus besteht, ist die Ausgangslage nochmals eine ganz andere.
Man könnte als ein weiteres Narrativ anschließen, dass Lehramtsstudierende eher bodenständig sind; da dürften alle Kolleginnen und Kollegen spontan zustimmen: Lehramtsstudierende studieren mehrheitlich im eigenen Bundesland oder noch enger in der eigenen Region und entscheiden sich nicht für heimatferne Studienorte. Lehramtsstudierende organisieren ihr Studium in einem hohen Maß als lebensweltlich segmentiertes Regionalstudium – man fährt abends nach Hause, das heißt zu Mama und Papa, Freund und Hund.
Lehramtsstudierende sind zudem in besonderem Maße geprägt von der Bologna-Logik und leiden auch darunter; im Vergleich zu den Bachelorstudiengängen sind Lehramtsstudiengänge in allen Bundesländern kleinmaschiger organisiert und enthalten viele graue Leistungsbereiche. Die Folge: die Studierenden müssen viel abarbeiten, sie sind leistungsorientiert, sie kämpfen sich durch die Modulprüfungen, die sich wie ein Flächenfraß auch über die vorlesungsfreie Zeit ausbreiten. Das ist systemisch bedingt, die damit verbundenen Implikationen eines Tunnelblicks und einer gering ausgeprägten Diskursfreude kann man den Studierenden nicht vorwerfen.
Im Rahmen einer Untersuchung, die Ulrich Riegel und ich vor einigen Jahren durchgeführt haben, wurde indirekt auch nach der politischen Orientierung gefragt (Riegel & Mendl, 2011, S. 349): die Mehrheit der befragten evangelischen und katholischen Lehramtsstudierenden ist bürgerlich-liberal (675) gefolgt von den konservativen (475), weit weniger sind links-alternativ (125). Also auch hier: eher mittig!
Den jüngeren Kolleginnen und Kollegen sei empfohlen: Dieses Feld der Studierendenausgangslage wäre längst mal wieder eine Untersuchung wert, denn auch Neugebauer folgert, „wie unbefriedigend der empirische Kenntnisstand zu den leistungsbezogenen, motivationalen und soziodemographischen Eingangsmerkmalen von Lehramtsstudierenden ist“ (Neugebauer, 2013, S. 3).
Ich möchte einige andere deutlicher fachbezogene Narrative, die immer wieder formuliert werden, genauer unter die Lupe nehmen:
Ein erstes Narrativ lautet: „Die Wahl für das Fach oder Didaktikfach Theologie erfolgt, weil Theologie als ein vermeintlich leichtes Fach gilt.“
Ein zweites: „Theologiestudierende sind nicht mehr gläubig bzw. grundlegend religiös sozialisiert.“
Ein drittes: „Die Zahl der evangelikalen/charismatischen Lehramtsstudierenden nimmt zu.“
Das zweite und dritte Narrativ stellen im engeren Sinne Spielformen eines Verlusts der Mitte dar: die Studierenden sind entweder zu wenig oder zu viel fromm, also nicht „normal“ religiös sozialisiert!
Wie erwähnt: die Untersuchungen zu Theologiestudierenden sind nicht üppig; ich referiere im Folgenden aus zwei Studien. Die eine stammt von Ulrich Riegel und mir (Riegel & Mendl, 2011, 2013), die zweite von Christhard Lück (Lück, 2012); beide beziehen sich auf Lehramtsstudierende mit Fach Religion, beide nehmen dabei sowohl katholische als auch evangelische Lehramtsstudierende in den Blick. Und beide Untersuchungen sind schon einige Jahre alt, aber ich bin davon überzeugt, dass die erhobenen Tendenzen auch heute noch gültig sind.
3.2 „Das Fach Theologie wird aus extrinsischen Motiven gewählt.“
Wieso studieren junge Menschen das Fach Theologie? Das Ergebnis der genannten Studien ist eindeutig: Aus extrinsischen Motiven (z.B.: leichteres Fach, Empfehlung der Eltern, bessere Berufschancen) entscheidet sich heute kaum mehr jemand für ein Theologiestudium. Es dominieren eindeutig die intrinsischen Motive: das persönliche Interesse an theologischen Fragestellungen, Lust auf Gespräche über theologische Themen sowie die Klärung persönlicher Glaubensfragen – wobei sich da gleich die Frage stellt, wo im Studium dieses Bedürfnis erfüllt wird – sowie guter selbsterlebter eigener Religionsunterricht (Riegel & Mendl, 2011, S. 349-350). Lück stellte fest, dass eine externe Motivation häufiger zum Studienfachwechsel führt (Lück, 2012, S. 202-203).
Mich hat diese klare Tendenz damals selber erstaunt; dies ist für mich ein Beleg dafür, dass empirische Erkenntnisse durchaus die Wahrnehmung der Wirklichkeit verändern und schwache Narrative aus den Angeln heben können. Ich sehe unsere Studierenden seitdem mit anderen Augen und unterstelle ihnen ein zumindest alters- und entwicklungsspezifisch ausgeprägtes Interesse an Theologie.
3.3 „Religionstudierende sind nicht mehr religiös sozialisiert“
Dieses Narrativ – die abnehmende religiöse Basissozialisation unserer Studierenden – wird häufig von Kirchenseite aus unterstellt, gelegentlich aber auch von fachwissenschaftlichen und religionspädagogischen Kolleginnen und Kollegen geäußert.
Was die religiöse Sozialisation betrifft, so ist die Streuung natürlich breit: Ein Zitat von Christian Lück: „Theologiestudierende unterscheiden sich in ihrer familiären und gemeindlichen religiösen Sozialisation sowie eigenen religiösen Praxis zum Teil erheblich“ (Lück, 2012, S. 209). Auch regional gibt es durchaus Unterschiede. Wenn ich auf der Basis meiner eigenen subjektiven Empirie für den Standort Passau spreche, stelle ich immer wieder fest, dass überraschend viele unserer Studierenden mit einer (noch) grundlegenden, aber natürlich auch durchaus konventionellen religiösen Sozialisation in der Familie ein Studium beginnen. Das wurde mir beispielsweise deutlich bei einem Ausstellungsprojekt „Gesichter der Religionen“ (Mendl, 2017), bei dem die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Seminargruppe auch ein Poster zur eigenen Person gestalten durften (oder mussten): Es überraschte mich, wie viel von familiären und gemeindlichen Aktivitäten berichtet wurde: fast alle waren Ministrantinnen und Ministranten, einige berichteten davon, dass sie Tauf- oder Firmpate oder Trauzeuge waren, sie erzählten von familiären Riten und Bräuchen, sie benannten Grenzerfahrungen und Glaubenszweifel. Eine Umfrage (Zoom machts möglich!) in einer religionspädagogischen Hauptvorlesung im letzten Semester ergab, dass 80 % der Studierenden über breit gefächerte und natürlich unterschiedlich intensive aktive gemeindliche Erfahrungen verfügen. Aber selbstverständlich nimmt dies im Verlauf des Studiums ab, wie eine weitere Umfrage ergab, weil das Studium eher eine Zeit der Loslösung und nicht der Bindung darstellt.
Selbst die Verbundenheit mit der Kirche ist erstaunlich hoch, so Christian Lück (Lück, 2012, S. 211-212): Nur jeder 12. evangelische Studierende und nur knapp ein Viertel der katholischen fühlen sich nicht mit der Kirche verbunden. Eine weitere Befragung meiner Studierenden ergab: Wo es positive (personale) Berührungspunkte vor Ort gibt, ist die emotionale Bindung zur Ortskirche hoch. Leider berichten nicht wenige von gegenteiligen Erfahrungen, die meist mit kommunikationseingeschränkten und theologisch eigenartig gestrickten Priestern vor Ort zusammenhängen. Insgesamt scheint es aber so etwas wie eine religiöse Grundeinstellung zu geben, die sich durchaus von der Kirche als ganze abkoppelt: Bei unseren (katholischen!) Studierenden kommen die Diözesanebene und die Ebene der Weltkirche sehr schlecht weg, weil die entsprechenden unverrückbar wirkenden Positionen (Klassiker: Sexualität, Zölibat) als weltfremd anmuten. Ähnlich wie bei der Tübinger Untersuchung vor einigen Jahren scheint mit zunehmendem Jugendalter eine Entfremdung von Kirche einzutreten, sofern eine Nähe vorhanden war; man fühlt sich als gläubig, aber nicht so sehr religiös im Sinne einer Bindung an Kirche (Schweitzer, Wissner, Bohner, Nowack, Gronover & Boschki, 2018, S. 19-20).
Die These, Religionstudierende seien religiös kaum mehr sozialisiert, lässt sich nach den vorliegenden Befunden auf keinen Fall halten – sie sind eher sehr unterschiedlich!
3.4 „Religionstudierende sind zunehmend konservativ – charismatisch – evangelikal“
Kolleginnen und Kollegen von einigen Studienstandorten berichten, dass die Anzahl von Studierenden, die eher dem konservativen Milieu (charismatisch, evangelikal-freikirchlich) zuzuordnen sind, ansteigt. Das beschreibt auch Konrad Hilpert, der ehemalige Lehrstuhlinhaber für Moraltheologie in München, ohne eine genaue Zielgruppe zu benennen (Hilpert, 2012): Er nimmt eine zunehmende Zahl von Studierenden wahr, für die bereits alles klar zu sein scheint (das ist an katholischen Fakultäten besonders auch bei Priesteramtskandidaten zu beobachten); sie würden deutlich erklären, sie wollten nur die Lehre der Kirche kennenlernen, nicht die irgendeines Professors oder irgendeiner Professorin. Kollegen aus Augsburg und Eichstätt berichten Ähnliches. Die Niederbayerin ist in ihrer Religiosität etwas nüchterner strukturiert: Wir haben zwar durchaus einige wenige hallelujafreudig ausgerichtete junge Frauen, die konfessorisch auch mit Blogs in digitalen Welten präsent sind, aber sie sind immerhin kommunikationsoffen und diskursfreudig.
Als fast schon müßig empfinde ich in diesem Zusammenhang die Frage nach der Gebetspraxis von Studierenden, da die entsprechenden Daten zur Deutung Anlass geben (Riegel & Mendl, 2011, 251-252): Ist das Glas nun halbvoll oder halbleer? Wenn sie Auskunft geben, dann sind unsere Studierenden auch in ihren rituellen Kompetenzen eher konventionell geprägt, auch was religiöse Praktiken und die (geringe) Vertrautheit mit religiösem Liedgut betrifft. Ich würde mir hier manchmal mehr Innovatives und durchaus auch Randständiges und Kritisch-Suchendes wünschen! Auch hier nehme ich zu viel konventionelle Mitte wahr!
Insgesamt erscheint es mir aber nachvollziehbar zu sein, dass unsere Studierenden von einem individualisierten Glauben geprägt sind und dass die Gemeindebindung im Laufe des Studiums abnimmt. Sie sind auf der Suche („Questreligion“) nach Gemeinschaft und nach überzeugender religiöser Praxis. Die Frage ist, wo hier im Studium der Platz ist, um dem Raum zu geben: Katholische Hochschulgemeinden und gute Mentorate können das sein, das Engagement in Jugendverbänden und bei Tagen der religiösen Orientierungen. Was können wir an staatlichen Universitäten hier tun?
4 Folgerungen für den Umgang mit den skizzierten dekonstruierten Narrativen
Ich formuliere abschließend thesenartig einige Aufgabenstellungen im Umgang mit „diesen“ Studierenden:
- Studierende müssen im Studium immer wieder eine reflektierte Bearbeitung des eigenen Standorts leisten – im Abgleich zwischen konfessionellen Ansprüchen und der eigenen konfessorischen Standpunktfindung.
- Studierenden sollten schon im Studium zu einer reflektierten Bearbeitung der Verbindung und der Unterscheidung von gelehrter und gelebter Religion angeleitet werden (Rothgangel, 2019, S. 3).
- Eine dritte, zentrale Folgerung: Wenn Heterogenität auch unter Studierenden der Normalfall ist, dann ist die Befähigung zum Umgang mit Pluralität bzw. Heterogenität die zentrale Aufgabenstellung. Sie zeigt sich nicht nur als Herausforderung des schulischen Unterrichts, sondern bereits als Erlebnis-, Begegnungs- und Diskursfeld im Studium. Insofern ist es zu begrüßen, wenn sich – um in unserem narrativen Bild zu bleiben – nicht alle Studierenden in die Mitte drängen, sondern die Ränder konturierter werden: Studierende ohne religiöse Sozialisation mit je eigenen Fragen, charismatisch-überzeugte mit eigenem Profil. Ein Beispiel: An der Katholischen Hochschulgemeinde in Passau sind, vom Bischof initiiert, Fokus-Missionare aus Amerika zugange, die in ihrer konservativen Grundausrichtung und in ihrer Art, Bibel- und Gebetskreise durchzuführen, durchaus Diskussionen und Gegenrede hervorrufen. Hier hat sich kürzlich eine alternative studentische Gruppierung „Projekt Glaubensraum“ gegründet, die hier auf eine andere Weise religiöse Fragenstellungen angehen will.
Fazit: Ich habe, auch dank der empirischen Untersuchungen, gelernt, den gängigen Narrativen nicht zu sehr zu trauen und höre seitdem stärker auf das hin, was die Studierenden selber äußern! Was das Narrativ vom Verlust der Mitte betrifft, so bin ich auf einer fachbezogenen Ebene zumindest äußerst skeptisch, wenn ich es auf unsere Studierenden anwende!!
Literaturverzeichnis
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