Einleitung

Der Inklusionsdiskurs im deutschsprachigen Raum hat in den letzten Jahren eine erhebliche Dichte und Komplexität erreicht, sodass die gesamte Topographie kaum noch überschaubar ist.[1]Zahlreiche Studien, Aktions- und Programmschriften sowie Projekte liegen mit verschiedenen Ausrichtungen und Schwerpunktsetzungen vor. Unterschiedliche Bedeutungsebenen, die in jeweiligen Literaturen Begriffe wie Heterogenität, Inklusion, Bildung etc. anders besetzen, sowie diffuse Begriffsverwendungen führen wesentlich zu Komplexitätssteigerungen. Es bedarf einer systematischen Klärung des gesamten Diskursfeldes und seiner zentralen Begrifflichkeiten.

Vor diesem Hintergrund verfolgt der vorliegende Beitrag das Erkenntnisinteresse, die drei Leitbegriffe Heterogenität, Inklusion und Bildung pädagogisch und religionspädagogisch zu beleuchten. Nachdem geläufige Verwendungsweisen der jeweiligen Begriffe dargestellt werden, soll über deren blinde Flecken und mögliche Irritationen kritisch nachgedacht werden. Um einer Vereinseitigung bzw. Verkürzung vorzubeugen, wird schließlich thesenhaft vorgeschlagen, die jeweiligen Begriffe in ihrer Ambivalenz reflexiv aufzufassen.

Inklusion ist ein Querschnittsthema, das sich auch der Theologie und Religionspädagogik stellt. Sie haben allgemeinpädagogische Forschungsergebnisse rezipiert und sich mit verschiedenen Aspekten an wichtigen Debatten zu beteiligen versucht. Theologische und religionspädagogische Forschungsperspektiven und -ergebnisse werden jedoch im allgemeinpädagogischen Inklusionsdiskurs kaum aufgenommen. Angesichts dieser Desiderate wird hier beabsichtigt, die theologisch-religionspädagogische Perspektive noch stärker in den gesamten Inklusionsdiskurs miteinzubeziehen.

1 Zum Begriff der Heterogenität

1.1 „Vielfalt als Normalität“: Wertschätzung der Heterogenität von Schüler*innen

Der Begriff der Heterogenität hat aktuell Konjunktur und durchzieht den gesamten allgemeinpädagogischen Diskurs. Häufig ist von Vielfalt, Diversität, Verschiedenheit und Differenz die Rede – Begriffe, die vielfach als Synonyme verwendet werden. Dabei ist der normative Duktus prägend, dass die Heterogenität der Schüler*innen positiv wertgeschätzt und als ein Ausgangspunkt für die Gestaltung des Lernangebotes angenommen werden solle. In der Erziehungswissenschaft hat v.a. Annedore Prengel mit ihrer „Pädagogik der Vielfalt“ diese neue Sichtweise theoretisch fundiert. Ihr geht es um eine „Pädagogik der intersubjektiven Anerkennung zwischen gleichberechtigten Verschiedenen“ (Prengel, 2019, S. 57).

In der geläufigen Kritik wurde bisher hervorgehoben: Das deutsche Schulsystem und das pädagogische Handeln richten sich immer noch darauf aus, durch Segregation möglichst homogene Gruppe zu bilden, Defizite und Abweichungen von Schüler*innen hervorzuheben und durch pädagogische Maßnahmen auszugleichen. Die neue Sichtweise fordert hingegen, Heterogenität nicht als Defizit bzw. Abweichung von der vermeintlichen Normalität anzusehen, sondern sie in ihrer Eigenständigkeit wahrzunehmen. Sie stellt einen Versuch dar, Homogenitäts- und Defizitorientierungen in herkömmlichen pädagogischen Vorstellungen zu überwinden, und markiert somit einen wichtigen Fortschritt.

1.2 Blinde Flecken: Ist Heterogenität prinzipiell als positiv anzunehmen?

Ungeachtet des innovativen Potentials der neuen Sichtweise stellt sich jedoch die Rückfrage, ob es nicht zu kurz und oberflächlich greift, wenn alle Heterogenitätsdimensionen unter Vielfalt subsumiert werden. Es gibt inzwischen verschiedene Mottos und Slogans, die ausdrücklich die Bejahung der Heterogenität formulieren, wie z.B. „Es ist normal, verschieden zu sein“, „Vielfalt als Bereicherung“, „Gemeinsam unterschiedlich“ etc. Sie erwecken einen Eindruck, als ob Heterogenität per se bereits einen „positiven normativen Wert“ habe (Felder, 2012, S. 148).

Vielfalt als Normalität – dies beschreibt jedoch nicht die Lebenswirklichkeit im deskriptiven Sinne, sondern stellt eher ein Ideal in einem normativen Sinne dar. Eine solche idealistische Vereinseitigung erfährt in dreierlei Hinsicht Kritik:

Aus soziologischer Sicht wird zunächst auf eine mögliche Irritation verwiesen, individuelle Unterschiedlichkeit und sozial bedingte Ungleichheit miteinander zu verwechseln (Huf & Schnell, 2015; Möller, 2015). Eine affirmative Sichtweise auf Vielfalt blendet real existierende Disparitäten und Bildungsungleichheiten aus und führt schließlich dazu, quasi entgegen besserer Absicht bestehende Ungleichheitsverhältnisse zu legitimieren und sie durch Schulbildung zu reproduzieren.

Aus heil- und sonderpädagogischer Perspektive wird eine andere Befürchtung vorgebracht: Unter dem Stichwort der Vielfalt können spezifische Bedürfnisse nach Unterstützung, Förderung und Intervention von einzelnen Schüler*innen vernachlässigt werden (Ahrbeck, 2016a; Speck, 2011, 2019). Otto Speck bedenkt u.a., dass pädagogische Förderungs- und Kompensationsmaßnahmen hierbei als vermeintliche „Defizitorientierung“ disqualifiziert werden können (Speck, 2019, S. 63).

Schließich ist eine durchgängig positive Sichtweise von Heterogenität in Hinsicht auf die Lebenswelt der Schüler*innen nicht haltbar. Sie entspricht weder den Lebenserfahrungen der betroffenen Schüler*innen, noch nimmt sie ihre faktischen Lebensbedingungen ernst.

Diese Lücke der positivistischen Auffassung und deren immanente kontraintentionale Wirkungen sind nachvollziehbar, wenn man sich v.a. Lebenserfahrungen und -bedingungen der Schüler*innen mit Behinderung und der von Ungleichheiten betroffenen Schüler*innen vor Augen führt. Aus Sicht von Schüler*innen mit Behinderung mag die Formel „Es ist normal, anders zu sein“ „einen zynischen Beigeschmack“ erhalten, denn „eine Behinderung ist in Wirklichkeit und vor allem für den Betroffenen durchaus nicht einfach ‚etwas Normales‘“ (Speck, 2019, S. 62). Es soll nicht pauschal banalisiert werden, dass „das Empfinden, nicht so zu sein und so handeln zu können wie andere Menschen“, „in das Selbstverständnis“ der Betroffenen tief eingreifen könne (ebd.). Ein unbedachtes Lob der Vielfalt könnte eher die Möglichkeit einschränken, eigene Grenzen, Leiden und Ängste, die oftmals zu den existenziellen Seiten gehören, frei zur Sprache zu bringen (Ahrbeck, 2016a, S. 234; Speck, 2019, S. 45).

Das Gleiche gilt für sozial benachteiligte und geringqualifizierte Schüler*innen, die möglicherweise nach dem Schulabschluss mit der „Begrenztheit von Zukunftsoptionen“ konfrontiert werden und somit Ernüchterung, Frustration und Resignation erfahren können (Vieregge, 2013, S. 132, 240; Müller, 2008, S. 111). In einer Leistungsgesellschaft werden nicht alle Arten der Verschiedenheit wertgeschätzt, sondern bestimmte als gesellschaftlich „überflüssig“ abgewertet (Dammer, 2011, S. 20). Es wäre pädagogisch nicht verantwortlich, die wahrscheinliche Exklusion nach dem Schulabschluss zu verschweigen und die Notwendigkeit von Förderung, Befähigung und Vermittlung für das spätere gesellschaftliche Leben – insbesondere Arbeitsleben – im Vagen zu lassen. Der positivistische Duktus droht leicht in eine „wohlwollende Vernachlässigung“ bzw. eine billige Vertröstung umzuschlagen, indem über mögliche unerwünschte Folgen bzw. Konsequenzen geschwiegen wird (Weiß, 2010; vgl. dazu Ellinger, 2013, S. 109).

1.3 Verschiedene Heterogenitätsdimensionen differenzieren

Um den bisher angeführten Verkürzungen und deren unerwünschten Nebenfolgen entgegenzuwirken, bedarf es einer sachgemäßen Auffassung von Heterogenität. Es geht um eine differenzierte und reflexive Sicht, verschiedene Heterogenitätsdimensionen bei einzelnen Schüler*innen auf ihre Wirkungen hin pädagogisch zu gewichten (Walgenbach, 2014, S. 24–35; Grümme, 2017, S. 91–97). In groben Zügen ist es hilfreich, zwei unterschiedliche Dimensionen der Heterogenität voneinander zu differenzieren – die Dimensionen, die pädagogisch als Potenzial, Chance bzw. Bereicherung für die betroffenen Schüler*innen eingeschätzt werden, und diejenigen, die eher ein Nachteil bzw. ein Hindernis zur Folge haben und deshalb pädagogische Unterstützung bzw. Kompensationsmaßnahmen benötigen (Kammeyer, 2014, S. 29).

Der Heterogenitätsbegriff ist zugleich personengerecht zu begreifen. Das heißt: Jede*r einzelne der Schüler*innen darf nicht aus dem Blick geraten. Umso wichtiger ist dies, weil gerade Heterogenität ein übergreifender Begriff ist. Der Heterogenitätsbegriff umgreift vielfältige schulpädagogisch relevante Dimensionen – wie z.B. Alter, Geschlechter, Lernvoraussetzungen, Leistungsfähigkeiten, Dis/Ability, sozioökonomischer Hintergrund, Kultur und Religion etc. (Trautmann & Wischer, 2011, S. 40–41). Er ist nämlich „eine zusammenfassende Bezeichnung für ein komplexes Problemfeld“, die verschiedene Einzelphänomene übergreift und sie zugleich abstrahiert (Wenning, 2013, S. 142). Ein übergreifender Begriff kann zwar dabei helfen, vielfältige Einzelphänomene bzw. -bereiche sinnvoll zu ordnen, zu bündeln und zu kanalisieren (Porzelt, 2009, S. 10). Aber man läuft damit Gefahr, dass paradoxerweise unter dem allumfassenden Begriff der Heterogenität das einzelne Individuum ausgeblendet wird (Ahrbeck, 2016a, S. 233). Um diese unerwünschte Folge zu vermeiden, müssen sich pädagogische Fachkräfte bei der pädagogischen Gewichtung von verschiedenen Heterogenitätsdimensionen „am obersten Kriterium des Wohles und der besten Förderung aller Betroffenen“ orientieren (Pirner, 2011, S. 165). Was damit gemeint ist, ist nichts anderes als die Subjektorientierung, die ein schöpfungstheologisch fundiertes religionspädagogisches Grundprinzip darstellt. Es ist im Selbstverständnis der Religionspädagogik tief verankert, sich Kindern und Jugendlichen als Geschöpfen Gottes zuzuwenden und sich als Anwältin für sie einzusetzen (Pemsel-Maier, 2014a, S. 62).

Die bisherige Ausführung zum Heterogenitätsbegriff lässt sich thesenhaft zusammenfassen: (1)Es ist ein differenzierter Blick auf komplexe Heterogenitätsdimensionen geboten (sachgemäß). (2) Für deren pädagogische Erwägung bietet die religionspädagogisch begründete Subjektorientierung ein wichtiges Maß (personengerecht).

2 Zum Begriff der Inklusion

2.1 Inklusion als Paradigmenwechsel

Inklusion ist inzwischen zu einem Leitbegriff für die Veränderung des Bildungssystems und zugleich der Gesellschaft insgesamt geworden. Sie basiert auf der Gleichberechtigung der Einzelnen und artikuliert die selbstverständliche Zugehörigkeit der Marginalisierten zur Gesellschaft. Mit Inklusion wird grundsätzlich „ein Paradigmenwechsel“ vorgenommen: „Es geht nicht mehr um die Integration einer kleinen abweichenden Minderheitsgruppe in die ‚normale‘ Mehrheit. Vielmehr soll die Gemeinschaft so gestaltet werden, dass niemand aufgrund seiner Andersartigkeit herausfällt oder ausgegrenzt wird.“ (EKD, 2014, S. 7) Damit wird dezidiert angesprochen: Inklusion statt Assimilation und Segregation.

Der Inklusionsbegriff ist – ebenso wie der Heterogenitätsbegriff – durch einen normativen und visionären Tenor gekennzeichnet. Insbesondere zeigt der Inklusionsbegriff in der UN-Behindertenrechtskonvention einen stark „normativen“, d.h. „wertebasierten und richtungsweisenden“ Charakter (Wansing, 2015, S. 43). Die Behindertenrechtskonvention basiert grundsätzlich auf der Menschenwürde und spricht schulische und gesellschaftliche Inklusion als ein Menschenrecht für alle an. Mit dem Inklusionsbegriff bieten sich Kriterien für die Beurteilung des bestehenden Systems und zugleich zur Orientierung für Veränderung an. Ein grundsätzliches Hinterfragen von Strukturen gilt zudem als ein wichtiger Erkenntnisgewinn.

2.2 Vorder- und Hinterbühne der Inklusion

Trotz all dieser Bedeutungen ist bei der Einseitigkeit eines normativen und idealistischen Inklusionsbegriffs aus verschiedenen Gründen Vorsicht geboten. Ohne die Wahrnehmung der inneren Widersprüche sowie der äußeren Umsetzungsbedingungen mag die Inklusionsvision nicht nur realitätsfern, sondern sogar ideologieanfällig sein. Die Metapher „Vorder- und Hinterbühne“, die ursprünglich auf den kanadischen Soziologen Erving Goffman zurückgeht, hilft dabei, solche blinde Flecken und kontrafaktische Wirkungen sichtbar zu machen (Janzen, 2012; Schäper, 2014). Was im Vordergrund liegt, scheint klar und unstrittig zu sein, während der Hintergrund möglicherweise viele Rückfragen und Widersprüche versteckt hält. Im Folgenden sollen an zwei Beispielen die Vorder- und Hinterbühne des aktuellen Inklusionsdiskurses beleuchtet bzw. dahingehend befragt werden, welche Widersprüche und Grenzen dem einseitig normativen und idealistischen Inklusionsbegriff innewohnen.

Erstens: Ein neuer Begriff benötigt stets berechtigte Begründungen und einen Neuerungswert. Zur Selbstvergewisserung eines neuen Konzeptes ist die Abgrenzung von alten, bisherigen Konzepten und Praxen unvermeidbar. Dieselbe Logik gilt auch für den Inklusionsbegriff, sodass Vorder- und Hinterbühne entstehen. Auf der Vorderbühne wird gezeigt: Dem neuen Inklusionsbegriff wird v.a. dadurch ein Mehrwert zugerechnet, dass er sich von dem alten Integrationsbegriff abgrenzt (Hinz, 2011; Sander, 2011). Auf der Hinterbühne geschieht jedoch dies: Unter einem neuen Leitbegriff bzw. einem neuen Label der Inklusion werden frühere Integrationskonzepte und -praxen häufig disqualifiziert, während Widersprüche und Grenzen der Inklusion meistens zum Schweigen gebracht werden müssen (Preuss-Lausitz, 2006, S. 94; Ahrbeck, 2016b, S. 50). Was mit Inklusion angesprochen wird, ist allerdings im historischen Rückblick nicht ganz neu. Matthias Trautmann und Beate Wischer (2008) haben im Vergleich der aktuellen Inklusionsdiskussion mit der Gesamtschul- und Bildungsreformdebatte in den 1970er-Jahren ähnliche Argumentationen und Anliegen entdeckt: In beiden Diskursen wird eine Schule für alle angesprochen und innere Differenzierung anstatt Segregation als eine Lösung vorgelegt. Mit der klaren Abgrenzung vom Bisherigen kann jedoch der Inklusionsbegriff seine historische Rückbindung verlieren und schließlich abstrakt und kontextlos bleiben. Der Inklusionsbegriff zeigt neuerdings eine utopische Orientierung, jedoch „ohne dass damit geklärt würde, warum diese moralische Forderung dennoch bislang unerfüllt blieb“ (Dammer, 2011, S. 19).

Zweitens: Auf der Vorderbühne wird die Notwendigkeit der schulischen Inklusion und Schulreform inszeniert, als ob gesellschaftliche Probleme durch Schulreformen gelöst würden, als ob schulische Inklusion automatisch gesellschaftliche Inklusion garantieren würde. Ohne Schulbildung in den gesamten gesellschaftlichen Verhältnissen zu berücksichtigen, kann eine – auf sich gestellte – schulische Inklusion eher als ein Fluchtpunkt für gesellschaftliche Reform dienen und viele kontraintentionale Wirkungen mit sich bringen. In diesem Zusammenhang fällt das paradoxe Begriffspaar „exkludierende Inklusion“ (Einschluss durch partiellen Ausschluss) und „inkludierende Exklusion“ (Ausschluss durch partiellen Einschluss) auf (Schäffter, 2013, S. 54–55). Von einer „exkludierenden Inklusion“ wird gesprochen, wenn durch temporäre Exklusion – wie z.B. durch separierende Förderschulen – spezielle Förderung und Unterstützung gesichert wird, um der langfristigen gesellschaftlichen Exklusion nach dem Schulabschluss wirkmächtig vorzubeugen (Speck, 2011, S. 123). Es gilt hingegen als eine „inkludierende Exklusion“, wenn z.B. Schüler*innen mit besonderem Förderbedarf an einer Regelschule beschult werden, ohne ihnen spezifische Förderung und Befähigung zu garantieren, und sie nach dem Schulabschluss gesellschaftlich überflüssig und marginal bleiben (Cramer & Harant, 2014, S. 649). Ohne Befähigung der Einzelnen zur gesellschaftlichen Teilhabe zum einen und gesamtgesellschaftlicher Änderung zum anderen mag schulische Inklusion bloße Rhetorik sein und sogar als ein Versuch verkannt werden, „zumindest in der Schule durch die Schaffung von Gemeinschaft und Berücksichtigung von Individualität kompensatorisch auch denjenigen das Gefühl der Teilhabe zu geben, die im späteren Leben nicht mehr damit rechnen können“ (Dammer, 2011, S. 26).

2.3 Inklusion zwischen Vision und Wirklichkeit ausbalancieren

Um den Neuerungswert des Inklusionsparadigmas anzurechnen und zugleich dessen Grenzen nicht auszublenden, bedarf es einer sachgemäßen Auffassung zum Inklusionsbegriff, die dessen beide Aspekte – visionär und zugleich realitätsnah – beibehält und nicht einen zugunsten des anderen preisgibt. Inklusion markiert zwar Orientierung und Vision für eine zukunftsfähige Schule und Gesellschaft. Aber sie soll nicht allein als eine Idee bleiben, sondern in einem konkreten Kontext für konkrete Schüler*innen umgesetzt werden. Die Spannung zwischen Inklusion als Vision und den faktischen Umsetzungsbedingungen ist ernst zu nehmen.

Ein realitätsnaher Inklusionsbegriff verlangt Inklusion im Blick auf konkrete Situationen prozesshaft umzusetzen. Es ist hierbei bedeutsam, zwischen dem Weg zur Inklusion und dem Ziel der Inklusion zu unterscheiden (Pirner, 2011, S. 165). Nimmt man diese Unterscheidung ernst, dann lässt sich feststellen: Es geht nicht zuallererst darum, eine formell inklusive Schulform zu gestalten, sondern inklusive Qualität zu sichern. Gegen eine zeitnahe vollständige Abschaffung der Förderschule spricht z.B., wenn ein separierendes Förderschulmodell einstweilen durch bessere Förderung und Unterstützung als Weg zur Inklusion dienen kann. Aus heil- und förderpädagogischer Sicht wird immer wieder betont, gemeinsamer Unterricht sei erst dann gewinnbringend, wenn die entsprechenden Bedingungen geschaffen sind, die es eben vielfach nicht gibt. Mit diesem konditionellen Satz habe schulische Inklusion erst einen Sinn (Speck, 2011, S. 31; Janzen, 2012, S. 43). Ferner hängt schulische Inklusion mit der Frage nach der Ressourcenverteilung zusammen. Angesichts der begrenzten Ressourcen hat die Umsetzung schulischer Inklusion mit bildungspolitischen Prioritätssetzungen zu tun, wobei unvermeidlich „Kehrseiten“ entstehen: Diejenigen, deren Inklusion zunächst als nachrangig betrachtet wird, können möglicherweise erneut benachteiligt werden (Künkel, 2015, S. 13). Man kann von der Inklusion erst dann verantwortlich sprechen, wenn all diese Fragen und Diskussionspunkte offen auf den Tisch gebracht werden.

Zugleich muss man sich davor hüten, dass die Grenzen der Inklusion und nicht günstige Umsetzungsbedingungen als ein Vorwand für den Status quo benutzt werden. Aus normativer Hinsicht fordert Inklusion von uns, noch einmal ernsthaft darauf zu blicken, was sein soll. Damit kann man die Diskrepanz zwischen Sollen und Sein eindeutig erkennen und dazu motiviert werden, sich für Veränderung einzusetzen. Noch einmal sei hervorgehoben: Der visionäre Aspekt der Inklusion für die Zukunft soll nicht unter dem Vorwand der noch nicht ausreichenden faktischen Bedingungen aufgegeben werden.

Bei der Umsetzung der Inklusion kann möglicherweise anderweitig eine Schieflage erzeugt werden: Man fokussiert sich schlicht auf die Umsetzung einer Idee und vernachlässigt somit, welche Konsequenzen diese Umsetzung für die Betroffenen mit sich bringen kann; dies hat schließlich zur Folge, dass „der einzelne Mensch in seiner Singularität, Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit nicht mehr von Bedeutung ist, sondern auf einen besonderen Fall eines Allgemeinen oder zu einer bloßen Störgröße reduziert wird“ (Dederich, 2013, S. 34). Angesichts dieser möglichen Irritationen ist ebenfalls zu unterstreichen, Inklusion personengerecht zu begreifen. Bei der Umsetzung schulischer Inklusion müssen die jeweiligen Schüler*innen und insbesondere ihre spezifischen Bedürfnisse ernst genommen werden. Dabei ist es sinnvoll, das schöpfungstheologisch fundierte Personalprinzip und die religionspädagogische Subjektorientierung noch einmal stärker zu artikulieren.

Die bisherige Überlegung zum Inklusionsbegriff lässt sich mit zwei Thesen resümieren: (1) Inklusion soll zusammen mit den faktischen Bedingungen, konkreten Kontexten und gesamten gesellschaftlichen Verhältnissen begriffen werden, ohne Inklusion als Orientierung und Vision für gesellschaftliche Veränderung klein zu machen (sachgemäß). (2) Es geht nicht darum, schlicht die Inklusionsidee durchzusetzen. Inklusion soll stets für konkrete Schüler*innen umgesetzt werden – nicht umgekehrt (personengerecht).

3 Zum Bildungsverständnis und Menschenbild

3.1 Ist Bildung machbar? Bildungsoptimismus, pädagogische Machbarkeit und Autonomie des Menschen

Der Inklusionsdiskurs verweist schließlich auf die Frage nach dem Bildungsverständnis und Menschenbild. Mir scheint der aktuelle Inklusionsdiskurs stark durch einen Bildungsoptimismus geprägt zu sein, nach dem die Möglichkeit der Bildung und die Autonomie des Menschen quasi als grenzenlos und machbar angesehen werden. Inklusion erscheint hierbei als durch politische Entscheidungen und Umstrukturierungen des Schulsystems herstellbar; inklusive Bildung, inklusive Kultur und inklusive Beziehungen seien ebenso machbar; jeder Mensch könne und müsse dadurch zum selbstbestimmten und unabhängigen Leben geführt werden.

Mit diesem impliziten Bildungsoptimismus wird jedoch vieles ausgeblendet – die Grenze der Schulreform, die Unverfügbarkeit der Bildung ebenso wie Abhängigkeit und Viktimität des Menschen. Letztere geht besonders mit der Frage des Menschenbildes einher. Ulrich Bach bemerkt dazu: Jeder sei der Schmied des eigenen Glücks – ein solches Menschenbild können schwächere Menschen, insbesondere Menschen mit Behinderung gar nicht für sich übernehmen, denn „seine Behinderung ist ja nicht das Ergebnis eigener Planung oder die selbsterkämpfte Erfüllung eigener Wünsche. Im Gegenteil: Er ist überfahren worden“ (Bach, 1986, S. 11). Peter Radtke entlarvt ebenfalls die vorherrschende Vorstellung von einem autonomen Leben als illusionär: Wir können nur wenige Jahrzehnte autonom handeln, während wir mindestens die Hälfte der Lebenszeit von anderen Menschen abhängig sein müssen – „zuerst von Vater und Mutter und später, wenn wir älter werden, von den Kindern oder fremden Bezugspersonen“ (Radtke, 2011, S. 16).

Das Menschsein befindet sich in der Spannung von Autonomie und Abhängigkeit, Selbstbestimmung und Fremdbestimmung, Handeln und Gegeben sein, Erfahrung und Widerfahrnis. Der Bildungsoptimismus und das ihm zugrundeliegende Menschenbild betonen nur eine Seite davon und verdrängen die andere gänzlich. Hinsichtlich des Bildungsverständnisses verweist Manfred L. Pirner ebenso auf das Problem der Einseitigkeit. Das geläufige Bildungsverständnis sei nach wie vor zu stark vom „klassischen Humboldtschen Bildungsideal“ geprägt, „das die individuelle, allseits gebildete, harmonisch in sich ruhende Persönlichkeit anzielte“ (Pirner, 2010, S. 8; Pirner, 2011, S. 163). Dabei wird bereits ein großes Ausmaß an Autonomie vorausgesetzt, während besondere Einschränkungen und Bedürfnisse jedes einzelnen Menschen kaum ernst genommen werden (Peter, 2018, S. 90).

Der Bildungsoptimismus, der primär den autonomen, handlungsfähigen und lernbereiten Menschen in den Blick nimmt, hat jedoch eine bedenkliche Kehrseite: Dadurch mag Exklusion von nicht leistungsstarken Menschen eher verstärkt werden. Im Zeitalter der Inklusion ist zu bedenken, ob nicht die Gefahr einer Restschule entstehen könnte oder die emotionale Isolation in einer inklusiven Schule verstärkt würde. Dies gefährdet u.a. die sozusagen nicht inkludierbaren Schüler*innen – dazu zählen insbesondere Schüler*innen mit geistiger Behinderung oder diejenigen mit mehrfachen und schweren Behinderungen. Zudem steht die Bildungspolitik für eine radikale schulische Inklusion unter dem Verdacht einer neoliberalen Politik, die unausgesprochen die finanzielle Sparsamkeit und zugleich die wirtschaftliche Verwertbarkeit aller Einzelnen zum Ziel hat (Bandelt, 2017).

Angesichts seiner blinden Flecken und bedenklichen Nebenfolgen bedarf das idealistische Bildungsverständnis und Menschenbild einer Korrektur bzw. einer Ergänzung. Insbesondere soll die Bedeutung der Abhängigkeit, Angewiesenheit und Unverfügbarkeit im Bildungsprozess neu gewürdigt werden. Das christliche Bildungsverständnis und Menschenbild können dafür einen komplementären Beitrag leisten.

3.2 Das christliche Bildungsverständnis und Menschenbild als ein Komplement

Das christliche Bildungsverständnis findet sich theologisch-anthropologisch im Spannungsfeld von Gottebenbildlichkeit und Bilderverbot. Es basiert zunächst auf der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Der Mensch ist als Gottes Ebenbild geschaffen (Gen 1,27) – dieses Theorem deutet an, dass jeder Mensch bildungsfähig und zugleich bildungsbedürftig ist. Bildung ist nämlich eine Gabe Gottes und zugleich eine Aufgabedes Menschen. Ein anderes Axiom des christlichen Bildungsverständnisses ist das Bilderverbot (Ex 20,4). In Bezug auf die Bildungsfrage lässt sich das biblische Bilderverbot folgenmaßen auslegen: Mit der Betonung der Unbestimmtheit des Menschen verhindert es jede Art von Festlegung des Menschen. Henning Luther findet darin „jenes Moment des Unbestimmten, Geheimnisvollen, Nicht-Festgelegten“ des Menschen (Luther, 1991, S. 269–270). Das Bilderverbot spricht gegen das Ideal einer pädagogischen Machbarkeit und hebt die Unverfügbarkeit und Begrenztheit der Bildung hervor.

Das christliche Bildungsverständnis, das sich im Spannungsfeld von Gottebenbildlichkeit und Bilderverbot, von Möglichkeit und Begrenztheit des Menschseins verortet, stellt unbegrenzte Möglichkeiten der Bildung infrage. Dessen kritischer Anlass liegt v.a. darin, dass es gegen alle Arten pädagogischer Hybris die Gegebenheit sowie Unverfügbarkeit des Menschen und dessen Bildung ernst nimmt (Markschies, 2011, S. 97–98; Dressler, 2006, S. 69). Es distanziert sich somit von der Aufklärungstradition, die die „Verfügung des Menschen über sich selbst“ und „Vollkommenheitsideale[…] menschlichen Gebildetseins“ akzentuiert (Dressler, 2007, S. 18), und versucht hingegen den Stellenwert derjenigen Dimensionen zu erhalten, die zu dem Gegeben sein, der Abhängigkeit und der Unverfügbarkeit gehören (Schwöbel, 2002, 240–241). Das christliche Bildungsverständnis macht auf die Begrenztheit des Menschen und die Grenzen der Bildung aufmerksam, ohne zugleich die Möglichkeit und die Notwendigkeit der Bildung zu schwächen. Damit versucht es die beiden Seiten voneinander zu unterscheiden – was man verantwortlich machen kann und soll, und was zur Unverfügbarkeit gehört (EKD, 2014, S. 185).

Das ausschließlich an der Autonomie orientierte Bildungsverständnis ist durch den Aspekt der Abhängigkeit und Fragmentarität menschlicher Existenz zu ergänzen. Anita Müller-Friese bemerkt, dass die Dimensionen von Begrenztheit und Angewiesenheit sowie die Bedeutung von Hilfe und Solidarität im Bildungsprozess neu geschätzt werden müssen (Müller-Friese, 1996, S. 141). Pirner sieht ebenfalls das Bildungsziel nicht als „die selbst genügsame, von anderen unabhängige Allround-Persönlichkeit“, sondern als „die Persönlichkeit, die sich selbst überschreitend ihre Begabungen für andere einsetzt und sich in den eigenen Schwachstellen die Ergänzung durch andere gefallen lässt“ (Pirner, 2010, S. 8). Hier legt ein wesentlicher Ertrag des christlichen Bildungsverständnisses nahe, dass diese bisher vergessene und verdrängte Bildungsdimension wieder Aufmerksamkeit findet.

Gesundheits-, Leistungs- und Schönheitsideale dominieren unsere Gesellschaft und nehmen massiven Einfluss auf das Selbstverständnis von Kindern und Jugendlichen. Sie legen meistens einen großen Wert darauf, „‚cool‘ zu sein, möglichst eigenständig zu sein und ein hohes Maß an Autonomie zu besitzen“ (Pemsel-Maier, 2014b, S. 215). Bach bestimmt den „Schmink-Topf“ als ein Symbol unserer Zeit und ruft provokativ: „Als Werbung ist das gekonnt. Als Abbild oder gar Vorbild unseres Lebens ist das durch und durch verlogen. Aber wer wagt es, so etwas ‚Lüge‘ zu nennen? […] Die wollen wir lieber verschweigen, verdrängen, vertuschen.“ (Bach, 1986, S. 12) Das christliche Menschenbild kann und soll darauf antworten, indem es diese Idealbilder als illusionär entlarvt und eine Alternative vorschlägt. Diese alternative Sichtweise, die Abhängigkeit, Grenze und Fehlbarkeit des Menschen nicht verdrängt, ist viel eher anschlussfähig an lebensweltliche Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen. Denn viele leben faktisch unter in vielerlei Hinsicht eingeschränkten Lebensbedingungen und leiden an Begrenzungen (Pemsel-Maier, 2014b, S. 215).

3.3 Jenseits eines perfekten Menschen: Bedeutung der religionspädagogischen Bildungsdimensionen

Bei dem dominanten Bildungsverständnis stehen Selbstbestimmung, Aktivität, ein leistungsstarkes und erfolgreiches Leben im Vordergrund, während Abhängigkeit, Grenze, Fehlbarkeit, Scheitern und das Geworfensein der menschlichen Existenz verdrängt werden. Um bisher vernachlässigte Bildungsdimensionen wieder ans Licht zu bringen und einer Halbierung der Bildung vorzubeugen, ist die Bedeutung der Religionspädagogik neu zu erkennen. Es seien exemplarisch zwei Stichpunkte angemerkt.

Erstens: Die Religionspädagogik dient der Kontingenzbewältigung. Sie schafft für Schüler*innen einen Raum, nicht nur aktiv gemachte positive Erlebnisse, sondern auch passiv erlittene Widerfahrnisse zu verarbeiten (Müller-Friese, 2001, S. 91). Das menschliche Leben ist nicht immer gewiss, planbar und machbar, sondern öfters offen, ungewiss, unplanbar und letztlich mit Sicherheit sterblich. Das Leben ist grundsätzlich kontingent. Die Hilfe, Unterstützung und Befähigung zur Kontingenzbewältigung ist deshalb eine wesentliche Bildungsaufgabe (Pemsel-Maier, 2014b, S. 210). Insbesondere durch religiöse Bildung können Schüler*innen dazu befähigt werden, das Leben in Ambivalenz aufzunehmen und Kontingenzen zu bewältigen. Zu den Aufgaben religiöser Bildung gehört offenbar, sich mit „Erfahrungen mit Grenzen“, „Erfahrungen mit einer anderen Art von Normalität“, „Erfahrungen, dass Hilfebedürftigkeit und Angewiesenheit einen selbstverständlichen Platz im eigenen Leben haben darf“, und „Erfahrungen von Ausgegrenztwerden, Misslingen und Trauer“ auseinanderzusetzen (ebd., S. 218). Schließlich werden Schüler*innen dazu ermutigt, „das ganze Leben als sinnvoll an[zu]sehen“ und somit die „eigene […] Person mit ihrer ganz besonderen, fragmentarischen Biografie“ zu bejahen (Müller-Friese, 1996, S. 183).

Zweitens: Die Religionspädagogik bringt diakonische Dimensionen zwischenmenschlicher Beziehung verstärkt ans Licht. Die Bedeutung des Dialogs und der wechselseitigen Verständigung ist im allgemeinpädagogischen Diskurs bereits hinreichend thematisiert. Dazu lässt sich das spezifische theologisch-religionspädagogische Verständnis ergänzen, die zwischenmenschliche Beziehung nicht nur als Dialog, sondern auch als Diakonie zu charakterisieren (1 Kor 13). Das geht v.a. „von der wechselseitigen Angewiesenheit aller Menschen aufeinander“ aus, „weil es zum Menschsein dazu gehört und ‚völlig normal‘ ist, unterschiedlich begabt zu sein und ‚Defizite zu haben‘“ (Pirner, 2010, S. 8).

Der diakonische Charakter der zwischenmenschlichen Beziehung macht auf die wechselseitige Beziehung von Hilfe-Empfangen und Hilfe-Geben, Angewiesenheit und Verantwortung aufmerksam (Müller-Friese, 1996, S. 202). Monika Jakobs bemerkt ebenfalls dazu: „Nicht nur andere sind auf meine ‚Nächstenliebe‘ angewiesen, sondern auch ich bin nicht gänzlich autonom, sondern auf die ‚Nächstenliebe‘ meiner Mitmenschen angewiesen.“ (Jakobs, 2012, S. 161–162) Damit wird auf ein wichtiges Bildungsziel hingewiesen: Kinder und Jugendliche sollen lernen, ihre eigene Hilfsbedürftigkeit und Angewiesenheit sowie Verantwortung für die anderen ernst zu nehmen und schließlich die Bedeutung von Gemeinschaft und Solidarität zu würdigen (Müller-Friese, 1996, S. 216; Kammeyer, 2015, S. 223).

Hinsichtlich des Bildungsverständnisses und Menschenbildes lässt sich noch einmal zusammenfassend feststellen: Nicht nur Autonomie und Möglichkeiten des Menschen, sondern auch dessen Abhängigkeit und Grenzen sind ernst zu nehmen. Die zwischenmenschliche Beziehung ist nicht nur dialogisch, sondern auch diakonisch. Dementsprechend soll das Bildungsziel sein, Schüler*innen dazu zu befähigen und zu ermutigen,  sich gegenseitig helfen und unterstützen zu können. Es ist dafür geboten, religionspädagogische Dimensionen noch stärker in den Blick zu nehmen. Dies versteht sich als ein wesentlicher Beitrag der Religionspädagogik zum allgemeinpädagogischen Inklusionsdiskurs.

Abschließende Bemerkungen

Im Vorangegangenen wurden die drei Leitbegriffe Heterogenität, Inklusion und Bildung, die den aktuellen Inklusionsdiskurs durchziehen, in pädagogischer und religionspädagogischer Perspektive kritisch beleuchtet. Im Sinne einer Zusammenfassung erfolgen hier zwei abschließende Bemerkungen:

Erstens ist es erforderlich, den Inklusionsdiskurs in seiner Ambivalenz zu gewichten. Bisher wurde deutlich, dass der pädagogische Umgang mit Heterogenität sowie schulische Inklusion auf vielseitige Ambivalenz, Widersprüche und Dilemmata stoßen können. Es ist stets geboten, die Ambivalenz zu erhalten und zwischen beiden Seiten immer wieder neu das Gleichgewicht zu finden. Dazu sollen die jeweiligen Argumente, ihre Referenzen, Hypothesen und mögliche Konsequenzen für die betroffenen Schüler*innen offengelegt werden. Die entstehenden Vorder- und Hinterbühnen sind zugleich in Erwägung zu ziehen. Insbesondere sollen die Kehrseiten bzw. die Hinterbühne nicht ausgespart, sondern transparent gemacht werden. An diesem Punkt können Theologie und Religionspädagogik als kritische Disziplinen einen wichtigen Beitrag zum allgemeinpädagogischen Inklusionsdiskurs leisten. Theologie und Religionspädagogik wollen zwischen „Letztem und Vorletztem“ unterscheiden – also „die Unterscheidung des verantwortlich Machbaren und der Vision, die dem Machbaren Richtung gibt“, hervorheben (EKD, 2014, S. 185). Es ist ein wesentlicher Ertrag der theologisch-religionspädagogischen Perspektive, durch diese Kunst der Unterscheidung Inklusion in ihrer Ambivalenz zu erwägen (Liedke, 2013, S. 19).

Je mehr die Ambivalenz und die möglichen Grenzen der Inklusion ernst genommen werden sollen, umso entscheidender ist es, den Hoffnungshorizont nicht preiszugeben. Um diese beiden Aspekte zugleich zu behalten, scheint es wesentlich angemessener, von einer inklusionsorientierten Bildung bzw. einer inklusiveren Bildung zu sprechen (Dannenbeck, 2013). Inklusion ist kein fester Zustand, sondern eine Orientierung, auf die wir uns ausrichten. Die Gestaltung der Inklusion im Bildungsbereich bleibt immer im Prozess. Es gibt niemals die inklusive Bildung, sondern vielmehr eineinklusivere Bildung. Die christliche Eschatologie legt dafür einen wichtigen Impuls offen. Der theologische Begriff Eschaton beinhaltet weder kritiklose Aufrechterhaltung der gegebenen Bedingungen noch ewige Verlängerung der Gegenwart. Vom Eschaton aus zu sehen – diese Perspektive ermöglicht sowohl das kritische Hinterfragen des Bestehenden als auch die Hoffnung auf dessen Veränderung. Christliche Hoffnung auf die Vollendung Gottes und der Ausblick auf das Reich Gottes ermutigen uns für die Veränderung zu handeln, ohne die Grenzen des menschlichen Handelns zu vergessen. In religionspädagogischer Perspektive gilt es als ein großer Gewinn für den Inklusionsdiskurs, sowohl diese Hoffnungsdimension als auch ihr prophetisches, kritisches Potenzial wiederzuentdecken.

 

 

Literaturverzeichnis

 

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Sungsoo Hong, M.A., Doktorand am Lehrstuhl Religionspädagogik an der theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena

  1. Der vorliegende Text basiert auf einem Vortrag, den Sungsoo Hong, M.A. gemeinsam mit Prof. Dr. Michael Wermke am 11.12.2019 beim „Forum Schule im Spannungsfeld von Leistungsgesellschaft und Inklusion“ in Jena hielt.