1 Eine ernüchternde Bestandsaufnahme
Über Jahrhunderte hindurch wurde der christliche Glaube als eine die ganze Person transformierende Lebens- und Denkform an unterschiedlichen Lernorten und eingebettet in eine Gesellschaft und Kultur erlernt, deren Alltag, Zeitstruktur und symbolische Repräsentationen von den christlichen Kirchen geprägt waren. Eine zentrale Rolle spielten dabei die Teilhabe am Gemeindeleben und in besonderer Weise die Liturgie. Lernen ereignete sich in diesen Kontexten implizit und unthematisch, dafür umso wirksamer, weil wahrnehmungs-, denk-, sprach- und lebensprägend. Freilich wurde und wird dabei auch der Antisemitismus gleichsam lebensbegleitend „mitgelernt“.
In einem solchen Setting sind die Gemeinde- und Sakramentenkatechese sowie die Predigt jene kirchlichen Praxisformen, in denen das Lernen des Glaubens strukturierte und explizite, im besten Fall auch (selbst)reflexive Form annimmt. Dem Religionsunterricht in Deutschland und Österreich ist es im Kontext dieser heterogenen Lernorte möglich, auf eine Fülle an Glaubenserfahrungen zurückzugreifen, die dann in Bildungsprozessen vertieft, reflektiert und ggf. verändert oder korrigiert werden (Simon & Delgado, 1991). Der Antisemitismus kann dabei schrittweise entlernt werden.
Präziser müsste man freilich sagen: Der Antisemitismus hätte in diesem Kontext ein Stückweit entlernt werden können. Denn auch nach 1945 gehört er trotz der aufrichtigen Bemühungen beider christlichen Kirchen nach der Schoah, diesen zu bekämpfen (vgl. die Fülle der kirchlichen Dokumente Henrix & Rendtorff, 1988; Henrix & Kraus, 2001; Henrix & Boschki, 2001; Seelisberger Thesen, 1947; Berliner Thesen, 2010), bis heute konstitutiv zum kollektiven Gedächtnis (nicht nur) des deutschsprachigen Raums. Zugleich ist im Zuge des Rückganges traditionell-kirchlicher Glaubensformen und des Endes einer christlich-dominierten Alltagskultur der vielgestaltige Raum des Glauben Lernens radikal erodiert. Damit ist aber auch die Chance auf eine multilokale und Lernorte vernetzende Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus kleiner geworden.
In der katholischen Pastoraltheologie stellt eine systematische wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus sowie der Rolle, die genuin kirchliche Lernorte wie Katechese und Predigt beim Er- wie Verlernen dieser „Wahnerkrankung“ (Winter, 2018) spielen, eine Leerstelle dar – in signifikantem Unterschied zu den elaborierten religionspädagogischen Diskursen der evangelischen wie der katholischen Kirche (Kohler-Spiegel, 1991; Rothgangel, 1997; Spichal, 2015). Ähnlich wie das Verhältnis zum Judentum kein Strukturprinzip der Pastoraltheologie und die Erneuerung der Kirchen aus dem Geist und der Praxis des christlich-jüdischen Dialogs nicht notwendig konstitutiver und selbstverständlicher Bestandteil pastoraltheologischer Forschung ist (Polak, 2018), ist auch die pastorale und pastoraltheologische Verantwortung zur Bekämpfung des Antisemitismus ein wenigen engagierten Einzelnen vorbehaltenes Randthema. Die Initiativen an der Basis bleiben unsichtbar. Da das Verhältnis zum zeitgenössischen Judentum als Ort der theologischen Theoriebildung ebenfalls kein Thema ist, fällt auch eine konsequente (selbst)kritische pastorale und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Formen des Antisemitismus aus.
Dies liegt zum einen an pastoral und theologisch unbearbeiteten Schuldzusammenhängen sowie den damit verbundenen beschwiegenen Scham- und Schuldgefühlen angesichts kirchlicher Mitverantwortung an der Durchführung der Schoah – insbesondere auf der Ebene der Familien der Gläubigen (Kellenbach, 2006). Weiters wird eine fundierte Auseinandersetzung durch einen eklatanten Mangel an Dialog zwischen theologischer Expertise und gelebter Praxis blockiert (Klissenbauer & Steinbeiß, i.E.). Die zentrale Rolle aber spielt vermutlich die marginalisierte Bedeutung reflektierter religiöser Erziehung und Bildung in der Pastoral, ungeachtet der durchaus vorhandenen theologischen Auseinandersetzung zu diesem Thema (Achilles & Roth, 2014; Feiter & Könemann, 2014). Bildungsprozesse wurden bisher primär dem Religionsunterricht und einschlägigen kirchlichen Erwachsenenbildungsinstitutionen überlassen, gehörten aber nicht zum „Kerngeschäft“ pastoraler Arbeit. Damit fehlt aber auch eine breitenwirksame Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus.
Der Bedarf und die Notwendigkeit, sich der „sozialen Krankheit“ (Gottschlich, 2015) des Antisemitismus zu stellen, ist aber durchaus flächendeckend notwendig. Gottschlich spricht in seiner Analyse des aktuellen Antisemitismus unter Christinnen und Christen von „unerlösten Schatten“. Freilich möchte kein gläubiger Mensch Antisemit sein. Auch das Erschrecken angesichts der Schoah und das Bemühen um das Vermeiden antisemitischer Einstellungen und Verhaltensweisen sind zumeist groß und authentisch. Aber mit gutem Willen allein ist keinesfalls gesichert, dass Bibelinterpretationen, Verkündigung und Mission, Katechese, Predigten und Liturgie frei von antisemitischen Stereotypen und Ressentiments sind. Zu viele Predigten leben nach wie vor von dem behaupteten Gegensatz zwischen dem angeblichen Gesetzesglauben des Alten Testaments und dessen christlichen „Überbietung“ durch die Liebe. Predigerinnen und Prediger, Katechetinnen und Katecheten benützen „die“ Pharisäer als Negativschablone der Botschaft Jesu. Und alljährlich kann man sich während zu vieler Karfreitagsliturgien der vitalen Präsenz antijudaistischer Stereotype vergewissern.
Die Erosion der Kirchen und einer christlichen Alltagskultur ist aus dieser Perspektive eine zwar ambivalente, aber doch auch eine Chance. Sie zwingt dazu, der Katechese und religiösen Bildung in der Pastoral mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Dabei kann auch der Antisemitismus Thema werden.
2 Lehramtliche Selbstverpflichtung zur Bekämpfung des Antisemitismus
Angesichts dieses ernüchternden Befundes ist es umso bemerkenswerter, dass die Vatikanische Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum im Sekretariat für die Einheit der Christen im Jahr 1985 „Hinweise für eine richtige Darstellung von Juden und Judentum in der Predigt und in der Katechese der katholischen Kirche“ publiziert hat, die in Abschnitt 26 fordern, dass sich „Erziehung und Katechese mit dem Problem des Rassismus befassen müssen, der in den verschiedenen Formen des Antisemitismus immer wieder mitwirkt“ (Hinweise 26, 1985). Grundlage dafür sind die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils Nostra Aetate (NAe, 1965), die „alle Haßausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von irgend jemandem gegen die Juden gerichtet haben“ (NAe 4) verurteilt, sowie die „Richtlinien“ (1974), die „jede Form des Antisemitismus und der Diskriminierung als dem Geist des Christentums widerstreitend“ verurteilen.
Leider schränken die „Hinweise“ (1985) den Antisemitismus auf Rassismus ein und weichen dadurch den genuin theologischen Quellen des Antisemitismus aus. Dieser wird als Subproblem des Verstoßes gegen die Menschenwürde betrachtet und als auch theologisches Phänomen sui generis ignoriert. Zugleich aber formulieren die „Hinweise“ Forderungen, die auch mehr als 30 Jahren nach ihrer Veröffentlichung in der Pastoral weder verwirklicht noch bekannt sind.
So wird darauf hingewiesen, dass „Juden und Judentum in Predigt und Katechese nicht einen gelegentlichen Platz am Rande bekommen; vielmehr muss ihre unverzichtbare Gegenwart in die Unterweisung eingearbeitet werden“ (Hinweise 2, 1985). Weiters: „Dieses Interesse für das Judentum in der katholischen Unterweisung hat nicht bloß eine historische und archäologische Grundlage“, sondern wird theologisch und ekklesiologisch begründet: Ohne Judentum kann die Kirche sich selbst und ihren Glauben nicht verstehen. Ein besonderes Augenmerk gilt auch dem zeitgenössischen Judentum: Die „Berücksichtigung des Glaubens und religiösen Lebens des jüdischen Volkes, wie sie jetzt noch bekannt und gelebt werden“, soll dazu führen, dass sich die Gläubigen, „eine stets lebendige Wirklichkeit, die zur Kirche in enger Beziehung steht, seelsorglich angelegen sein zu lassen“ (Hinweise 3, 1985). Ziel ist dabei die „Verpflichtung zu einem besseren gegenseitigen Verstehen und einer neuen gegenseitigen Hochschätzung“ sowie „die Kenntnis der grundlegenden Komponenten der religiösen Traditionen des Judentums“ wie auch das Lernen der „Grundzüge der Wirklichkeit der Juden nach ihrem eigenen Verständnis“.
In 27 Abschnitten widmet sich das Papier den neuralgischen Themen und Orten, die seit jeher Ursprungsort und Verstärker des kirchlichen Antisemitismus waren: der Darstellung des Verhältnisses zwischen Judentum und Christentum, zwischen Altem und Neuem Testament, den jüdischen Wurzeln des Christentums (inkl. der Pharisäerthematik[1]), der Darstellung von Jüdinnen und Juden im Neuen Testament, der Liturgie sowie dem Verhältnis von Judentum und Christentum in Geschichte und Gegenwart, wobei auch das Verhältnis zum Staat Israel thematisiert wird. Letzteres geschieht allerdings ambivalent, weil einerseits in Bezug auf die politischen Entscheidungen des Staates Israel eine religiöse Sichtweise ausgeschlossen und die Perspektive allgemeiner Grundsätze internationalen Rechts eingefordert wird, im nächsten Abschnitt aber davon gesprochen wird, dass der „Fortbestand Israels (…) ein Zeichen im Plan Gottes (ist), das Deutung erheischt“ (Hinweise 25, 1985), was wohl nur als theologische Interpretation gelesen werden kann (Cunningham, 2016).
Trotz ihres problematischen Antisemitismus-Verständnisses und ungeachtet der seither gemachten theologischen Fortschritte belegen diese „Hinweise“ (1985) doch ein deutlich vorhandenes kirchliches Bewusstsein für die pastorale Verantwortung bei der Bekämpfung des Antisemitismus. Wenn auch etwas verhalten, ist das katholische Lehramt der deutschsprachigen Pastoraltheologie (und erst recht den Pastoraltheologien anderer Kontinente) damit deutlich voraus. Die Rezeption dieser Selbstverpflichtung lässt freilich zu wünschen übrig.
3 Empirischer Befund
Die bisherigen Überlegungen lassen annehmen, dass Antisemitismus auch unter Gläubigen eine Herausforderung ist, nicht zuletzt angesichts der Zunahme antisemitischer Einstellungen und Verhaltensweisen in neuen Formen in der Mitte der Gesellschaft (Schwarz-Friesel & Friesel & Reinharz, 2010). Auch gutmeinende Gläubige der kirchlichen „Mitte“, pastoral ambitionierte Priester und Bischöfe werden daher vermutlich antisemitische Wahrnehmungsmuster aufweisen – sogar im deutschsprachigen Raum, wo man sich im globalen Vergleich sicherlich am intensivsten mit diesem Phänomen auseinandergesetzt hat. Schließlich muss man schon allein aufgrund der Dauer von Prozessen, die diese zum Entlernen jahrhundertealter Wahrnehmungsmuster benötigen, mit dem Vorhandensein von Antisemitismus rechnen. Ohne antisemitische Prägung aufzuwachsen, ist in Europa nicht möglich. Um dies anerkennen zu können, darf man sich unter antisemitisch eingestellten Menschen aber nicht nur böse Menschen vorstellen, die Jüdinnen und Juden hassen und tätlich attackieren, sondern muss Antisemitismus als Wahrnehmungsmuster begreifen, das diese als Kollektiv versteht und als „die Anderen“ ausgrenzt. Dies kann, muss aber nicht mit Abwertung, Verachtung und Hass einhergehen (IHRA, 2016). Vor allem die „Metamorphosen“ und „neuen Masken“ (Gottschlich, 2015) des Antisemitismus - der sekundäre Antisemitismus, der die Opfer zu Täterinnen und Tätern erklärt; antizionistische Formen der Kritik am Staat Israel; Islamophobie als Umdeutungsstrategie – gibt es auch unter Christinnen und Christen.
Freilich ist dieser Antisemitismus in einer Gesellschaft, die infolge der Schoah Vorurteile gegenüber Juden öffentlich ächtet und unterdrückt, nicht einfach und unmittelbar zu erkennen. Aus Angst, etwas Falsches über Jüdinnen und Juden zu sagen, sind etwaige Stereotype und Vorurteile oft gar nicht bewusst und kommen nicht an die Oberfläche. Davon sind vor allem Christinnen und Christen betroffen, die die theologische Bedeutung des Judentums verstanden haben und den Antisemitismus (zu Recht) als Sünde verstehen. Nicht zuletzt lässt sich Antisemitismus auch bei christlichen Migrantinnen und Migranten finden, die in Deutschland und Österreich bereits einen signifikanten Teil der praktizierenden Gläubigen ausmachen. Für viele ist die Sensibilität gegenüber Jüdinnen und Juden, auf die sie in Österreich und Deutschland treffen, neu und fremd.
Leider ist mir keine empirische Studie bekannt, die all diesen Gestalten des Antisemitismus systematisch nachgeht. Die klassischen Antisemitismusstudien fragen nicht explizit nach einem Zusammenhang mit Konfessionszugehörigkeit oder praktiziertem Glauben (außer bei Musliminnen und Muslimen, auf die der Antisemitismus der Mehrheitsgesellschaft projiziert wird). Daher beschreibe ich im Folgenden nur exemplarisch Phänomene, auf die ich in den vergangenen Jahren immer wieder gestoßen bin – ohne Anspruch auf Repräsentativität.
Wonach suche ich aber eigentlich, wenn ich nach dem empirischen Vorhandensein von Antisemitismus bei Gläubigen frage? Mit Rabinovici und Sznaider gerät man in „theoretischen Treibsand“, wenn man versucht, Antisemitismus zu verstehen: „Meinen wir ein Gefühl, ein Ressentiment, eine Haltung, ein Gerücht oder gar nur ein Vorurteil über eine bestimmte soziale und kulturelle Gruppe, die Juden genannt wird? Und wer sind diese Juden, denen so vieles übel genommen wird? Von wem reden und theoretisieren wir also, wenn wir über Juden sprechen und nachdenken?“ (Rabinovici & Sznaider 2019, S. 9) Ist Antisemitismus eine psychologische oder eine strukturelle Größe? Bezieht sich Antisemitismus auf religiöse Jüdinnen und Juden oder auf alle jüdischen Menschen, auch auf die Mehrheit der säkularen Jüdinnen und Juden und (jüdische) Israelis? Ist der Antisemitismus ein Problem der Juden oder der Antisemiten? Bezieht sich das Urteil „Antisemitismus“ auf das, was gesagt wird, oder auch auf das, was zwischen den Zeilen gemeint ist?
In zivilisierten Gesellschaften, in denen der Antisemitismus und die Erinnerung an die Schoah zu einem „System des Denkens und Handelns“ verschmolzen und der Antisemitismus daher zu einem Tabu geworden ist (Rabinovici & Sznaider, 2019, S. 12), ist die Identifikation schwierig und stellt angesichts der Transformationen seiner Erscheinungsformen schon vor seiner Bearbeitung vor neue Herausforderungen.
So hat sich z.B. die „Affektlogik“ (Schwarz-Friesel, 2019, S. 402) des Judenhasses im Laufe der Jahrhunderte verändert und findet nach der Schoah andere Ausprägungsformen. Denn Hass gibt es in einer affektiven und in einer rational codierten Ausprägungsvariante, die entweder kompatibel mit dem Selbstkonzept (ich-synton) oder befremdlich und normverletzend ist (ich-dyston). In einer Post-Schoah-Gesellschaft sind es die Rechtsextremen und islamischen Antisemitinnen und Antisemiten, die ihren Hass affektiv artikulieren. Personen hingegen, die von der kollektiven Negativbewertung des Antisemitismus geprägt sind – z.B. politisch Linke, gebildete Konservative, gebildete Gläubige - drücken ihren Judenhass hingegen pseudorational und in Verbindung mit Abwehr- und Umdeutung- sowie Leugnungs- und Bagatellisierungsstrategien aus. So könne Kritik an Israel niemals antisemitisch sein oder sei angeblich gesellschaftlich verboten. Ein solch ich-dystoner Antisemitismus ist ein neuzeitliches Phänomen, gekoppelt an Aufklärung und Rationalisierung, und ist nach dem Zivilisationsbruch Auschwitz in der Mehrheitsbevölkerung die Regel (vgl. Friesel, 2019, S. 404).
Dieser Antisemitismus hat in Europa und den USA rasant zugenommen. Ursachen sind der Aufstieg von „Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit, Islamophobie, gegen Einwanderung gerichtete Rhetorik“, das „erneute Aufkommen von Populismus, Rassismus, weißem Vormachtsdenken sowie rechtsradikaler Bewegungen und Regierungen“ und „die Erosion von Demokratie, Toleranz, Respekt für die Menschenrechte und einem Gefühl von Verantwortung gegenüber Flüchtlingen und anderen Menschen in Not“ im Verein mit der „wachsenden Sorge um die eigene physische und wirtschaftliche Sicherheit“ (Bartov, 2019, S. 57).
Komplexitätserhöhend – weil man diese Entwicklungen als Legitimationen für die Berechtigung zum Antisemitismus benutzen kann und benützt – kommt hinzu, dass israelische Regierungen seit 2004 „zunehmend auf den Holocaust verweisen, um ihre Unterdrückung der Palästinenser zu rechtfertigen, während sie zugleich die Gewalt dieser Unterdrückung verschlimmert haben“ (Bartov, 2019, S. 58) Wie viele Staaten weltweit erlebt auch Israel eine Erosion der Demokratie, ein Erstarken des Rassismus und das Aushöhlen des Rechtsstaats (Bartov, 2019, S. 59).
Alte und neue Formen des Antisemitismus sind also im Aufschwung. Mit den Entwicklungen im Web – massenhafte Verbreitungsmöglichkeiten von Hasspostings - ist „die Büchse der Pandora“ (Schwarz-Friesel, 2019, S. 407) weit geöffnet. Verantwortlich dafür ist freilich nicht das Internet. Aber es macht das Ausmaß der Gefahr sichtbar und dynamisiert sie.
Was solche Entwicklungen für Jüdinnen und Juden bedeuten, die seit Auschwitz mit der Furcht vor einer Wiederholung leben – ganz besonders in Israel – lässt sich von jemandem wie mir nicht einmal ansatzweise erahnen. Dass ein Wiederstarken des Antisemitismus nach der Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden möglich ist, lässt sich zwar sozialpsychologisch (Brunner, 2015) und psychohistorisch (Straub & Rüsen, 1998) nachvollziehen, ist aber dennoch in Qualität und Quantität, vor allem aber als Faktizität schier unerträglich – vor allem für Jüdinnen und Juden. Die Verpflichtung, den Antisemitismus zu bekämpfen, hat also für die christlichen Kirchen und ihre Gläubigen höchste Aktualität und Brisanz.
Je nach Wahl einer der unzähligen Definitionen des Antisemitismus kann man nun in der Pastoral beispielsweise auf folgende – drei exemplarische - Phänomene treffen.
a. „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die im Hass auf Juden Ausdruck finden kann. Rhetorische und physische Manifestationen von Antisemitismus richten sich gegen jüdische oder nicht-jüdische Individuen und/oder ihr Eigentum, gegen Institutionen jüdischer Gemeinden und religiöse Einrichtungen.“ (IHRA, 2016).Dies ist die Definition der International Holocaust Remembrance Alliance, die bisher von 17 Staaten offiziell anerkannt wurde, u.a. 2017 von Österreich und Deutschland. Entscheidendes Merkmal für den Antisemitismus ist ihr zufolge die Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die dann verschiedene Manifestationen annehmen kann. Von den zahlreichen Beispielen, die die Working Definition dann aufzählt, sind mir im Alltag der pastoralen Praxis, in Forschung und Lehre vor allem zwei Phänomene begegnet:Ein ambivalenter Umgang mit dem Schoah-Gedenken: Neben glaubwürdiger Betroffenheit und diffusen Schuldgefühlen im Rahmen von Gedenkfeiern findet dieselbe Person Qualität und Quantität des Gedenkens „übertrieben“ und fordert mehr oder weniger verhalten, dass das Gedenken „doch endlich ein Ende finden müsse“. Dadurch würden Jüdinnen und Juden selbst antisemitische Ressentiments schüren und Versöhnung verunmöglichen. Dies ist der sekundäre Abwehr-Antisemitismus der Täter-Opfer-Umkehr, erweitert um eine theologische Begründung, die diesem Anspruch eine fromme Note verleiht. Auch der bei Gedenkfeiern immer wieder zu hörenden Rhetorik vom „Unfassbaren“ oder „Unbegreiflichen“ wohnt ein große Ambivalenz inne. Denn diese Wendung bringt zwar die die Erschütterung angesichts dieses industriellen Massenmordes zum Ausdruck, kann aber auch der Verweigerung dienen, sich dieser lernend und begreifend zu stellen. Auch wenn im Angesicht von Auschwitz das Wort versagt und das Denken scheitert (vgl. Arendt, 2001, S. 371), darf das Ringen um die ethische und politische und theologische Bedeutung der Schoah nicht aufhören. Denn sonst dient man jenen, „die möchten, dass Auschwitz für immer unverstehbar bleibt“ (Agamben, 2003, S. 7).
Die Wahrnehmung Israels als jüdischem Kollektiv und dessen Kritik, charakterisierbar durch Delegitimierung, Dämonisierung und doppelte Standards (vgl. den 3D-Tests von Nathan Scharansky, 2004): Juden vor Ort und in der Diaspora werden verantwortlich gemacht für die Handlungen des Staates Israel. Die israelische Politik wird mit der Politik der Nationalsozialisten verglichen. So beteiligen sich Gläubige für das als antisemitisch zu bezeichnende BDS-Movement; in Österreich ist 2017 Bischof Scheuer als Präsident von Pax Christi Österreich zurückgetreten, weil er die Positionen dieser Organisation als antisemitisch einstuft (kathpress, 2017). Antizionismus lässt sich auch bei Gläubigen finden, die ein hochgradig idealisiertes, oftmals völlig irreales Bild von Jüdinnen und Juden sowie vom Judentum aufweisen, dem die Politik Israels widerspricht. Antizionismus verträgt sich durchaus auch mit einer gleichzeitigen Israel-Philie, die sich bei näherem Hinschauen als Reduktion des Staates Israel auf das „Heilige Land“ des Jesus von Nazareth entpuppt, bei paralleler Ausblendung der gesellschaftlichen, politischen sowie religiösen Realität des Staates Israel. Wie so oft sind Idealisierung und Dämonisierung Geschwister, und die erstere ist die schützende Maske, die eine tiefsitzende Ablehnung und Verachtung verdeckt. All diese Phänomene basieren auf der ambivalenten Fähigkeit des Menschen, der Auseinandersetzung mit Ambiguitäten, Schmerz, Scham und Schuldgefühlen auszuweichen und dieser mittels Abspaltung bzw. Projektion zu entkommen.
b. Antijudaismus: Im Umfeld der christlich-theologischen Auseinandersetzung mit Antisemitismus wird dieser zumeist vom Antijudaismus unterschieden. Letzterer meint die Ablehnung, das Ressentiment oder den Hass gegen Juden und Judentum aus religiösen, näherhin „christlichen“ Gründen (Benz, 2005, S. 65ff.). Da mit Blick auf die Auswirkungen auf Jüdinnen und Juden diese Unterscheidung wenig Bedeutung hat, und der Antijudaismus überdies als geistes- wie sozialgeschichtliche Grundlage des politischen und rassischen Antisemitismus des 19. Jahrhunderts die Schoah mitzuverantworten hat, wird sie heute in der Wissenschaft nicht mehr oft getroffen. Solange sie von Christinnen und Christen nicht genutzt wird, sich von der historischen Mitverantwortung zu distanzieren (Wiese & Kiesel, 2015), scheint sie aber durchaus sinnvoll zu sein, weil sie eine differenzierte Auseinandersetzung mit den spezifisch religiös-theologischen Quellen ermöglicht, aus denen sich der Antisemitismus speist. Vor dieser Aufgabe der Identifikation genuin theologisch begründeter antijudaistischer Wahrnehmungs- und Denkmuster steht aber nicht nur eine von diesen kontaminierte Pastoral, sondern die gesamte Theologie. Jede Theologie, die sich aus einer mehr oder weniger subtilen Abwertung des Judentums speist, muss umkehren. In der Pastoral kann man diesem Antijudaismus in der nach wie vor verbreiteten „Überbietungs“-Rhetorik des Judentums durch das Christentum begegnen, in einem unreflektierten Selbstverständnis als „neues Israel“ oder in der fatalen Entgegensetzung von Liebe und Gesetz, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit.
Eine Atmosphäre von diffusen Scham- und Schuldgefühlen quer durch alle Generationen sowie die Angst, Fehler zu machen, verhindert eine selbstkritisch Auseinandersetzung mit diesen Stereotypen. Je nach Motivlage dieser Angst-Abwehr – kann diese aus einer authentischen Humanität ebenso stammen wie aus der transgenerationalen Übernahme nicht bearbeiteter realer Schuld und unreflektierten Mitläufertums in der Generation der (Ur-Groß)Eltern (Keil & Mettauer, 2016) – trifft man auf leidendes, ängstliches, beschämtes, widerständiges oder aggressives Schweigen. Mit der Verweigerung einer selbstkritischen Auseinandersetzung geht dann aber auch die Möglichkeit verloren, den eigenen Glauben weiterzuentwickeln und ggf. zu korrigieren und zu verändern. Da eine solche Umkehrbewegung (metanoia) aus einer jahrhundertealten Sozialisation unvermeidbar mit Verwirrung, Scham und Schmerz verbunden ist, wird sie angstvoll oder aggressiv abgewehrt.
Möglicherweise besteht eine der zentralen Quellen des christlichen Antijudaismus nach wie vor in der Verunsicherung, die die Treue der Jüdinnen und Juden zum eigenen Glauben sowie die Ablehnung, Jesus von Nazareth als Messias anzuerkennen, auslösen kann – gerade dann, wenn die theologische Nähe zum Christentum bewusst wird. Die Begegnung mit dem Judentum kann die Unsicherheit im eigenen Glauben (gerade in Fragen der Christologie) an die Oberfläche bringen und wird dann in Form der Aggression gegen Jüdinnen und Juden abgewehrt. Nicht ohne Grund meinte Friedrich-Wilhelm Marquardt, dass der christliche Antijudaismus erst dann ein Ende finden werde, wenn Christinnen und Christen ein jüdisches Nein in theologischen Fragen nicht nur tolerieren, sondern als „substanzhaltigen Widerspruch zum Ganzen ihres Lehrens von Gott, Welt und Mensch bejahen“ (Marquardt, 1981, S. 197).
Wessen Glaube unsicher ist, dessen (latenter) Antijudaismus kann dann sowohl mit und ohne Begegnung mit Jüdinnen und Juden stimuliert werden. Dann ist es gleichgültig, wie sich diese verhalten: Wer sich den eigenen Glaubensfragen nicht stellt, dem wird der/die fromme ebenso wie der/die säkulare oder der/die unbekannte Jude/Jüdin zum Objekt der Ablehnung. Auch die idealisierende Gegenbewegung, die Umarmung von Jüdinnen und Juden (z.B. durch Imitation von Pessach-Festen in Gemeinden, das Überbetonen von Gemeinsamkeiten und Negieren bzw. Ausblenden von Unterschieden) kann dafür Symptom sein: Das Nicht-Ertragen von Differenz kann dann jederzeit in Antisemitismus umschlagen.
c. Versteht man Antisemitismus als ein „Konstrukt der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft (…), das die Juden (das Individuum wie den Staat Israel benutzt, um eigene Positionen durch Ausgrenzung, Abwehr und Schuldzuweisung zu definieren und zu stabilisieren)“ (Benz, 2005, S. 17), kommen die neuen Formen des Antisemitismus in den Blick. Der Begriff „neuer Antisemitismus“ wurde allerdings bereits kritisch zurückgewiesen (Schwarz-Friesel & Friesel & Reinharz, 2010, S. 2), da auch die aktuellen Antisemitismen auf tradierten stereotypen Konzeptualisierungen beruhen und jeweils aktuellen Entwicklungen und Bedürfnissen entsprechend modifiziert werden. „Neu“ ist allerdings die quantitative Zunahme des Antisemitismus im öffentlichen Kommunikationsraum und qualitativ einerseits die Intensität der Manifestationsform des extremen Anti-Israelismus sowie andererseits dessen weitverbreitete Akzeptanz (Schwarz-Friesel et. al., 2010, S. 3).
Diese „neuen“ Einstellungsmuster hängen eng mit Anomie zusammen, d.h. dem Gefühl, angesichts zeitgenössischer globaler und nationaler Entwicklungen in einem „entsicherten Jahrzehnt“ (Heitmeyer, 2010, S. 15) weder Überblick noch Zukunftsaussichten zu haben. Autoritarismus und soziale Dominanzorientierung sind weitere Faktoren, die diese neuen Formen speisen (Leibold et. al., 2012, S. 190). Auch Christinnen und Christen sind von diesen soziologischen und sozialpsychologischen Entwicklungen betroffen. So konnte gezeigt werden, dass Menschen, die sich als besonders religiös verstehen, signifikant deutlicher autoritäre Einstellungsmuster aufweisen und soziale und kulturelle Minoritäten stärker abwerten als nicht-religiöse Menschen (Arts & Halman, 2010, S. 89).
Antizionistische Einstellungsmuster wiederum sind mir v.a. bei jenen Gläubigen begegnet, die sich politisch eher links und progressiv verorten (sog. „demokratischer Antisemitismus“, vgl. Holz, 2005). Diese zeigen manchmal auch eine ressentimentgeladene Abwehr nicht allein der ultraorthodoxen, sondern aller Spielarten des konservativen und orthodoxen Judentums aufgrund deren „Gesetzesfrömmigkeit“ und einer Vorliebe für das aus dieser Sicht aufgeklärtere, weil bessere Judentum der Liberalen und Progressiven. Der „linke“ Antisemitismus begegnet mir nicht selten auch gepaart mit der Ablehnung alttestamentlicher Gewalttexte im Gottesdienst, der Beschneidung und einer subtilen Abwehr, auf koschere Essensgewohnheiten Rücksicht nehmen zu sollen.
Der sekundäre Abwehr-Antisemitismus, der das Kollektiv „Israel“ zu Tätern erklärt, „die sich wie Nazis verhalten“ oder von Jüdinnen und Juden in politischen Belangen höhere ethische Standards fordern als sie selbst einzuhalten bereit sind, weil „die Juden“ es doch „besser wissen müssten“ (als wären Konzentrationslager moralische Besserungsanstalten gewesen), habe ich vor allem unter älteren Gläubigen wahrgenommen. Wenn jüngere Christinnen und Christen so argumentieren, suchen sie oft zeitgleich ernsthaft und aufrichtig Kontakt und Begegnung, um von Juden und Judentum zu lernen. Wie auch die jüngere Generation vieler Jüdinnen und Juden in Österreich sind sie bestrebt, das Judentum als zeitgenössische und vielgestaltige Wirklichkeit zu verstehen und nicht ausschließlich von der Shoah her zu definieren (Menasse, 2012). Fallweise antisemitisches Ressentiments geht m.W. auf Mängel an Kenntnis der Familienbiografie sowie an (historischer) Bildung zurück.
4 Pastoraltheologische Konsequenzen
Welche pastoraltheologischen Konsequenzen hat dieser – leider empirisch nur teilweise repräsentative – Befund, insbes. für die pastorale Bildungsarbeit?
Bewusstseinsveränderung
Zuallererst wäre ein Bewusstsein für die Aktualität der Problematik von Antijudaismus und Antisemitismus in der Pastoral zu schaffen, verbunden mit der Einsicht, dass dies kein Problem der Jüdinnen und Juden, sondern der Christinnen und Christen ist. Die strukturell und theologisch vorbildliche Be- und Aufarbeitung von Seiten des Lehramtes und einzelner Organisationen muss sich auf individueller wie Gemeindeebene widerspiegeln. Um zielsicher arbeiten zu können, bedarf es dazu unbedingt quantitativer wie qualitativer empirischer Studien der genuin christlichen bzw. katholischen Ausgangssituation.
Wertschätzung
Die Wertschätzung des jüdischen Volkes und des Alten Testaments scheint mir in Gemeinden und Institutionen der Katholischen Kirche infolge der Rezeption des Zweiten Vatikanums zwar durchaus vielerorts gegeben, birgt aber einige Fallstricke. Sowohl der Mangel an Kenntnis von Geschichte, Kultur und Religion des jüdischen Volkes in seiner zeitgenössischen Globalität und Vielfalt sowie der Mangel an Kontakt und Begegnung mit Jüdinnen und Juden – der Versuch der Ausrottung ist zwar gescheitert, hat aber eine riesige Lücke hinterlassen – kann zu Idealisierungen und Abspaltungen beim Vergleich eines phantasierten mit dem realen Judentum führen, die antisemitismusgenerativ wirken.
Diese Wertschätzung muss daher auf vielerlei Art konkretisiert werden: durch Rezeption des rabbinischen wie des zeitgenössischen religiösen Judentums ebenso wie zeitgenössischer sozialer, kultureller und politischer Äußerungen von Jüdinnen und Juden; durch Wissenserwerb über das zeitgenössische Judentum; durch Begegnungen und Dialog (so möglich). Die Auseinandersetzung mit dem Alten Testament muss sich dabei zum einen besonders der oft als schwierig empfundenen Texte widmen: Texte mit Gewaltnarrativen wie z.B. die Vernichtung der Ägypter (Ex 14,21f.) oder die Landnahme Israels im Buch Josua. Weiters bedarf es der Suche nach einer legitimen christlichen (auch christologischen) Interpretation des Alten Testaments, das ohne Vereinnahmung alttestamentlicher Motive (wie z.B. bei den Gottesknechtliedern im Buch Jesaja oder den Psalmen) auskommen muss.
Liturgie und Heilige Schrift
Mit Blick auf die Liturgie ist vor allem der Umgang mit jenen Texten des Neuen Testaments zu verbessern, die in der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte zu judenfeindlicher Agitation geführt haben (wie z.B. das Johannesevangelium und die Passionsgeschichten der Evangelien). Die historischen Hintergründe des repressiven Imperium Romanum sind dabei weder abstrakte Kontexte oder „Bühnen“, auf denen das „Eigentliche“ stattfindet, sondern verzerren als „Vordergründe“ und Lernorte des Glaubens bereits in den neutestamentlichen Texten eine sachgerechte Darstellung historischer Verhältnisse und fördern damit einen antijudaistisch imprägnierten Glauben (z.B. die verharmloste Rolle des Pilatus gegenüber der Verantwortung der jüdischen Religionselite).
Zu diesem Problemkomplex liegen bereits eine Unmenge an unterstützendem Material vor, wie z.B. die Seelisberger Thesen (1947), die Berliner Thesen (2010), das Handbuch „Von Abba bis Zorn Gottes“ (Petzel & Reck, 2017) oder Vorlagen des kirchlichen Lehramtes zur Gestaltung der Fastenzeit und der Heiligen Woche (Pastoralamt, 1989; Wiederentdeckung, 2000).
Im Dialog mit dem Judentum kann man überdies lernen, dass man die Heilige Schrift nicht als dogmatisches Lehrbuch lesen muss, sondern als Dialog-Partner entdecken kann, durch dessen Texte man in ein freies, spirituell-gläubiges Gespräch mit jüdischen und heidnischen Gläubigen anderer Zeiten und mit Gott selbst eintreten kann. Man muss nicht in einem andachtsvollen Glauben an Sätze und Vorstellungen erstarren, sondern darf fragen, nachdenken, lernen und sogar zweifeln. Dabei kann existenzieller Glaube wachsen und das Studium der Texte kann selbst zum Glaubensvollzug werden, wie es auch im Judentum verstanden wird.
Begegnung mit dem zeitgenössischen Judentum
Dialog, Begegnung und Konflikt sind wesentliche Bestandteile eines Ent-Lernens des Antisemitismus. Diese werden keinesfalls nur face-to-face stattfinden können, da die jüdische Bevölkerung eine Minorität ist und aus verständlichen Gründen nicht immer Interesse an einem Dialog mit Christinnen und Christen hat, zumal dann, wenn diese sie bis heute missionieren wollen. Aber Literatur, soziale Medien, youtube Videos sowie eine reichhaltige jüdische Kultur (z.B. Kultur- und Filmfestivals) sind in einer globalisierten Welt einfach verfügbare Dialog-Partner. Zudem sind zahlreiche jüdische communities selbst daran interessiert, dass die Mehrheitsgesellschaft mehr über die Vielgestaltigkeit des Judentums erfährt und stellt medial unzählige Angebote bereit.Solch multilateraler, virtueller Dialog ist auch notwendig, um als Korrektiv nicht der Versuchung zu erliegen, dass man „das“ Judentum zu kennen glaubt, weil man z.B. einen jüdischen Freund hat. Außerdem können Begegnungen negative wie positive Vorurteile auch verstärken. Daher sollten sie immer auch mit Selbstreflexion und Bildungsprozessen verbunden sein. Hier kommt den kirchlichen Profis und Bildungsinstitutionen eine wichtige Rolle zu.
Staat Israel
Zur Begegnung mit dem zeitgenössischen Judentum gehört auch die Auseinandersetzung mit dem Staat Israel in Geschichte und Gegenwart. Bei keiner anderen Debatte über keinen anderen Staat dieser Erde gehen die emotionalen Wogen (nicht nur) unter Christinnen und Christen so hoch wie bei Diskussionen um die Politik des Staates Israel. Sogar Freunde können sich dabei zerstreiten. Es scheint, als müsse man, v.a. bezüglich des Nahost-Konfliktes, eine parteiische Position beziehen.
Tatsächlich ist für Gläubige Neutralität nicht möglich. Denn ohne die Schoah und damit die christliche und kirchliche Mitverantwortung gäbe es weder den Staat Israel noch die tiefe Angst der Jüdinnen und Juden in Israel vor der Vernichtung, vielleicht auch nicht die rasante Säkularisierung vieler Jüdinnen und Juden. Solidarität mit dem Staat Israel bedeutet daher, jeglicher Aberkennung der Legitimität des Existenzrechtes des Staates Israel entschieden entgegen zu treten. Solidarität bedeutet freilich nicht, dass man an israelischer Regierungspolitik keine Kritik üben darf; aber diese bedarf entsprechender historischer, politischer, rechtlicher, kultureller sowie religiöser Kenntnis (wie übrigens jede politischen Kritik). Diese lehrt Bescheidenheit im Urteil sowie die Einsicht, dass Israel vielschichtiger ist als „der“ Nahostkonflikt, auf den es immer wieder reduziert wird. Dennoch werden solche Debatten noch lange nicht „normal“ sein können. Wie sollte das 70 Jahre nach der Schoah möglich sein?
Scham- und Schuldgefühle
Im Umgang mit Scham- und Schuldgefühlen sind der pastoralen Bildungsarbeit gewisse Grenzen gesetzt, da man dabei in Gefilde geraten kann, deren Bearbeitung psychoanalytischer oder psychotherapeutischer Expertise bedarf. Gleichwohl sollte und darf einen dieser Sachverhalt nicht abhalten, auch diese emotionale Dimension anzusprechen und entsprechende Sachkenntnisse und Reflexionsprozesse zur Verfügung zu stellen. Immerhin sind Themen wie Leid, Schmerz, Scham und Schuld genuin christliche Themen, die so auch pastoral wiederentdeckt werden könnten. Denn die Ausblendung dieser Thematiken in der (v.a. progressiven) Pastoral der vergangenen Jahrzehnte ist vielleicht auch dadurch gespeist, dass man 1945 die individuelle Schuld der Gläubigen nicht angemessen bearbeitet hat (Kellenbach, 2006). Das Verschweigen eines gerechten Gottes, vor dem man seine Taten rechtfertigen muss, hängt nicht nur mit einer jahrhundertelangen Pastoral der „Strafangst“ (Richter, 2008) zusammen, sondern auch mit der Verweigerung und Ohnmacht der ersten Kirchengeneration, ihre Schuld – auch die der Mitläuferinnen und Mitläufer, Beobachterinnen und Beobachter – zu bereuen.
Migrantinnen und Migranten
Nicht nur Muslimas und Muslime, auch migrantische Christinnen und Christen kommen zumeist aus Ländern, in denen keine mit Deutschland und Österreich vergleichbare Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus stattgefunden hat. So finden sich in dieser Gruppe vermutlich deutlich mehr Antijudaismus, alte Formen von Antisemitismus und Antizionismus. Je nach Herkunftsland haben diese migrantischen Antisemitismen ihre je spezifischen „Argumentations“muster.
Auch der islamische Antisemitismus betrifft die Kirche und ihre Gläubigen. So sehr dieses Problem ernsthaft gelöst werden muss, so sehr kann der Verweis auf diesen Christinnen und Christen dazu dienen, sich selbst freizusprechen und diesen die Verantwortung für das Ansteigen des Antisemitismus zu übertragen (Zimmermann, 2019, S. 431 ff.). Deshalb muss die Rolle Europas während der NS-Zeit beim Export des Antisemitismus in den Nahen Osten reflektiert werden (Küntzel, 2019). Dieses Faktum mildert zwar nicht die ethische Verantwortung antisemitischer Muslimas und Muslime, schützt Christinnen und Christen aber vor etwaigem Hochmut. Besonders komplex wird diese Thematik im christlich-islamischen Dialog. Weil für Katholikinnen und Katholiken das Judentum im Unterschied zum Islam eine theologisch einmalige und besondere Stellung hat, muss daher das Judentum immer „mit am Tisch sitzen“ (Renz, 2015, S. 215f.). Katholikinnen und Katholiken können so auf indirekte Weise etwas zur Bearbeitung des islamischen Antisemitismus beitragen.
Nicht zuletzt wird mit Blick auf die wachsende Normalität von Migrationskirchen auch die Frage nach der Weiterentwicklung der Gedenkkultur virulent.
Gedenkkultur
Eine weitere Aufgabe besteht in der Weiterentwicklung des Gedenkens, insbesondere der dafür erforderlichen ethischen Standards (Assmann, 2013). So ist es in Europa und vor allem in Österreich derzeit möglich, dass man Gedenkveranstaltungen der Schoah besucht, sich für das Judentum und den Staat Israel einsetzt, und zugleich Minderheiten, insbesondere muslimische, pauschaliter stigmatisiert, diskriminiert und exkludiert oder eine rassistische Ordnungspolitik betreibt. Da auch Gläubige Affinitäten zu jenen Parteien haben, die solch evidente Instrumentalisierung des Kampfes gegen den Antisemitismus betreiben oder dulden, besteht hier dringender Bildungsbedarf.
Auch das Sterben der letzten Zeit-Zeuginnen und Zeugen, die wachsende Normalität einer Migrationsgesellschaft und die aktuellen politischen Entwicklungen im Zeichen des Rechtspopulismus stellen vor neue Aufgaben. In den Täter-Gesellschaften dürfen die Vertriebenen und Ermordeten nicht vergessen werden. Weiters müssen die nächsten Generationen in Österreich und Deutschland – ungeachtet ihrer Herkunft – aus der geschichtlichen Erfahrung lernen, wie es zu diesem Zivilisationsbruch kommen konnte, und welche Rolle dabei Antijudaismus und Antisemitismus spielten.
Antisemitismus explizit
Nicht zuletzt muss man das Wesen des Antisemitismus, dessen Formen, Bedingungen und Auswirkungen in Geschichte und Gegenwart auch explizit verstehen lernen und sich dessen Wirklichkeit im eigenen Leben stellen. Im Unterschied zu den bisher genannten Aufgaben, die vor allem indirekte Wege darstellen, den Antisemitismus zu bekämpfen, ist die explizite Beschäftigung m.E. die unangenehmste und am stärksten mit Widerständen verbunden. Gleichwohl führt an der ausdrücklichen Benennung dieser Realität kein Weg vorbei.
Transformation des Glaubens
Wer sich einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Antijudaismus und Antisemitismus stellt, wird nicht umhinkönnen, deren manchmal unbemerkte und unabsichtliche Verstärkung durch gewisse theologische Denkfiguren wahrzunehmen und einer kritischen Analyse zu unterziehen sowie zu transformieren. Dies betrifft vor allem Fragen der Christologie und der Ekklesiologie. In der Pastoral virulent wird dies in den Formen der Christus-Spiritualität, der Christus-Verkündigung sowie des Selbstverständnisses der Kirche und deren Verhältnisses zu anderen Religionsgemeinschaften. Dabei geht es an das sog. „Eingemachte“. Aber ohne diese Lernprozesse wird der christliche Glaube immer in der Gefahr stehen, wenn auch nicht böse gemeint, Antijudaismus und Antisemitismus auszulösen und zu verstärken.
5 Theologische Überlegungen
Denn nicht die Juden haben den Antisemitismus zu verantworten. Die Wahrnehmung jeweils (nicht nur religiös) Anderer liegt bei aller historischen und soziokulturellen Prägung dennoch immer in der ethischen Verantwortung des Einzelnen. Außerdem zeigt eine historische Sicht, dass es das Christentum war, das den Antisemitismus zu einer globalen Größe werden hat lassen. In den vergangenen Jahrhunderten ist es Jüdinnen und Juden unter islamischer Herrschaft besser gegangen als unter christlicher (Cohen, 1995). Antisemitische Christinnen und Christen müssen sich also fragen, warum sie in Geschichte und Gegenwart Probleme mit Jüdinnen und Juden hatten und haben und sie ablehnen oder gar hassen.
Dazu gibt es einige religions- und sozialpsychologische Erklärungen: die theologische Ähnlichkeit, die zu einer Art Geschwisterrivalität, zu Neid und Hass führen kann; die Projektion des eigenen Unglaubens an Christi Natur; die Ähnlichkeit des Antisemitismus mit Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und anderen Formen des Menschenhasses auf soziale Gruppen.
Im orthodoxen Judentum freilich gibt es eine Erklärung des Antisemitismus (Prager & Telushkin, 2003, S. 13–24), die an die theologische Wurzel des Antisemitismus rührt. Der Antisemitismus wird dabei verstanden als Kampf gegen den Gott der Thora und sein untrennbar damit verbundenes Ethos: Abgelehnt werden die gleiche Würde aller Menschen bei gleichzeitiger Anerkennung deren Verschiedenheit; die Gerechtigkeit, die sich an den Armen und Marginalisierten orientiert; die Freiheit gegenüber Gott und den Menschen. Ins Säkulare übersetzt bedeutet dies, dass der Antisemitismus die Einzigartigkeit und Gleichheit aller Menschen leugnet, das Partikulare ebenso hasst wie das Universale (Rabinovici, 2019, S. 17) und eine Bedrohung des Humanum darstellt, für dessen Entdeckung und Förderung das Judentum seit Beginn seiner Existenz steht.
Nachdem dieses Ethos auch das Ethos des Christentums ist, trifft eine solche Analyse den christlichen Glauben natürlich ins Mark. Antisemitismus unter Gläubigen würde dann ja bedeuten, dass diese nicht an den Gott der Offenbarung glauben, weil sie dies nur dann authentisch tun, wenn sie auch sein Ethos anerkennen.
Dies ist nicht nur ein Problem der Geschichte der Kirchen. Auch heute gibt es Christinnen und Christen, die sich selbst, den Glauben und die Kirche, als nicht bloß verschieden, sondern vor allem als höherwertig gegenüber allen anderen betrachten, die nicht so glauben und zur je eigenen Kirche gehören. Empirisch nachweisbar gibt es zudem auch Christinnen und Christen, die den Idolatrien des Nationalismus und der Heimattümelei frönen und die Häresie des Rassismus vertreten (PEW-Research, 2018).
Aus dieser theologischen Sicht auf den Antisemitismus stellt dieser eine Gegenreligion zum Judentum und Christentum sowie eine Bedrohung für die gesamte Menschheit dar. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Jüdinnen und Juden haben seit jeher darauf aufmerksam gemacht, dass das Ansteigen des Antisemitismus immer auch Gefahr und Bedrohung für andere Minderheiten anzeige.
Im Angesicht einer Globalisierung, die neben allen Problemen auch die Chance einer zusammenwachsenden Menschheit eröffnet, ist der Antisemitismus ein Zeichen, dass dieses Projekt massiv bedroht ist. Da der Glaube an die eine, zusammenwachsende Menschheit zuinnerst transkonfessionell katholisch ist, muss der Kampf gegen den Antisemitismus daher auch aus diesem Grund ein prioritär pastorales und pastoraltheologisches Anliegen sein.
Denn die Idee der einen Menschheit ist eine im Zentrum des Glaubens. Wie gefährlich diese ist, wusste bereits Hannah Arendt, als sie im zweiten Teil ihrer „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, schrieb, dass die liberal-humanistischen Menschheitsvorstellungen „niemals den Schrecken erfasst (haben), die der Idee der Menschheit und dem jüdisch-christlichen Glauben an einen einheitlichen Ursprung des Menschengeschlechts zukommen, sobald nun wirklich alle Völker auf engstem Raum mit allen anderen konfrontiert sind“ (zit. nach Koenen, 2019, S. 118).
Literaturverzeichnis
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[1] Am 8. Mai 2019 fand zu diesem Thema eine internationale Konferenz im Vatikan statt, bei der Papst Franziskus für ein differenziertes Bild des Pharisäers warb. URL: https://www.kathpress.at/goto/meldung/1763818/papst-zeichnet-differenziertes-bild-der-biblischen-pharisaeer [Zugriff 05.05.2019].