1 Einleitung
Es ist bereits in der Primarstufe eine wichtige Aufgabe gegen Vorurteile zu intervenieren, da entwicklungspsychologische Studien gezeigt haben, dass Kinder im Alter von fünf bis sieben Jahren im Vergleich mit anderen Altersstufen besonders stark zu Vorurteilen neigen (Raabe & Beelmann, 2011, S. 1715). Eine Zunahme der Bereitschaft ab einem Alter von zwei Jahren Vorurteile auszubilden, gilt in der psychologischen Forschung als eine normale Entwicklung. Eine Abnahme dieser Voreingenommenheit lässt sich jedoch am Ende der Grundschulzeit nicht erkennen. Lediglich die Bereitschaft offen Vorurteile zu äußern, sinkt leicht im Alter von acht bis zehn Jahren, weil die Kinder dann die soziale Erwünschtheit diesbezüglich einschätzen können (Raabe & Beelmann, 2011, S. 1715).
Vorurteilen gegen Jüdinnen und Juden kann der christliche Religionsunterricht durch eine angemessene Verhältnisbestimmung entgegenwirken. Zentral ist dabei das Verhältnis Jesu zu Pharisäern, da sich daraus im Wesentlichen das Vorurteil speist, das Judentum sei eine Religion der Werkgerechtigkeit und Buchstabenfrömmigkeit aus der Jesus Christus mit seiner Botschaft der Liebe befreit habe. Dieser Annahme können bereits Schülerinnen und Schüler der Primarstufe begegnet sein oder direkt im Religionsunterricht der Grundschule erfahren, wenn mit dieser Thematik nicht sensibel genug umgegangen wird. Daher liegt in diesem Beitrag der Fokus auf dem Verhältnis Jesu zu Pharisäern, wobei sich die Analyse verschiedener Lehrpläne und Schulbücher auch mit weiteren neuralgischen Themen beschäftigt,[1] wie die folgenden Ausführungen zum religionspädagogischen Forschungsstand darlegen.
2 Der religionspädagogische Forschungsstand
Wie das Judentum in Lehrplänen und Schulbüchern für den Religionsunterricht dargestellt wird, haben in den 1980er und 1990er Jahren mehrere Studien untersucht. Wegweisend für diese Arbeiten war das Forschungsprojekt unter Günter Biemer an der Universität Freiburg, aus dessen Mitte die Publikationsreihe ‚Lernprozess Christen Juden‘ entsprungen ist.[2] Peter Fiedler (1980) hat in diesem Rahmen ein Kategoriensystem zur Beurteilung von Lehrplan- und Schulbuchinhalten bezüglich der Darstellung des Judentums entwickelt,das fachwissenschaftlich sehr gut fundiert ist und daher den nachfolgenden empirischen Lehrplan- und Schulbuchanalysen von Helga Kohler-Spiegel (1991) und Martin Rothgangel (1997) zur Darstellung des Judentums als methodischer Maßstab diente.Ebenso hat Heinz Kremers an der Universität Duisburg die Projektgruppe ‚Judentum im Unterricht‘ ins Leben gerufen, deren Forschungsergebnisse auch im Jahr 1980 veröffentlicht worden sind (Jochum & Kremers, 1980). In diesem Rahmen führte Ruth Kastning-Olmesdahl (1981) ihre Untersuchung zur Darstellung der Verantwortung für Jesu Tod in Schulbüchern für die Grundschule durch.
Insgesamt kommen die oben genannten Forschungsarbeiten zu dem Ergebnis, dass Lehrpläne, Schulbücher und Unterrichtsmaterialien für den christlichen Religionsunterricht religionskundlich durchaus eine angemessene Darstellung des Judentums bieten (Rothgangel, 1997, S. 123). Allerdings veranschaulichen sie bei bestimmten Themen die christliche Identität auf Kosten des Judentums. So beachten Darstellungen zum Alten Testament oftmals nicht, dass es sich dabei auch um die Heilige Schrift des gegenwärtigen Judentums handelt. Sie vereinnahmen es ausschließlich christlich und vermitteln damit den Eindruck, dass das Christentum an die Stelle des Gottesvolkes Israel getreten sei (Fiedler, 1980, S. 199; Kohler-Spiegel, 1991, S. 316; Rothgangel, 1997, S. 125). Ebenso bezeichnet das untersuchte Material die Tora fälschlicherweise als ‚Gesetz‘, von dessen strikter Auslegung im Judentum Jesus mit seiner Botschaft von der Barmherzigkeit Gottes befreit habe (Fiedler, 1980, S. 200–201). Damit eng verbunden ist die Darstellung ‚der Pharisäer‘, die als Vertreter des gesamten Judentums fungieren und im Gegensatz zu Jesus eine lebensfeindliche Gesetzesobservanz verfolgen (Fiedler, 1980, S. 181). Zudem stellen die analysierten Lehrpläne und Schulbücher einen Kausalzusammenhang zwischen den Auseinandersetzungen Jesu mit Pharisäern und seiner Passion her (Fiedler, 1980, S. 190; Rothgangel,1997, S. 122–123). Somit wird der Gottesmordvorwurf implizit weiterhin erhoben, auch wenn dieser nicht mehr explizit ausgesprochen wird.
Die Darstellung der Geschichte Israels basierend auf dem Alten Testament ist in der Regel kein Problem, doch wird die Zeit zwischen der zweiten Tempelzerstörung und der Schoah meist nicht thematisiert, sodass diese Ereignisse ‚heilsgeschichtlich‘ als Bestrafung und endgültige Verwerfung des Judentums interpretiert werden können (Fiedler, 1980, S. 155; Rothgangel, 1997, S. 123). Vor diesem Hintergrund ist es dann unmöglich zu begründen, weshalb Christinnen und Christen für das Existenzrecht des Staates Israels eintreten sollen. Grundlegend steht der christliche Religionsunterricht vor der Herausforderung, zu einer angemessenen Verhältnisbestimmung zwischen Christentum und Judentum zu gelangen. Es gilt beispielsweise, das Judentum zur Zeit Jesu differenziert und positiv darzustellen, um eine kontrastierte Gegenüberstellung der Botschaft Jesu mit ‚den Pharisäern‘ zu vermeiden. Problematisch ist in diesem Zusammenhang das Besondere der christlichen Botschaft ebenso zu verdeutlichen, denn dies ist wesentlich verständlicher, wenn ‚die Pharisäer‘ die negative Kontrastfolie zur Botschaft Jesu darstellen.
Seit dem Jahr 1995 liegt keine umfassende Forschungsarbeit mehr vor, die mit der qualitativen Inhaltsanalyse die Darstellung des Judentums sowie des christlich-jüdischen Verhältnisses in Lehrplänen und Schulbüchern für den christlichen Religionsunterricht untersucht. Aufgrund der fehlenden aktuellen Forschungsarbeiten mit dem Fokus auf qualitative Inhaltsanalysen von Lehrplänen und Schulbüchern zu den genannten neuralgischen Themen, stellt sich die Frage, ob sich die Darstellung in der Zwischenzeit verändert hat. Daher untersucht die vorliegende Analyse, wie zurzeit zugelassene Lehrpläne und Schulbücher in Deutschland und Österreich die genannten neuralgischen Themen darstellen und vergleicht diese Ergebnisse mit den vorangegangenen Untersuchungen von Peter Fiedler, Helga Kohler-Spiegel und Martin Rothgangel (1997). Der nachfolgende Abschnitt erläutert die methodische Vorgehensweise.
3 Die methodische Vorgehensweise
Sowohl Peter Fiedler als auch Helga Kohler-Spiegel und Martin Rothgangel haben in ihren Untersuchungen mit der qualitativen Inhaltsanalyse gearbeitet. Gegenwärtig ist die Weiterentwicklung dieser Methode nach Philipp Mayring (2015) Standard in der empirischen Forschung.Sie erfährt aufgrund ihrer regelgeleiteten Vorgehensweise eine hohe Akzeptanz, denn die Gütekriterien der empirisch-quantitativen Forschung, d.h. Objektivität, Reliabilität und Validität, sind auch bei dieser qualitativen Methode von hoher Bedeutung. Dadurch ist gewährleistet, dass die Analyse wiederholbar und somit nachvollziehbar sowie überprüfbar gestaltet ist. Damit begegnet Mayring dem Vorwurf der Beliebigkeit seitens der Anhänger quantitativer Methoden.
Zu beachten ist jedoch, dass bei qualitativer Forschung die Validität Vorrang vor der Reliabilität besitzt, da qualitative Forschung in erster Linie theoriegeleitet ist und demnach leichte methodische Ungenauigkeiten weniger ins Gewicht fallen, solange theoretische Stringenz gewahrt wird (Mayring, 2015, S. 50–51). Um theoretische Stringenz zu gewährleisten, ist folglich eine präzise theoriegeleitete Formulierung von Fragestellungen unabdingbar und der erste Schritt einer Inhaltsanalyse. Auf der Grundlage bestimmter Fragestellungen und theoretischer Hintergründe wird als Kern der regelgeleiteten Analyse von Datenmaterial ein Kategoriensystem erstellt, um das vorliegende Material bezüglich der Fragestellung bewerten zu können. Die genannten Komponenten Regelgeleitetheit, Gütekriterienund Kategorien sind Prinzipien quantitativer inhaltsanalytischer Verfahren, die Mayring in seinem Ansatz der qualitativen Inhaltsanalyse beibehält (2015, S. 51–52). Dabei ist zwischen einer induktiven Kategorienentwicklung und einer deduktiven Kategorienanwendung zu unterscheiden.
Um eine Vergleichbarkeit mit den genannten früheren Studien zu gewährleisten, wird in der vorliegenden Analyse ebenfalls das Kategoriensystem von Peter Fiedler angewandt. Während der Untersuchung ist allerdings deutlich geworden, dass vor allem Materialien aus dem Primarbereich mit diesem Instrumentarium nur unzureichend bewertet werden können. Diese Problematik verdeutlicht der nächste Abschnitt anhand von zentralen Ergebnissen aus der Gesamtanalyse von Spichal (2015).
4 Zusammenfassung der Analyseergebnisse
Im Primarbereich hat die genannte Untersuchung Lehrpläne aus Bayern, Niedersachsen und Österreich sowie die Schulbuchreihe ‚Wegzeichen Religion‘ analysiert.
Unter dem Themenbereich ‚Von Jesus hören – auf Jesus hören‘ formuliert der Lehrplan des evangelischen Religionsunterrichts für die Jahrgangsstufe 1 in Bayern zum Inhaltsbereich ‚Menschen begegnen Jesus‘ als Einzelinhalt: „Jesus kümmert sich um einsame und ausgestoßene Menschen (Mk 2,13–17).“ (Lehrplan GS Bayern, 2000, S. 60)
Zwar verwendet der Lehrplan an der zitierten Textstelle nicht ausdrücklich den Begriff ‚Pharisäer‘, dennoch benennt er als Grundlage biblische Verse, die explizit Pharisäer als Kritiker der Ethik Jesu hinsichtlich seiner Zuwendung zu Sündern aufführen und damit den neuralgischen Punkt des Verhältnisses Jesu zu Pharisäern thematisieren. Aus diesem Grund gehört dieser Abschnitt zur Auswertungseinheit und ist nach der Einschätzungsdimension ‚Jesus und (die) Pharisäer‘ im Kategoriensystem von Peter Fiedler zu bewerten (1980, S. 65–66). Danach muss die Textstelle als tendenziös beurteilt werden, denn sie benennt keinen der Aspekte, die dem Analyseinstrumentarium zufolge für eine sachgemäße Darstellung notwendig sind (Fiedler, 1980, S. 66). So geht aus der Darstellung nicht ausdrücklich hervor, dass Pharisäer im Neuen Testament zumeist polemisch verzeichnet werden und die biblischen Darstellungen aus diesem Grund nicht als historische Quelle angesehen werden dürfen (Fiedler, 1980, S. 65–66). Das pharisäische Selbstverständnis ist ebenso wenig berücksichtigt wie die geistige Verwandtschaft Jesu mit Pharisäern, sodass versäumt wird, Konflikte zwischen Jesus und Pharisäern als innerjüdisch darzustellen. Erst auf diesem Hintergrund ist es Fiedler zufolge möglich, dass die Unterschiede ohne polemische Verzeichnungen thematisiert werden können (1980, S. 65–66).
Es bleibt allerdings fraglich, ob eine tendenziöse Bewertung tatsächlich angemessen ist, da nicht alle genannten Aspekte aufgrund der entwicklungspsychologischen Voraussetzungen von Grundschülerinnen und -schülern thematisiert werden können. Zwar sind die klassischen Stufentheorien von Piaget, Kohlberg, Oser / Gmünder und Fowler in der Religionspädagogik zunehmend in die Kritik geraten, doch bieten sie verknüpft mit Erkenntnissen der neueren domänenspezifischen psychologischen Forschung weiterhin wichtige Anhaltspunkte zur kognitiven Entwicklung von Kindern und Jugendlichen (Büttner & Dieterich, 2013, S. 9). Daher lässt sich vermuten, dass Schülerinnen und Schüler der ersten Grundschulklassen aufgrund ihres wörtlichen Verständnisses biblischer Texte die Polemik gegen Pharisäer noch nicht als solche erkennen können, sondern als tatsächliche Wesensbeschreibungen verstehen. Aus diesem Grund ist es notwendig, das Kategoriensystem von Peter Fiedler schülergemäß zu überarbeiten. Ein Vorschlag für ein solches Analyseinstrumentarium zur Bewertung von Lehrplan- und Schulbuchinhalten der Primarstufe in Hinblick auf das Verhältnis Jesu zu Pharisäern findet sich im nächsten Kapitel dieses Aufsatzes.
Aufgrund der soeben beschriebenen kognitiven Voraussetzungen von Schülerinnen und Schülern der Primarstufe ist es sinnvoll, Pharisäer erst dann zu thematisieren, wenn die Kinder zu Abstraktionen fähig sind, um die Tradierung von Vorurteilen gegen Pharisäer und das Judentum insgesamt zu vermeiden. Diesen Ansatz verfolgt die Schulbuchreihe ‚Wegzeichen Religion‘, die die Ausführungen des Lehrplans für den evangelischen Religionsunterricht in Bayern konkretisiert. Interessanterweise erzählt nämlich der Schulbuchtext die im Lehrplan angegebene biblische Grundlage Mk 2,13–17 nach, verwendet aber den Begriff ‚Pharisäer‘ nicht:
„Die Leute sagen: ‚Mit Zöllnern setzt man sich nicht an einen Tisch. Sie nehmen mehr Geld, als recht ist. Sie arbeiten mit den Römern zusammen. Die Römer sind unsere Feinde.‘ Jesus kommt an die Zollstation. Er sieht Levi. Er ruft ihn zu sich. Er geht mit ihm in sein Haus. Er setzt sich an seinen Tisch und isst mit ihm. Jesus sagt: ‚Gerade zu den Menschen, die Hilfe brauchen, bin ich gekommen.“ (Miederer, 2001, S. 24)
Nach Fiedlers Kategoriensystem müsste diese Textstelle ebenfalls als tendenziös bewertet werden, doch ist dies aus den genannten Gründen keine angemessene Bewertung. Vielmehr bietet das Schulbuch mit dieser Nacherzählung eine Möglichkeit, die ungewollte Tradierung von Vorurteilen zu vermeiden.Trotz der Unzulänglichkeiten des Kategoriensystems lassen sich damit dennoch Erkenntnisse gewinnen, die mit früheren Analyseergebnissen vergleichbar sind. So hat die Analyse im Hinblick auf die Verantwortlichen am Tod Jesu im Lehrplan für die Grundschule in Bayern eine zunehmende Differenzierung von Schulstufe 1 bis 3 ergeben: Eine sachgemäße Darstellung, die die Hauptverantwortung eindeutig Pontius Pilatus zuschreibt, liegt erst in Klasse 3 vor (Lehrplan GS Bayern, 2000, S. 61). Die dazugehörige Schulbuchreihe ‚Wegzeichen Religion‘ überträgt jedoch in Band 3 entgegen den Vorgaben des Lehrplans allein dem Hohen Rat die Verantwortung für Jesu Tod und verschweigt Pontius Pilatus dabei vollkommen (Miederer, 2003, S. 70).
Ebenso sachlich falsch gestaltet der vierte Band dieser Reihe das christlich-jüdische Verhältnis im Kapitel zu Paulus. Dort heißt es:
„Zur Zeit Jesu lebte in Syrien Paulus, ein frommer Jude. Er lernte das Gesetz der Juden und hielt sich streng an ihre Gebote; denn er wollte vollkommen sein vor Gott. […] Paulus weiß jetzt: Nicht ich habe Recht, sondern die Christen. Paulus ist danach wie verwandelt: Ein neuer Mensch.“ (Beck-Seiferlein, 2004, S. 64).
Bei dieser Darstellung gerät Paulus‘ Judesein und Toratreue nach seinem Damaskuserlebnis völlig aus dem Blick, was in der früheren Ausgabe dieses Schulbuchs aus dem Jahr 1980 noch deutlich herausgestellt worden ist (Rothgangel, 1997, S. 137). Diesbezüglich liegt also eine deutlich negative Veränderung vor.
Von den genannten problematischen Textstellen hebt sich die Einheit zum Judentum in Band 3 hingegen positiv ab. Dieses Kapitel ist im Vergleich mit der Ausgabe von 1977 neu aufgenommen worden und verdeutlicht das Bemühen, einen lebendigen Eindruck des gegenwärtigen Judentums zu vermitteln (Miederer, 2003, S. 81–82).
Einen ebenso positiven Eindruck vom Judentum erzeugt die Darstellung des Passahfestes beim Thema Exodus im vierten Band der Reihe, sowohl in der Ausgabe von 1980 als auch in der aktuell zugelassenen (Rothgangel, 1997, S. 138–139). Allerdings stellt sich in diesem Zusammenhang vor allem im christlichen Religionsunterricht die Frage nach der Gültigkeit des Bundes und der Heilszusagen für das gegenwärtige Judentum. Dieser Aspekt kommt in beiden Ausgaben nicht zum Tragen.
Im Lehrplan für den evangelischen Religionsunterricht an bayerischen Grundschulen ist die Verwurzelung des Christentums im Judentum zwar aufgeführt, jedoch lediglich unter dem spezifischen Thema ‚Judentum‘ Gegenstand des Unterrichts. Bereits Martin Rothgangel hat dies in seiner Analyse des Lehrplans für den evangelischen Religionsunterricht an bayerischen Grundschulen von 1993 kritisiert (Rothgangel, 1997, S. 136). Es ist wünschenswert, diese Verwurzelung auch bei den Themen zu betonen, die das Judentum nicht explizit zum Gegenstand haben, wie Helga Kohler-Spiegel vorschlägt (Kohler-Spiegel, 1991, S. 324). Zu einer Würdigung des Judentums als Wurzelgrund des christlichen Glaubens könnte beispielsweise beitragen, alttestamentliche Texte auch im jüdischem Auslegungshorizont zu deuten, was aber im Lehrplan für bayerische Grundschulen aus dem Jahr 2000 nicht erfolgt.
Eine wichtige positive Weiterentwicklung im Vergleich mit dem Lehrplan von 1993 liegt allerdings ebenfalls vor, denn das Judentum ist nicht mehr als Wahl-, sondern als Pflichtthema vorgesehen (Rothgangel, 1997, S. 135; Lehrplan GS Bayern, 2000, S. 164). Die Inhalte zu diesem Thema sind weitgehend beibehalten worden, sodass die Darstellung des Judentums nach wie vor als sachgemäß zu beurteilen sind. Dennoch besteht noch Nachbesserungsbedarf im Zusammenhang mit Sabbat und Synagoge, an dieser Stelle sind die Verbindungslinien zum christlichen Sonntag und Wortgottesdienst herauszustellen. Beim Thema Exodus ist zu erwähnen, dass Gottes Bund mit seinem Volk Israel weiterhin ungebrochen ist.
Seit der Analyse in Spichal (2015) ist ein neuer kompetenzorientierter Lehrplan für die Jahrgangsstufen 1 und 2 in Kraft getreten. Die Leviperikope ist immer noch unter dem Lernbereich 2 ‚Jesus Christus – Gott wird Mensch‘ vorgesehen, doch ist sie lediglich als ein möglicher Inhalt neben anderen aufgeführt. Ebenso finden sich jetzt keine näheren inhaltlichen Ausführungen mehr dazu (Lehrplan Plus GS, 2019). Allerdings ist in unmittelbarem Zusammenhang Jesu Judesein verdeutlicht, sodass die Darstellung nach Fiedler als sachgemäß beurteilt werden kann (Fiedler, 1980, S. 66). Der Lehrplan verdeutlicht damit nämlich, dass der Konflikt zwischen Jesus und Pharisäern innerjüdisch gewesen ist.
Als ein besonders herausragender Einzelfall des untersuchten Materials ist noch der Lehrplan für Volksschulen in Österreich hervorzuheben. Dieser erwähnt nämlich als einziger bezüglich der Verantwortung für Jesu Tod, dass sich in der Passion Jesu Gottes Heilswille verwirklicht (Lehrplan VS Österreich, 2010, S. 22). Dies ist ein Aspekt, der unbedingt bei diesem Thema berücksichtigt werden sollte.
5 Überarbeitung des Kategoriensystems
Wie bereits erwähnt, ist das Kategoriensystem von Peter Fiedler schülergemäß zu überarbeiten, da die kognitiven Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler in den ersten Schulstufen nicht ausreichend berücksichtigt sind. In der genannten Dissertation sind für die Überarbeitung des Kategoriensystems die Prinzipien der Elementarisierung angewandt worden, da dieser religionsdidaktische Ansatz fachwissenschaftliche Erkenntnisse mit der Perspektive der Schülerinnen und Schüler verschränkt (Spichal, 2015; Schweitzer, 2011, S. 9–30). In diesem Aufsatz sind nur die wesentlichen Erkenntnisse aus der Elementarisierung des Verhältnisses Jesu mit Pharisäern aufgeführt, um zu erläutern, auf welchen Grundlagen das entwickelte Analyseinstrumentarium basiert.
Kinder im Grundschulalter befinden sich größtenteils in der Phase des mythisch-wörtlichen Glaubens und sind daher in der Regel nur auf der Objektebene zu tiefergehenden Reflexionen fähig (Büttner & Dieterich, 2013, S. 206). Sie verstehen aus diesem Grund noch keine Gleichnisse oder Metaphern, hören aber gern anschauliche Geschichten. In Bezug auf Jesus sind Schülerinnen und Schüler der Primarstufe sehr an narrativen Aspekten interessiert, daher sind für sie Erzählungen interessant, die Jesus in seiner Zeit und Umwelt darstellen. Diesbezüglich ist unbedingt darauf zu achten, dass diese Geschichten Jesu Judesein verdeutlichen, da nur auf diese Weise Differenzen zwischen Jesus und Pharisäern als innerjüdisch und somit angemessen charakterisiert werden können. Dabei handelt es sich um einen unabdingbaren Grundaspekt der christlich-jüdischen Verhältnisbestimmung und sollte daher bereits in der Grund- bzw. Volksschule vermittelt werden.
Die besondere Zuwendung Jesu zu Sündern ist eine solche Differenz, die nach dem Lehrplan für bayerische Grundschulen bereits in der ersten Schulstufe thematisiert werden kann und bezieht sich dabei ausdrücklich auf Mk 2,13–17 (Lehrplan GS Bayern, 2000, S. 60). Der erste Band der Reihe ‚Wegzeichen Religion‘ erzählt diese Perikope nach und vermeidet dabei den Begriff ‚Pharisäer‘, indem der Text diesen durch ‚die Leute‘ ersetzt, wie oben bereits erwähnt. Eine derartige Darstellung ist für die Grundschule geeignet, da damit ‚die Pharisäer‘ als Negativfolie zu Jesu Botschaft ausgespart bleiben, solange die Kinder noch nicht in der Lage sind, die Polemik der biblischen Texte zu reflektieren. Es ist zu erwarten, dass Schülerinnen und Schüler der Primarstufe aufgrund ihres wörtlichen Verständnisses von Texten, diese Reflexion nicht leisten können. Aus diesem Grund kann eine solche Darstellung als akzeptabel gelten, auch wenn Jesu Judesein nicht unmissverständlich deutlich wird.
Im Vordergrund steht stattdessen, welche Bedeutung diese vorbehaltlose Zuwendung Jesu zu den Menschen für den Glauben der Schülerinnen und Schüler hat. Darin wird die Liebe Gottes spürbar, die sie selbst auch andere spüren lassen können, indem sie sie nicht ausgrenzen, sondern annehmen.
Für die Kinder der ersten Jahrgangsstufe sind diese Inhalte erfahrbar und nachvollziehbar, daher ist dieser Aspekt des Verhältnisses Jesu zu Pharisäern sehr gut geeignet für dieses Alter. Die Konflikte um die Sabbatauslegung hingegen lassen sich nicht direkt auf die Erfahrungswelt der Schülerinnen und Schüler übertragen, worin vermutlich der Grund liegt, weshalb dieses Thema in dem analysierten Material für die Primarstufe nicht vorgesehen ist. Daher berücksichtigt das Instrumentarium für zukünftige Lehrplan- und Schulbuchanalysen diesen Aspekt ebenfalls nicht.
Im Lehrplan für die dritte Schulstufe an Volksschulen in Österreich ist der Begriff ‚Pharisäer‘ im Gegensatz zum Lehrplan in Bayern und dem niedersächsischen Kerncurriculum explizit genannt, und zwar im Zusammenhang mit Lk 7,36–50 (Lehrplan kath. und ev. Religionsunterricht VS, 2010, S. 22). Diese Textstelle thematisiert wiederum Jesu Zuwendung zu Sündern, hier ist aber der Pharisäer Simon als Kritiker Jesu benannt. In solch einem Fall ist es notwendig, das Verhältnis Jesu zu Pharisäern möglichst differenziert zu beschreiben.
Zum Beispiel ist neben den Konfliktsituationen auch zu erwähnen, dass Pharisäer und Jesus wohl nicht immer einer Meinung gewesen sind, Jesus aber öfter bei Pharisäern zu Gast war, wie ‚Lukas‘ schreibt, und das auf ein gutes Verhältnis hindeutet. Es kann auch aufgeführt sein, dass sie sich in Bezug auf das Hauptgebot der Tora einig waren und ebenso bezüglich der Hoffnung auf Auferstehung. Welchen Aspekt letztendlich der Lehrplan oder das Schulbuch thematisiert, hängt vom Kontext ab. Es ist dabei lediglich zu vermeiden, Jesu Botschaft als barmherzig dazustellen und zugleich als Gegensatz dazu, die pharisäische Lehre als ausgrenzend zu beschreiben.
Zudem ist darauf zu achten, dass zwischen den Auseinandersetzungen Jesu mit Pharisäern und seiner Passion kein Kausalzusammenhang hergestellt wird – weder explizit noch implizit durch die unmittelbare Aneinanderreihung dieser beiden Themen. Eine derartige Aneinanderreihung ist deshalb zu vermeiden. Um sicher dem Eindruck entgegenzuwirken, es bestünde ein solcher Kausalzusammenhang, sollte Pontius Pilatus als Hauptverantwortlicher für Jesu Tod dargestellt sein. Auf diese Weise tragen die Unterrichtsmaterialien dem Umstand Rechnung, dass unklar ist, inwieweit Pharisäer an der Verhaftung und Verurteilung Jesu beteiligt waren, die neutestamentlichen Evangelien sie aber in diesem Zusammenhang nicht erwähnen, obwohl an mehreren Stellen Tötungsabsichten geschildert sind. Eine Reflexion der neutestamentlichen Polemik ist in dieser Altersstufe aufgrund des wörtlichen Verständnisses von biblischen Texten wohl nicht möglich. Aus diesen theoretischen Grundlegungen ergibt sich das folgende Analyseinstrumentarium:
Einschätzungsdimension: Jesu Zuwendung zu Sündern
Die Darstellung ist als angemessen zu bewerten, wenn einer der folgenden Aspekte zutrifft:
1) Jesu Judesein ist im Kontext seiner Zuwendung zu Sündern ausdrücklich benannt bzw. wird unzweifelhaft verdeutlicht. Dabei ist es irrelevant, ob Pharisäer explizit als Kritiker Jesu auftauchen.
2) Jesu Judesein ist ausdrücklich benannt bzw. wird unzweifelhaft verdeutlicht und das Verhältnis wird differenziert beschrieben, sollten Pharisäer ausdrücklich als Kritiker Jesu aufgeführt sein. D.h. neben den Differenzen ist im Kontext auch mindestens einer der folgenden Punkte benannt:
3) Pharisäer und Jesus waren wohl nicht immer einer Meinung, jedoch war Jesus ‚Lukas‘ zufolge öfter bei Pharisäern zu Gast, was auf ein gutes Verhältnis hindeutet.
4) Pharisäer und Jesus waren sich in Bezug auf das Hauptgebot der Tora und der Hoffnung auf Auferstehung einig.
Die Darstellung ist als akzeptabel zu bewerten, wenn der folgende Aspekt zutrifft:
Jesu Judesein wird zwar nicht verdeutlicht, jedoch fungieren Pharisäer auch nicht als Negativfolie für seine Botschaft, da sie nicht ausdrücklich als Gegner Jesu benannt sind.
Die Darstellung ist als unangemessen zu bewerten, wenn der folgende Aspekt zutrifft:
Jesu Zuwendung zu Sündern wird als barmherzig dargestellt, während die pharisäische Lehre als ausgrenzend beschrieben ist.
Einschätzungsdimension: Verantwortung für Jesu Tod
Die Darstellung ist als angemessen zu bewerten, wenn der folgende Aspekt zutrifft:
Auf die Auseinandersetzungen Jesu mit Pharisäern folgt nicht unmittelbar die Schilderung seiner Verhaftung und Passion. Dabei ist es irrelevant, ob zuvor Pharisäer konkret als Kritiker Jesu benannt worden sind. Die Verantwortung für Jesu Tod wird ausdrücklich Pontius Pilatus zugeschrieben.
Die Darstellung ist als akzeptabel zu bewerten, wenn der folgende Aspekt zutrifft:
Zwar folgt die Schilderung der Passion Jesu unmittelbar nach seinen Auseinandersetzungen mit Pharisäern, es wird aber die Hauptverantwortung für Jesu Tod deutlich Pontius Pilatus zugeschrieben.
Die Darstellung ist als unangemessen zu bewerten, wenn einer der folgenden Aspekte zutrifft:
1) Es erfolgt eine unmittelbare Aneinanderreihung von Jesu Auseinandersetzungen mit Pharisäern und seiner Passion, indem direkt im Anschluss an die Schilderung des Konflikts, ein heimlicher Mordplan ‚der Pharisäer‘ gegen Jesus geschildert wird.
2) Zwar erwähnt das Schulbuch einen heimlichen Mordplan ‚der Pharisäer‘ nicht, es erfolgt aber dennoch eine unmittelbare Aneinanderreihung der Kapitel bezüglich Jesu Konflikten mit Pharisäern und seiner Passion, ohne die Hauptverantwortung an Jesu Tod ausdrücklich Pontius Pilatus zuzuschreiben.
6 Ausblick
Um eine grundlegende Neuausrichtung in der Konzeption von Lehrplänen, Schulbüchern und darüber hinaus auch Unterrichtsmaterialien für den Primarbereich im Hinblick auf antijüdische Vorurteile anzustoßen, ist es wünschenswert, das oben genannte überarbeitete Kategoriensystem in einer umfassenden Analyse auf dieses Material anzuwenden. Auf diese Weise kann das Instrumentarium erprobt und gegebenenfalls überarbeitet werden. Zudem stellt es ein Forschungsdesiderat dar, auch für weitere neuralgische Themen wie beispielsweise das Erste Testament als Heilige Schrift des gegenwärtigen Judentums Analyseinstrumentarien zu entwickeln. Nur auf diese Weise ist es möglich, antijüdischen Vorurteilen in Lehrplänen und Schulbüchern für den Religionsunterricht in der Grundschule umfassend und nachhaltig entgegen wirken zu können.
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Dr. Julia Spichal
ist Post-Doc Assistentin am Institut für Religionspädagogik der Evangelisch-Theologischen Fakultät an der Universität Wien.
Vgl. für eine ausführliche Darstellung zu Vorurteilen gegen Juden im christlichen Religionsunterricht auch im Hinblick auf andere Schulstufen Spichal (2015).
Die grundlegenden Bände dieser Reihe sind Biemer (1981) sowie Biemer, Biesinger und Fiedler (1984).