1 Religionsdidaktische Ausgangslage und Fragestellung
Die Erzelternerzählungen haben im evangelischen und katholischen Religionsunterricht einen festen Platz. Besonders in der Grundschule gehören sie zum klassischen religionspädagogischen Kanon, wobei diese herausragende Rolle sich weder theologisch noch didaktisch so eindeutig begründen lässt (Schröder, 2011). Religionslehrpersonen äußern, dass sie Schwierigkeiten damit haben, welche Texte und Aspekte der Erzelternerzählungen im Religionsunterricht angesprochen werden sollten und worin die Lernchancen bezüglich der Thematisierung bestimmter Geschichten liegen können (Fricke, 2005, S. 462). Moralisch orientierte Annäherungen, die den Gehorsam, das Vertrauen bzw. den Glauben Abrahams als Vorbild in den Mittelpunkt der religionsdidaktischen Rezeption stellen, erweisen sich immer wieder als fachlich und didaktisch problematisch. Lebensweltlich orientierte Erschließungsversuche bleiben von Trivialisierungen nicht immer verschont (Berg, 2001, S. 52). Emotionsbezogene, erfahrungsorientierte Parallelisierungen sind besonders bedenklich, wenn z.B. Jugendliche in Klasse 5/6 aufgefordert werden, sich in Isaaks Lage zu versetzen und sich vorzustellen, dass ihr Vater sie opfern wollte, und sie dann die Geschehnisse und ihre Gefühle rückblickend ihrer Mutter in einem Brief schildern sollen (:in Religion 4/2021, S. 22).
Darüber hinaus standen lange Zeit in Materialien zum Religionsunterricht die Erzväter mit ihren nomadischen Lebensweisen und ihrem Gottvertrauen im Vordergrund. Der gehorsame Abraham wurde Vorbild des Glaubens, der schuldig gewordene Jakob Beispiel für Reue und Versöhnungsbereitschaft (ru 1/1986, S. 3–8). Demgegenüber thematisieren neuere Unterrichtsmaterialien neben den Vätern auch die Mütter als aktive Protagonistinnen und Subjekte von Gotteserfahrungen, schildern differenziert die Stärken und Schwächen der biblischen Gestalten und sprechen auch die dunkle Seite und Unverfügbarkeit Gottes an (z.B. Grundschule Religion, Themenheft „Jakob und Esau“ 79/2022, „Abraham und Sara“ 60/2017, „Unter Gottes Segen“ 49/2014, „Geschwisterbeziehungen“ 43/2013; zeitspRUng, Themenheft „Erzeltern reloaded“ 1/2020).
Vor diesem Hintergrund geht der vorliegende Beitrag der Frage nach, ob und inwieweit die feste Verankerung der Erzelternerzählungen in religionsunterrichtlichen Curricula sowie die genannten Entwicklungen in den neueren Unterrichtsmaterialen aus subjektorientierter und bibelwissenschaftlicher Perspektive begründet sind.
2 Subjektorientierte und bibelwissenschaftliche Reflexionen
2.1 Subjektorientierte Reflexionen
Die Erzelternerzählungen gehören zu den zentralen Texten alttestamentlicher Theologie, wobei der theologische Inhalt dieser Geschichten nicht leicht zu bestimmen ist. In überschaubaren familiären Kontexten, umgeben von nomadischen bzw. halbnomadischen Lebenswelten werden Grundphänomene menschlicher Existenz thematisiert und in eine Gottesbeziehung eingebunden. Aus dieser Perspektive werden das Leben und Gott gedeutet. Was haben die Erzählungen um Abraham und Sara, Isaak und Rebekka, Jakob und seine Familie mit den Kindern und Jugendlichen im 21. Jahrhundert zu tun? Ob und wieweit sind Lebens- und Gotteserfahrungen von fremden Gestalten in fremden Lebenswelten für heutige Schüler:innen relevant?
Die Erzelterngeschichten zählen zu jenen biblischen Erzählungen, die die Grundschulkinder vergleichsweise am meisten kennen (Hanisch & Bucher, 2002, S. 20). Rezeptionsästhetisch und kindertheologisch orientierte Untersuchungen zeigen, dass Kinder aufgrund des bewegenden Handlungsbogens und der Familienthematik die Erzählungen interessant und spannend finden (Kalloch, 2003; Fricke, 2005, S. 457–497). In ihrer Rezeption der Jakobserzählungen stehen insbesondere die familiären Beziehungen, das Verhältnis zwischen Mann und Frau, Eltern und Kindern sowie den Geschwistern untereinander im Vordergrund. Die Kinder identifizieren sich mit den Protagonisten der Erzählungen und verknüpfen deren Erfahrungen mit ihren Erfahrungen in der eigenen Familie (wie z.B. die Bevorzugung einzelner Geschwister durch ein Elternteil, vgl. Fricke, 2005, S. 477). Die emotionsgeladenen Themen wie Aufbrechen und Unterwegssein, Bedrohungen, Erwartungen, Streit, Konkurrenz, Eifersucht, Neid, Betrug, Wut, Flucht, Versöhnung usw. sind identifikationsfördernd, wirken aber irritierend und verstörend zugleich (so z.B. der Betrug zwischen den Ehepartnern und zwischen den Geschwistern, sowie Gott, der Betrüger unterstützt, vgl. Fricke, 2005). Das Bild eines personalen Gottes, der begleitet, sich um die Menschen und die Zukunft sorgt, in einem unmittelbaren Kontakt mit den Menschen steht und in die Geschehnisse immer wieder eingreift, kommt den anthropomorph-konkreten Gottesvorstellungen der Kinder entgegen (Kalloch, 2003).
Die Rezeption der Erzelternerzählungen von Jugendlichen wurde empirisch noch nicht untersucht. Studien zur Rezeption biblischer Texte von Jugendlichen machen aber deutlich, dass die biblischen Erzählungen von ihrer Lebensrelevanz her befragt und eingeschätzt werden (siehe u. a. Gennerich & Zimmermann, 2020). Lernende im Übergang von der Kindheit zum Jugendalter sind im Blick auf die Bibel noch offen und interessiert. Mit zunehmendem Alter steigt aber das Desinteresse an der Bibel. Die Jugendlichen meinen, sie sei alt, langweilig und habe mit ihrem eigenen Leben nichts zu tun. Zwar wird die Vieldeutigkeit biblischer Texte von Jugendlichen wahrgenommen, dieses Merkmal wird aber eher als negativ bewertet (Gennerich & Zimmermann, 2020, S. 92). Die biblischen Erzählungen werden als „konservativ“ stereotypisiert und damit als uninteressant eingestuft. Die ausgeprägte Gegenwartsorientierung Jugendlicher führt dazu, dass die biblischen Texte – darunter auch die Erzelternerzählungen aus der Vorgeschichte – allein nur wegen ihres Alters und deren vermeintlicher Vergangenheitsbezogenheit mit Abwehr und Distanzierung aufgenommen werden (Schlag, 2015, S. 15). Die Orientierung an Peers verstärkt zudem diese ablehnende (Vor)Einstellung.
In den Erzelternerzählungen geht es exegetisch um Identitäts- und Beziehungsfragen: Um das Land, um das Volk, um seine Nachbarn und seine Gottesbeziehung (Köckert, 2017, S. 34–39). Für Jugendliche sind Identitäts- und Beziehungsthemen besonders relevant. Die Erzelternerzählungen sprechen existentielle Themen an:
elementare Erfahrungen des Menschseins (z.B. Höhen und Tiefen, Ängste und Hoffnungen, Liebe und Eifersucht, Schuld und Vergebung, Verlust und Beschenkt-Sein, Fremdheit und Geborgenheit);
elementare Beziehungen und Gemeinschaften (z.B. Patchworkfamilien, Stellung bzw. Streitigkeiten innerhalb der Familie);
Aspekte der persönlichen Gottesbeziehung (z.B. Gottvertrauen und Zweifel, Segen/Stärkung und Zuspruch im Alltag, Verheißungen und Enttäuschungen, Gottverlassen-Sein und Gottesnähe, Glück, aber auch die Unbegreifbarkeit und „dunkle Seite“ Gottes).
In einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft liefern die intra- und interreligiösen Bezüge der Erzählungen weitere relevante Aspekte (z.B. die Gestalt „Abraham/Ibrahim“, Beschneidung, jüdisches Neujahrfest, islamisches Opferfest). Jedoch soll auch aus religionspädagogischer Sicht beachtet werden, dass die Figur des „Abraham“ in Judentum, Christentum und Islam unterschiedlichen Stellenwert hat und der Rekurs auf Figuren und Motive der Erzählungen der Hebräischen Bibel in je eigener Art und Weise erfolgt (Schröder, 2008; Schweitzer, 2013).
2.2 Bibelwissenschaftliche Reflexionen
2.2.1 Wirkungsgeschichte und neue Perspektiven
Die Selbstoffenbarung Gottes an Mose am brennenden Dornbusch (Ex 3,6) ist charakteristisch dafür, wie über Jahrhunderte die Erzelterngeschichten gelesen wurden: Als Erzvätergeschichten. Überhaupt ist die Wirkungsgeschichte der Überlieferungen in Gen 12-36 prägend für das Verständnis dieser Texte. So ist Abraham für Paulus, aber auch für den Verfasser des Hebräerbriefs, zum Vorbild für unerschütterlichen Glauben geworden (Röm 4,3.12-13; Hebr 11,8). Dabei ist neben Gen 15,6 die Bereitschaft Abrahams, seinen Sohn Isaak zu opfern (Gen 22), wirkmächtig gewesen (Hebr 6,13; 11,17; Jak 2,21-22). Über Jahrhunderte wurde die „Bindung Isaaks“ zum alttestamentlichen Vorbild („Typos“) für die Kreuzigung Christi (Quesnel, 2003).
Das Neue Testament bietet jedoch jenseits der vertrauten „Glaubens-Motive“ der Erzeltern (Hebr 11,8-21) alternative Deutungsmöglichkeiten, vor allem der Abraham-Tradition, an. Jesus bezeichnet die von ihrem langjährigen Rückenleiden an einem Sabbat befreite Frau als „Tochter Abrahams“ (Lk 13,16) und den Oberzöllner Zachäus als „Sohn Abrahams“ (Lk 19,9)! Das gemeinsame Festmahl in Gottes Reich mit Abraham, Isaak und Jakob ist ein hoffnungsvolles Bild für die von Gott verheißene Zukunft (Mt 8,11).
Die Frage nach einer möglichen Historizität der erzählten Personen lässt sich nicht mit Sicherheit positiv beantworten (Mühling, 2009; Köckert, 2017; Seebass, 1997). Lange Zeit hindurch war die Pentateuch-Exegese ausgehend von der Vielschichtigkeit der Texte von Fragen der Unterscheidung möglicher hypothetischer Quellen, ihrer Abgrenzung, ihrer Entstehungszeit sowie möglicher mündlicher Vorstufen dominiert. Für das Verständnis der Texte, insbesondere im religionspädagogischen Kontext, haben sich diese Fragestellungen als wenig hilfreich erwiesen. Heute werden eher zunächst voneinander unabhängige „Überlieferungsblöcke“ angenommen, die miteinander verbunden und „mehrfach fortgeschrieben“ worden seien (Köckert, 2017, S. 256). Dass man es bei den Überlieferungen rund um Abraham und seine Nachkommen, wie lange Zeit angenommen, mit den ältesten Schichten der hebräischen Bibel zu tun habe, wird heute ebenfalls angezweifelt (Mühling, 2009). Die abschließende Komposition der Erzeltern-Traditionen ist wahrscheinlich relativ spät, in der exilischen und nachexilischen Zeit, erfolgt.
Die herausfordernde Situation der Erzeltern, als Fremde im verheißenen Land zu leben, kann Modellcharakter für die aus dem Exil Zurückkehrenden erhalten. Auch die Abgrenzung von Nichtjuden, insbesondere den Kanaanäern, weist eher in die Zeit Nehemias.
Es ist das Verdienst neuerer theologischer Ansätze, den Weg für eine vielfältigere Rezeption der Texte in ihrer Gesamtheit bereitet zu haben. Die kanonische Bibelauslegung hat den Blick weg von der Suche nach hypothetischen schriftlichen Quellen und ihren möglichen mündlichen Vorstufen auf die vorliegende Textgestalt und ihre innerbiblischen Bezüge und Anspielungen gelenkt, einschließlich aller Widersprüchlichkeiten und Wiederholungen im Text, die ihrerseits wieder als bedeutungsvolle Hinweise für die Lesenden gewertet werden.
Die feministische Theologie hat betont, dass es neben den traditionell prominenten – männlichen – Protagonisten zahlreiche Frauengestalten gibt, die es jedenfalls verdienen, in gleicher Weise in den Blick genommen zu werden (Mendl, 2018). Insbesondere Irmtraud Fischer (1998) kommt das Verdienst zu, dass „die Ursprungsgeschichte Israels als Frauengeschichte“ betrachtet wird. Sie hat deutlich gemacht, dass die traditionelle Deutung der Überlieferungen weniger der biblischen Überlieferung gerecht wird als vielmehr „den Vorstellungen jener, die die Bibel androzentrisch engführen und durch ihre Sprachwahl Leseleitlinien in die Texte eintragen, welche Frauen unsichtbar machen“ (Fischer, 1998, S. 12).
Das interreligiöse Gespräch über heilige Schriften hat dazu geführt, Gemeinsamkeiten, aber auch deutliche Akzentuierungen der jeweiligen Erzähl- und Auslegungstraditionen zu entdecken; man denke nur an die jeweiligen Mütter der beiden Söhne Abrahams/Ibrahims.
2.2.2 Die Erzählungen in Gen 12-36(und 38)
An die Urgeschichte (Gen 1-11) schließen in Gen 12 die Erzelternerzählungen an. Die Josefsgeschichte (Gen 37.39-50) schreibt die Familiengeschichte fort, weist jedoch literarisch einen anderen Charakter auf.
Abraham und Sara (Gen 12,1 – 25,11): Bereits in Gen 11,10-26 wird mit einer Genealogie Abraham eingeführt. Bis Gen 17 ist sein Name noch „Abram“ („der Vater ist erhaben“), dann erst wird er in „Abraham“ („Vater einer Menge“) umbenannt. Mit Gen 12 rückt das bereits alt gewordene, aber kinderlos gebliebene Paar Abraham und Sara (bis Gen 17,15 Sarai) ins Zentrum. Die Stichwort-Verknüpfungen mit dem in Kapitel 11 erzählten Turmbau zu Babel sind der Vertiefung allemal wert. In Gen 12 ermöglicht, wie bei der am Beginn der Genesis erzählten Schöpfung, allein Gottes Wort das Geschehende, und setzt „mit diesem einen Menschen eine neue Geschichte in Gang“ (Köckert, 2017, S. 42).
Allein auf Gottes Verheißung, ihn zu einem großen Volk zu machen, und mit der Segenszusage bricht Abraham mit Sara auf in ein unbekanntes Land (Gen 12,1-8). Das Motiv des Segens zieht sich durch die Erzelternerzählungen. Sara und Abraham und ihr Warten auf die Erfüllung der Verheißungen Gottes, insbesondere was die Nachkommen-Verheißung (Gen 12,2; 13,16; 15; 17) angeht, dominieren bis zu ihrem Tod (Gen 23 bzw. 25) die Erzählung. Nach dem geheimnisvollen Besuch von drei Männern, die den beiden die Geburt eines Sohnes binnen Jahresfrist zusagen (Gen 18,1-15), wird tatsächlich Isaak geboren (Gen 21,1-7), dessen Name im Hebräischen ein Wortspiel mit „Lachen“ ist. Sara hatte angesichts der Ankündigung gelacht – wie zuvor Abraham (Gen 17,17; 18,12-15). Die Bindung Isaaks (Gen 22) endet mit der Erneuerung der Segensverheißung. Nach Saras Tod erwirbt Abraham eine Grabstelle. Er heiratet Ketura und hat mit ihr weitere Söhne.
Mit dem Schicksal Abrahams und Saras eng verflochten ist das von weiteren Personen in ihrem Umfeld wie dem Neffen Lot mit seiner Familie, der ägyptischen Sklavin Hagar und dem Sohn, den sie zur Welt bringen wird, aber auch dem gemeinsamen Sohn Abrahams und Saras, Isaak, und dessen späterer Partnerin Rebekka.
Lot und seine Familie (Gen 12; 13; 19): Abrahams Neffe Lot zieht mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern mit Abraham und Sara ins verheißene Land (Gen 12,4-6). Kluges Verhalten Abrahams angesichts von Konflikten beider Hirten um knappe Weideflächen und Wasserstellen sorgt für eine friedliche Trennung; Lot wählt Sodom als Aufenthaltsort (Gen 13,1-13). Zum Lot-Zyklus zählt auch Abrahams „Dialog mit Gott“ (Seebass, 1997, 114–135). Die Vertrautheit Abrahams mit Gott ist in der hebräischen Bibel so nur von Mose und von Jeremia erzählt (Seebass, 1997). Lot erhält Besuch von zwei Engeln, denen er in anstößiger Weise Gastfreundschaft erweist. Die Engel führen ihn mit seiner Familie aus der dem Untergang geweihten Stadt. Nach der Rettung sorgen Lots Töchter durch eine inzestuöse Beziehung mit ihrem Vater für Nachkommenschaft; so entstehen die verfeindeten Völker Moab und Ammon (Gen 19).
Hagar und Ismael (Gen 16; 21): Letztlich hat die Hagar-Ismael-Tradition im Erzählduktus eine ähnliche Funktion wie der Lot-Zyklus, nämlich, „dass die nicht auf das spätere Israel führenden genealogischen Traditionslinien von Abrahamsbeziehungen geklärt und für die Zukunft der auf den Vater Abraham zurückgehenden Verheißungslinie ausgeschlossen hat.“ (Willi-Plein, 2011, S. 101–102) Da sich kein Nachkomme einstellt, verwendet Sara ihre ägyptische Sklavin Hagar quasi als Leihmutter. Aufgrund von Spannungen zwischen den beiden flieht Hagar in die Wüste. Dort begegnet ihr Gott in Gestalt eines Engels und verheißt ihr zahlreiche Nachkommen. Hagar wird wieder zu Sara zurückgeschickt (Gen 16). Hagar macht eine außergewöhnliche „Gotteserfahrung einer Sklavin“, in der sie – als einzige Person in der Bibel – „Gott nicht nur anruft, sondern ihm einen Namen gibt!“ (Theuer, 2011a, S. 9). Die Verheißung an Hagar hat unübersehbare Parallelen zu den Verheißungen an die männlichen Protagonisten (Fischer, 1998). Sara sorgt – mit Unterstützung Abrahams – dafür, dass Hagar und Ismael nach der Geburt Isaaks vertrieben werden. Wieder begegnet Hagar in der Wüste der Engel Gottes. Dieser bringt Rettung und erneuert die Segensverheißung an Hagar, Ismael und seine Nachkommen (Gen 21,8-21). Gott eilt den Verstoßenen zu Hilfe und macht sie groß (Theuer, 2011b). Die Begegnung Hagars mit Gott in der Wüste ähnelt der des Mose am brennenden Dornbusch (Ex 3). Indem Gott ihr Hilfe und Zukunft zusagt, wird die Exodus- und Wüstenerfahrung unter umgekehrten Vorzeichen erzählt.
Isaak und Rebekka (Gen 25,19ff.; 26): Isaak hat innerhalb der Erzelternüberlieferungen eine bescheidene Rolle. Bei seiner Bindung (Gen 22) ist er eine erst fragende, dann stumme und duldende Hauptfigur. Rauchwarter (2009) weist darauf hin, dass nach dieser Bindung Sara ohne eine weitere Begegnung mit Isaak stirbt. Isaaks Partnerin Rebekka wird auf Initiative Abrahams von dessen Knecht in der alten Heimat ausgewählt; die Begegnung am Brunnen und die Bereitschaft der Rebekka, (wie vor ihr Abraham) ihre Heimat und ihre Familie zu verlassen, ist erzählerisch ausgeschmückt (Gen 24). Isaak sorgt als der verheißene Erbe mit Rebekka dafür, dass es weitere Erben der Verheißung, die Zwillingssöhne Jakob und Esau, gibt (Gen 25,19ff).
Jakob, seine Frauen, und Esau (Gen 27-35): Jakob war der Lieblingssohn Rebekkas, Esau der Isaaks. Indem Rebekka für Jakob agiert, setzt sie konsequent eine an sie ergangene göttliche Verheißung um, dass nämlich (wie bereits bei den Söhnen Abrahams!) der jüngere der Erwählte sein wird (Gen 26,21-23).
Nach dem Verkauf des Erstgeburtsrechtes durch Esau an Jakob (Gen 26,29-34) erhält auf Initiative Rebekkas Jakob statt Esau den Erstgeburtssegen (Gen 27). Der Betrüger Jakob flieht zu seinen Verwandten nach Haran. Auf dem Weg sieht er den Himmel offen. Gott verheißt ihm Beistand und Segen (Gen 28,10-22). In Haran wird der Betrüger Jakob zum Betrogenen: Sein Schwiegervater Laban verspricht ihm für sieben Jahre Dienst seine Tochter Rahel. Bei der Hochzeit schiebt er Jakob seine ältere Tochter Lea unter. Jakob muss weitere sieben Jahre für die geliebte Rahel dienen (Gen 29). Zwischen den Schwestern (und deren Sklavinnen) entsteht ein Gebärwettstreit, wobei Rahel unter ihrer langen Kinderlosigkeit leidet: 12 Söhne und eine Tochter werden geboren. Der inzwischen wohlhabende Jakob flieht mit seiner Familie (Gen 30,25-43). Der Konflikt mit Laban wird gütlich gelöst (Gen 31). Damit die noch ausständige Versöhnung Jakobs mit Esau möglich wird, muss Jakob ein anderer werden. Eine geheimnisvolle nächtliche Begegnung am Jabbok bzw. in Penuel lässt ihn geschwächt, aber mit einem neuen Namen, Israel, zurück (Gen 32,23-33). Diese Gotteserfahrung Jakobs verbindet den Glauben an den Gott der Väter untrennbar mit dem Volk und mit dem Land. Seebass verweist auf die Parallele dieser Szene zu Hiob, wo Gott „zu einem Feind ohne den Grund einer schweren Verfehlung wurde“ (Seebass, 1999, S. 403). Jakob, der erkennt, dass Versöhnung nicht erkauft werden kann, versöhnt sich mit Esau. Trotzdem gehen die beiden Brüder getrennter Wege. Die Vergewaltigung der Dina, der Tochter Leas, wird von ihren Brüdern brutal gerächt (Gen 34). Rahel stirbt bei der Geburt ihres zweiten Sohnes, Benjamin (Gen 35,16ff). Die Erzelternüberlieferung endet mit Isaaks Tod (Gen 35,26ff).
2.2.3 Leitmotive und Themen
Gottesbeziehungen und Gottesfragen: Die Erzelterngeschichten spiegeln eine besondere Nähe Gottes zu den handelnden Personen, ob in direkter Ansprache (Gen 12,1ff; Gen 28,10ff) oder in Begegnungen in Gestalt von Engeln (Gen 16; 21,8ff.; 22) oder geheimnisvollen Gästen (Gen 18,1-15). Die vielschichtig geschilderten Gottesbeziehungen der Erzeltern zeigen, dass Gottesbilder brüchig werden und sich in Gottesfragen verwandeln. Die Überlieferung von der Bindung Isaaks (Gen 22) ist hier ebenso zu nennen wie der Kampf Jakobs am Jabbok (Gen 32,23-33). Gott ist da, geht mit, korrigiert und hilft – auch da, wo menschliche Eigenmächtigkeit zu schwierigen Situationen geführt hat.
Das Volk und die Völker: Die Familiengeschichten sind zugleich die identitätsstiftenden Erzählungen des Volkes Israel in seinem Eingebundensein in die Völker rundum, mit dem stets neu zu behauptenden Anspruch auf das von Gott verheißene und bei der Landnahme endlich gegebene, aber nicht dauerhaft besessene Land.
Gewalt (gegen Frauen): Die feministische Theologie hat die Überlieferungen innerhalb der Erzelternerzählungen, die von „struktureller und physischer Gewalt gegen Frauen“ erzählen (Fischer, 1998, S. 21), in den Blick genommen. Neben den sog. „Preisgabe-Überlieferungen“ (Gen 12,10ff.; 20; 26,1-11) sind Dina, die Opfer einer Vergewaltigung wird (Gen 34), sowie die inzestuöse Beziehung Rubens mit Bilha (Gen 35,22), einer der Nebenfrauen seines Vaters, zu nennen. Vielschichtig sind die Überlieferungen zu Hagar, da die Gewalt hier vor allem von ihrer Herrin Sara, also einer Frau, ausgeht.
2.2.4. Migration als (noch zu) wenig beachtetes Leitmotiv
In der bibelwissenschaftlichen – wie auch in der religionspädagogischen – Literatur ist die ausgeprägte Migrationsthematik, die sich wie ein roter Faden durch die Erzählstränge der Erzelterntraditionen zieht, leider noch zu wenig beachtet (Henner, 2021).
Dabei weisen die meisten Protagonist:innen der Erzelternerzählungen Migrationsbiographien auf. Abraham und Sara brechen auf – ins Ungewisse. Dabei sind sie bereits Migranten der zweiten Generation: Abrahams Vater, Terach, war mit seiner Familie aus Ur in Chaldäa nach Haran gezogen. Mit ihrer Ankunft im verheißenen Land Kanaan, wo sie zeitlebens Fremde bleiben, ist die Migrationsgeschichte noch nicht abgeschlossen. Die traditionell als „Preisgabe-Erzählung“ gelesene Überlieferung vom Aufenthalt der beiden in Ägypten (Gen 12,10ff) ist eine Migrationsgeschichte par excellence. Wirtschaftliche Gründe, im konkreten eine Hungersnot (die Parallele zu Ruth 1,1 ist unübersehbar), führen zum Aufbruch nach Ägypten. Falsche Personenstandsangaben aufgrund von gefürchteter Rechtsunsicherheit als Geflüchtete führen dann eben zur „Preisgabe“.
Die Ägypterin Hagar ist als Sklavin im Dienst der Sara. Dass Sara deren Dienste bis zur aufgezwungenen Leihmutterschaft ausdehnt, zeigt die Rechtlosigkeit von – ausländischen – Sklaven. Hagar flieht vor der Willkür Saras in die Wüste (Gen 16,1ff). Ausgerechnet ihr, der Fremden auf der Flucht, ist Gott in Gestalt eines Engels nahe; sie empfängt die Verheißung zahlreicher Nachkommen, ganz ähnlich der Verheißung Gottes an Abraham. Später, nach der Geburt Isaaks, wird Hagar samt ihrem Sohn Ismael vertrieben; wieder begegnet ihr Gott in der rettenden Gestalt eines Engels (Gen 20,14ff). Auch Abrahams Enkel, Jakob, muss fliehen – vor den Nachstellungen seines Bruders, den er betrogen hat. Auf der Flucht begegnet ihm in besonderer Weise Gott, lässt ihn den offenen Himmel sehen und sichert ihm seinen Schutz und Segen zu (Gen 28,10ff).
Neben diesen Erzählungen von Geflüchteten, Vertriebenen und Migranten, ihrem Schicksal und der besonderen Nähe Gottes zu ihnen, bietet das biblische Konzept der Gastfreundschaft, das in der Mamre-Erzählung (Gen 18,1-15) erzählerisch seinen Höhepunkt findet, reizvolle didaktische Anknüpfungspunkte. Dass – in den Sprachen der Bibel – Gastfreundschaft und Fremdenfreundlichkeit synonym sind, ist bemerkenswert. Jedenfalls ist die überbordende Gastfreundschaft Abrahams und Saras gegenüber drei ihnen Fremden in Mamre vor allem für die Gastgeber selbst segensreich geworden (Hebr 13,2). Auch die Begegnung von Abrahams Knecht mit Rebekka und deren Familie ist von Gastfreundschaft getragen (Gen 19,1ff) und findet einen segensreichen Abschluss.
3 Religionsdidaktische Konsequenzen und Perspektiven
Aus den subjektorientierten und bibelwissenschaftlichen Überlegungen der voranstehenden Kapitel resultieren Konsequenzen und Perspektiven für die Behandlung der Erzelternerzählungen im Religionsunterricht. Im abschließenden Kapitel werden Überlegungen geschildert, wie in Bezug auf die Elternerzählungen eine kumulative Wissens- und Kompetenzerweiterung im Religionsunterricht erfolgen könnte. Darauf folgend werden die Potenziale der Erzählungen aus migrationssensibler Perspektive näher betrachtet und konkrete Anregungen für die Unterrichtsgestaltung genannt.
3.1 Erzelternerzählungen im Religionsunterricht
Grundschulkinder rezipieren die Erzelternerzählungen vor allem als Erzählung. Die Familiengeschichten, die darin eingelagerten Lebens- und Gotteserfahrungen und die damit verbundenen Emotionen sind für die Kinder zugänglich und nachvollziehbar. Das leitende Gottesbild, der schützende, begleitende und verlässliche Gott, entspricht den artifizialistischen und anthropomorphen Gottesvorstellungen von Kindern. Dieses Gottesbild kann auch für die Kinder attraktiv und vertrauensbildend sein, die nicht religiös sozialisiert sind und eine Erstbegegnung mit Gotteserfahrungen und Gottesvorstellungen erfahren. Für die Weiterentwicklung von Gottesbildern bieten insbesondere die Jakob-Erzählungen hilfreiche Impulse. Kindertheologische Studien zeigen die Potentiale der Kinder, die Erzählung von Jakobs Kampf am Jabbok auf der Erzählebene zu deuten, und dabei die Gottesfrage zu stellen (Loose, 2016; Zimmermann, 2003).
Die Auswahl der für die Kinder relevanten Erzählungen erfordert didaktisch begründete Entscheidungen. Erzählungen bleiben spannend, wenn sie einen Spannungsbogen aufweisen. Die Episode „Berufung und Aufbruch – Verheißung – Isaaks Geburt“ sowie „Geburt von Esau und Jakob – Geschichten um Jakob – Jakobs Traum“ bilden das Grundgerüst der Behandlung in der Grundschule. Dieses wird ggf. mit weiteren Sequenzen ergänzt. Leitmotiv ist dabei Gottes verlässliche Begleitung in allen Lebenssituationen, auch in Krisen und trotz Verfehlungen. Die Behandlung der „Bindung Isaaks“ in der Grundschule und in Klasse 5/6 wird in der religionspädagogischen Literatur kontrovers diskutiert (Albrecht, 2019, S. 232–240). Aus kompetenzorientierter Sicht lässt sich die Thematisierung dieser befremdlichen Erzählung in diesen Schulstufen nicht begründen und ist eher zu vermeiden. Die Auseinandersetzung mit solch erschreckenden und verstörenden Gottesbildern und Beziehungsverhältnissen wie dem Eltern-Kind-Verhältnis, dem Gott-Mensch-Verhältnis oder Glaubensvorstellungen in dieser Geschichte ist sowohl kognitiv als auch existenziell und emotional herausfordernd. Bei Kindern kann diese Erzählung belastend wirken und verzerrte Gottes- und Glaubensvorstellungen fördern (Mendl, 1997).
Bei der Behandlung in der Grundschule können vor allem folgende Kompetenzen leitend sein:
Kinder lernen ausgewählte Erzählungen vom Erzeltern-Zyklus kennen. Sie nehmen Gefühle und Gedanken biblischer Personen wahr und kommen über Erfahrungen des menschlichen Miteinanders ins Gespräch.
Kinder bringen die Erfahrungen und die damit verbundenen Emotionen zum Ausdruck, die biblische Personen mit Gottes Begleitung gemacht haben. Sie entdecken Gottesbilder, machen sich Gedanken über ihre eigenen Gottesbilder und bisherige Gotteserfahrungen und setzen die Gottesbilder der Erzählungen mit ihren eigenen Vorstellungen und Erfahrungen in Verbindung.
Kinder nehmen mögliche Ausdrucksformen der Gottesbeziehung wahr, wie z.B. Segen, Beten, Gespräch mit Gott, Feiern. Sie bringen einige Symbole mit den (Gottes-)Erfahrungen der Erzählung in Verbindung.
Kinder wissen etwas davon, dass Abraham/Ibrahim sowohl im Judentum und Christentum als auch im Islam eine bedeutende Rolle spielt.
Die veränderten kognitiven und emotionalen Fähigkeiten und die noch nicht so kritische Haltung ermöglichen in der frühen Sekundarstufe in Klasse 5/6, dass die biblische Erzählung nochmals aufgegriffen, mit weiteren Erzählepisoden ergänzt und vertiefend analysiert wird. Die Weiterentwicklung von religiösen Sprach- und Deutungskompetenzen steht im Vordergrund. Es ist wichtig, dass die Ambivalenzen in den Erzählungen, ihren Figuren und Gottesbildern herausgearbeitet werden und die Jugendlichen die Erzählungen kritisch hinterfragen lernen (Dern, 2013). Auf diese Weise können sie die Spannungen in den Erzählfiguren und im Gottesbild erkennen und sich damit auch im Blick auf eigene Erfahrungen mit und eigenes Nachdenken über Gott und Menschen auseinandersetzen.
In der mittleren Sekundarstufe können weitere Motive der Erzelternerzählungen aufgegriffen und lebensweltlich-problemorientiert sowie theologisch thematisiert werden. Dazu zählen die Gottesfrage, Fremdheit, Fürbitte, Gerechtigkeitsfrage, Segen, Persönlichkeitsentwicklung, Identität, Höhen und Tiefen des Lebens. Anhand dieser Motive setzen sich die Jugendlichen mithilfe des Lebensweltbezugs und ihrer Lebenserfahrung mit den biblischen Texten auseinander und entwickeln ihre selbstständige Deutung (u.a. Rogoll & Pawletta, 2020). In dieser Auseinandersetzung liegen Chancen, dass religiöse Ausdrucks- und Sprachformen entdeckt werden und die Texte einen Beitrag zur Lebensbewältigung und Lebensorientierung Jugendlicher liefern.
Eine biblisch-theologische sowie wirkungs- und rezeptionsgeschichtliche Erschließung ab Klasse 9/10 ermöglicht einerseits eine kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit weiteren Deutungsvarianten (z.B. neutestamentliche Rezeption von Motiven und Figuren, die Rezeption der Erzählung in bildender Kunst) und mit „dunklen Seiten“ der Erzählung (z.B. Gen 22, Gewalt gegen Frauen). Andererseits können die intrareligiösen Facetten der Erzählung in Judentum, Christentum und Islam in ihren theologischen Perspektiven und aus der jeweiligen religiösen Rezeption und Praxis herausgearbeitet und miteinander verglichen werden. Dies trägt zur wechselseitigen Verständigung, Respekt und Anerkennung von Differenz ebenso bei wie zur Entdeckung eigener Traditionen, Prägungen und Glaubensvorstellungen. Eine solche Auseinandersetzung mit den verschiedenen Deutungs- und Rezeptionsvarianten regt zu eigenen Deutungsansätzen und Positionierungen an, fördert kulturelle und religiöse Dialogfähigkeit und trägt zur individuellen und kollektiven Identitätsbildung bei (u.a. Gies, 2015; Reuß, 2011).
Die interreligiösen Perspektiven der Erzählung sind in allen Schulstufen zu beachten (Behr, Krochmalnik & Schröder, 2011; Baur, 2007). Am Ende der Grundschule ist anzustreben, dass die Kinder darüber informiert sind, dass einige Figuren der Erzählung, besonders Abraham/Ibrahim, eine Rolle in den monotheistischen Religionen spielen. In der Sekundarstufe I können die Jugendlichen befähigt werden, die Geschichten um die Gestalt von Abraham/Ibrahim im Kontext der drei monotheistischen Religionen zu erklären und miteinander zu vergleichen. Dabei entdecken sie eigene und andere Deutungsvarianten sowie die Eigenart und den Eigenwert der Rezeption in der jeweiligen religiösen Tradition. Die Wahrnehmungskompetenz und differenzsensible Deutungskompetenz stehen damit im Mittelpunkt. Kooperative und religionsdialogische Annäherungen zum Themenbereich ab Klasse 9/10 fördern neben Wissenserwerb und Deutungsfähigkeit besonders die Fähigkeit zur Perspektivenverschränkung und Ambiguität und bieten Möglichkeiten zum interreligiösen Dialog, zum sensiblen Umgang mit Differenzen sowie zur kritischen Urteilsbildung und reflektierten Positionierung.
3.2 Elternerzählungen in migrationssensibler Perspektive
Die Erzählungen enthalten Geschichten von Aufbruch und Wanderschaft, Flucht und Vertreibung, Fremdsein und Bedrohungen. Sie sprechen Gefühle und Einstellungen an, die mit dem Phänomen Flucht und Migration verbunden sind, wie z.B. Verlust der Vergangenheit, Angst vor der Zukunft, Dilemma zwischen Abgrenzung und Öffnung, Distanz und Zugehörigkeit, gegenseitige Vorurteile, Umgang mit Fremden, Streben nach Sichtbarkeit und Respekt, Strategien der Konfliktlösung und Lebensbewältigung. Diese Themen und Motive sprechen auch elementare Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen an, die selbst mit einer Flucht- und Migrationserfahrung leben oder in irgendeiner Form und Weise an Flucht- und Migrationserfahrungen von anderen (mit)beteiligt und davon betroffen sind. In Anbetracht der gegenwärtigen Flucht- und Migrationsbewegungen und der gesellschaftlichen Relevanz des Phänomens, insbesondere in den Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen, bietet die migrationssensible Perspektive anregende Zugänge für die didaktische Erschließung der Elternerzählungen. Die verschiedenen Strukturen und Machtverhältnisse, die die Hintergründe und Ursachen von den Phänomenen Flucht und Migration ausmachen, thematisieren die Erzählungen nicht. Identitäts- und Beziehungsfragen, inklusive die Gottesbeziehung, stehen im Mittelpunkt, diese werden anhand einer Großfamiliengeschichte im Kontext von Migration und Flucht narrativ entfaltet.
Eine migrationssensible Perspektive soll nicht unbedingt an die konkrete Erfahrung von Flucht und Migration gebunden sein. Die Erfahrungen von Fremdheit, Ausgeliefertsein, Ohnmacht, Hoffnungslosigkeit, Demütigung und Erniedrigung, Abstoßung, Sehnsucht nach Heimat/Sicherheit und nach Anerkennung sind grundlegende Erfahrungen, die alle Menschen betreffen, unabhängig von ihrem Migrationshintergrund. Das Phänomen der Migration und die Erfahrungen und Narrative von Flucht und Migration eignen sich in besonderer Weise, um individuelle und kollektive Identitätsfragen aufzugreifen, Strategien zu Lebensbewältigung aufzuzeigen und die Sinn- und Gottesfrage zu stellen. Die Potenziale einer migrationssensiblen Perspektive für die didaktische Erschließung werden exemplarisch im Themenbereich Krisenbewältigung konkretisiert.
3.3 Bedrohungen des Lebens und Strategien der Krisenbewältigung
Innere und äußere Bedrohungen gefährden das Leben und die Zukunft der Familie. Als größte Not wird die Kinderlosigkeit gesehen, aber auch die weiteren äußeren und inneren Bedrohungen sind existenzbedrohend. Das Leben in der Fremde, Hungersnöte, Gefährdung der Frauen durch fremde Herrscher, Rechtlosigkeit in einem fremden Land, Konflikte um die Wasserstellen, Konflikte mit fremden Völkern, die Gefährdung von Familienmitgliedern durch Fremde führen dazu, dass die Familie in einer Dauerkrise lebt. Dazu kommen noch Streit und Konflikte innerhalb der Familie, wie z.B. der Streit um die soziale Stellung (Sara und Hagar), um das bessere Land (Abraham und Lot), um das Erstgeburtsrecht und den Segen (Jakob und Esau), um die Liebe von Jakob und um die Anzahl der von ihm gezeugten Kinder (Lea und Rahel), um die Selbstständigkeit (Jakob und Laban). Darüber hinaus gibt es noch Krisen und Konflikte, die in den Erzählungen mitschwingen, sie werden aber nicht näher entfaltet. Belastete zwischenmenschliche Beziehungen gehören dazu, wie z.B. das Mann-Frau-Verhältnis zwischen Abraham und Sara (Preisgabe in Ägypten) oder das Vater-Sohn-Verhältnis zwischen Abraham und Isaak (Beinahe-Opferung des Sohnes).
Neben der Schilderung von Bedrohungen enthalten die Erzählungen auch Strategien zur Bewältigung von Lebens- und Krisensituationen. Dazu gehören
die Vermeidung von Gewalt und das Streben nach einer friedlichen Lösung, wie z.B. Abraham geht auf den Weideflächenwunsch seines Neffen ein, Isaak schließt einen Bund mit Abimelech, Jakob zieht vor dem zornigen Esau in die Ferne, Jakob löst sich und seine Familie von Laban, Jakob zeigt Demut vor Esau, als er zurückkehrt;
der Zusammenhalt der Großfamilie und die Unterstützung der Mitglieder der Gemeinschaft, wie z.B. Abraham kämpft für die Freilassung von Lot, Abraham spricht für Lot und für die Bevölkerung von Sodom und Gomorra, Jakob wird herzlich im Haus von Laban aufgenommen;
die Kraft tragender Beziehungen, wie z.B. das Verhältnis zwischen Isaak und Rebekka;
die Austragung von zwischenmenschlichen Konflikten und Auseinandersetzungen, wie z.B. das Verhältnis zwischen Jakob und Esau;
das Selbst-Aktiv-Werden, Lösungswege suchen und ausprobieren, wie z.B. Sara und Rahel bei ihrer Kinderlosigkeit;
das Durchhalten, wie z.B. Jakobs Dienst bei Laban, um seine Frauen zu bekommen;
die Vergeltung, wie z.B. die Blutrache der Söhne Jakobs im Fall von Dina;
Lügen und Vertuschungen, wie z.B. in den Preisgabe-Erzählungen, als Abraham versucht, sich auf Kosten von Sara zu schützen, oder ebenso Isaak, der seine Frau als seine Schwester ausgibt;
die Mobilisierung von Visionen und Hoffnungen über ein erfülltes Leben, über die Zukunft, über größere Sinnzusammenhänge, über Gottes Segen.
Durch die Ausarbeitung von äußeren und inneren Gefährdungen der Großfamilie werden die Schüler:innen sensibilisiert, Krisen und Bedrohungen in ihrem eigenen Leben zu benennen. Ob und inwieweit eine Auseinandersetzung mit aktuellen existentiellen Krisen und Bedrohungen des Lebens im Religionsunterricht stattfinden kann, bleibt offen und settingsabhängig. Die Erzählungen bieten genügend Impulse dafür, dass Schüler:innen konkrete Krisen und Bedrohungen ihres Lebens für sich selbst ergründen.
Eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Strategien zur Lebensbewältigung ermöglicht es, darüber nachzudenken, ob und welche Strategien wann und wie lebensfördernd oder lebensgefährdend sein können. Die Schüler:innen können über ihre eigenen inneren und äußeren Ressourcen nachdenken und ihre Krisenbewältigungsstrategien reflektieren. Eine Diskussion über die Katastrophen- und Krisensituationen sowie über mögliche Strategien der Krisenbewältigung lässt erkennen, dass Krisen auch positive Funktionen und Auswirkungen im Leben haben können. In ihnen können sich Chancen verbergen und erfolgreiche Krisenbewältigungen können einen wichtigen Beitrag zur Identitätsstärkung leisten.
Anhand der Erzählungen kann thematisiert werden, dass Krisensituationen, darunter auch Flucht- und Migrationserfahrungen, die Gottesfrage besonders stellen. Die Gottesbilder der Erzählungen sind ambivalent. Die Herausarbeitung der unterschiedlichen Facetten der Gottesbilder bietet Anregungen dazu, darüber nachzudenken, wie menschliche Erfahrungen von Ohnmacht, Angst und Verzweiflung aber auch von Erfüllung, Rettung und Hoffnung in Gottesvorstellungen transformiert werden und welche Bedeutung die Gottesbeziehung und die Dimension „Hoffnung – Segen – Zukunft“ für das Leben eines Menschen bzw. einer Gemeinschaft haben kann.
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PD Dr. Mónika Solymár ist Professorin an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/Krems und Privatdozentin an der Universität Wien.
Dr. Jutta Henner ist Professorin für Biblische und Ökumenische Theologie an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/Krems.