Der im vergangenen Jahr erschienene Grundlagentext „Religiöse Bildung angesichts von Konfessionslosigkeit“ der Kammer der Evangelischen Kirche in Deutschland für Bildung und Erziehung, Kinder und Jugend (im Weiteren: EKD-Grundlagentext) lenkt das Augenmerk auf einen zentralen und bedeutsamen Aspekt der religiösen und weltanschaulichen Gegenwartskultur in Deutschland. Er beschäftigt sich mit „Konfessionslosigkeit“ aus einer religiösen Bildungsperspektive und fügt damit der langen Tradition der Auseinandersetzung mit Säkularisierungsprozessen im Rahmen der EKD eine neue Dimension hinzu. Aus der Perspektive österreichischer Religionswissenschaft und Religionspädagogik lassen sich zwei Anfragen an den Text formulieren, welche im Folgenden genauer ausgeführt werden sollen:
Zum einen ist dies die Frage nach den Grenzen und Potentialen der im Text dokumentierten analytischen Vorannahmen.
Zum anderen ist es die Frage nach den Potentialen des Textes für aktuelle religionspädagogische Debatten.
Die nachstehenden Ausführungen sind um diese beiden Fragen herum strukturiert. Sie beginnen mit einer Rekonstruktion der zentralen analytischen Annahmen des Grundlagentextes. Auf dieser Basis wird diskutiert, welche Rolle das Thema „Konfessionslosigkeit“ im religionspädagogischen und evangelisch-kirchlichen Diskurs Österreichs spielt und welche Potentiale bzw. Grenzen der EKD-Grundlagentext aus dieser Perspektive besitzen könnte. Dabei ist der folgende Text notwendigerweise von einem sozio-kulturellen Kontext geprägt, welcher sich in mehrfacher Hinsicht von der Situation in Deutschland unterscheidet und dadurch eine besondere Perspektive eröffnet. Diese Perspektive soll nun zumindest kurz angedeutet werden.
1 Spezifik des Österreichischen Kontexts
Die spezifische österreichische Perspektive der folgenden Überlegungen lässt sich – im Vergleich mit der Situation in Deutschland - in drei Punkten zusammenfassen: Zum einen legt die österreichische Perspektive nahe, stärker auf die Dynamiken von Mehr- und Minderheitssituationen einzugehen. So sieht der Datendienstleister statista etwa – primär auf der Basis von Selbstdarstellungen – evangelische ChristInnen in Österreich eindeutig in der Minderheitensituation (mit Blick auf die formalen Mitgliederzahlen sind sie inzwischen die fünfgrößte religiös-weltanschauliche Gruppierung - nach katholischen ChristInnen, Menschen „ohne Bekenntnis“, orthodoxen ChristInnen und MuslimInnen).[1] Dies hat Konsequenzen für die Fremd- und Eigenwahrnehmung und sollte mit Blick auf den Themenbereich Religion und Bildung berücksichtigt werden. Zum anderen unterstreicht die österreichische Situation die Differenzen zwischen der religiöse-weltanschaulichen Situation in Stadt und Land. Regina Polak und Lena Seewann (2019, S. 118-121) haben in der jüngsten Auswertung des European Value Survey erst kürzlich auf die Differenz zwischen der Religiosität in ländlichen und urbanen Gebieten hingewiesen. Deutschland ist im Vergleich dazu sehr viel stärker durch urbane Kontexte geprägt. In diesem Sinne legt der Vergleich mit Österreich nahe, diese Dimension stärker zu berücksichtigen. Schließlich ist die Situation in Österreich (gerade im Bereich der Bildung) hochgradig durch die historisch starke Rolle der katholischen Kirche gekennzeichnet – wie sie etwa im Konkordat von 1933 niedergelegt wurde - und sich in der Gegenwart durch die vergleichsweise starke Position der anerkannten Religionsgemeinschaften dokumentiert (Vocelka, 2013). Damit wird die Bedeutung des sozio-kulturellen Kontextes für die Diskussion von Bildungsprozessen weiter in den Fokus gebracht. Es gilt auch im Blick auf die Situation in Deutschland immer wieder die politischen Rahmenbedingungen von Bildungsinstitutionen zu reflektieren. Diese drei Spezifika beeinflussen nun auch die weiteren Überlegungen. Sie beginnen mit Ausführungen zu den Grenzen und Potentialen der begrifflichen Grundannahmen des EKD-Grundlagenpapiers.
2 Grenzen der begrifflichen Vorannahmen
Nachdem sich seit den 1960er Jahren diverse EKD-Dokumente mit Säkularität bzw. Säkularisierung auseinandergesetzt haben, setzt der vorliegende EKD-Text einen neuen Fokus. Er beginnt mit folgender Problemstellung: „Seit Jahrzehnten lässt sich in der Bundesrepublik Deutschland ein Prozess beobachten, der langsam, aber beharrlich Menschen auf Distanz zur evangelischen – oder, wenngleich hier nicht im Fokus, zur römisch-katholischen – Kirche gehen und sogar austreten lässt. So steigt – in Westdeutschland – die Zahl der Menschen, die keiner verfassten Religionsgemeinschaft angehören. In Ostdeutschland bleibt ihre Zahl auf hohem Niveau konstant: Je nach Bundesland sind zwischen 70% und 90% der Bevölkerung konfessionslos“. (EKD, 2020, S. 13) Vor diesem Hintergrund führt der Text mit dem Begriff der „Konfessionslosigkeit“ einen neuen Akzent in die Diskussionen ein, welchen die AutorInnen für die religionspädagogischen Debatten im Rahmen der EKD fruchtbar machen möchte.
2.1 Individualisiertes Konzept von Konfessionslosen
In den entsprechenden Passagen fällt zunächst auf, wie der im Titel des Grundlagentextes genannte Begriff der „Konfessionslosigkeit“ im weiteren Verlauf des Grundlagentextes in mehrfacher Hinsicht modifiziert wird: Erstens wird er – nach einem kurzen Verweis auf Detlef Pollacks Konzept einer „Kultur der Konfessionslosigkeit“ – bereits auf der zweiten Seite der Einleitung individualisiert. Hier ist nicht mehr die Rede von „Konfessionslosigkeit“ als einem gesellschaftlichen Phänomen, sondern der Text wechselt zu einem adjektivischen Gebrauch des Begriffs „konfessionslos“ zu Beschreibung von Individualphänomenen: „Das Attribut ‚konfessionslos‘ meint in diesem Text, bezogen auf Individuen, zunächst nur dies: Jemand wurde nicht getauft (bzw. in eine andere Religionsgemeinschaft aufgenommen) oder jemand ist aus der Kirche (bzw. einer anderen Religionsgemeinschaft) ausgetreten.“ (EKD, 2020, S. 14) Zweitens relativieren die AutorInnen im weiteren Verlauf des Textes immer wieder das Konzept der „Konfessionslosigkeit“, indem sie es etwa mehrfach in Anführungszeichen setzen. Gleichzeitig betonen sie in den einleitenden Passagen die empirische Vielschichtigkeit der mit diesem Begriff angesprochenen Konzepte: „Dieses Kapitel stellt die empirische Vielschichtigkeit des Phänomens ‚Konfessionslosigkeit’ vor Augen und beschreibt, an welchen Orten kirchliches (Bildungs-)Handeln auf konfessionslose Menschen trifft.“ (EKD, 2020, S. 23) Diese zweifache Modifikation stellt eine der bedeutsamen Leistungen des Textes dar. Sie dokumentiert, in welchem Maße sich die AutorInnen des EKD-Grundlagentextes bewusst sind, dass die Gruppe, welche so als „konfessionslos“ angesprochen werden, in sich hochgradig differenziert ist. Die AutorInnen verweisen darauf, dass sie den Begriff des Konfessionslosen als einen Idealtypus auffassen, welche eine spezifische Position in der religiösen Gegenwartskultur identifiziert (EKD, 2020, S. 34–38). Wobei die im EKD-Grundlagentext genannten Typen von Konfessionslosen bewusst als Idealtypen im Sinne Max Webers zu verstehen sind. Es wird mit guten Gründen darauf verwiesen, dass jede/r ein Einzelfall sei (EKD, 2020, S. 32 und S. 52). Darüber hinaus betont der Text, dass der Wechsel in „Konfessionslosigkeit“ auf einen längeren und von vielen Faktoren mitbestimmten Prozess zurückgeht (EKD, 2020, S. 35–38 und 61–64; vgl. dazu auch Lehmann & Goujon, 2021; sowie Junginger, 2021). Trotz dieser sinnvollen und notwendigen Differenzierung kann allerdings die Rede von „den Konfessionslosen“ im Grundlagentext auch zu einer nicht unproblematischen Engführung führen.
2.2 Generalisiertes Konzept von „Konfessionslosigkeit“
Abstrakt formuliert kann man v.a. in späteren Textpassagen eine zweifache Engführung beobachten: Zum einen fokussiert die Rede von „den Konfessionslosen“ auf die Interdependenzen zwischen zwei spezifischen Ebenen [2] Dies soll exemplarisch an zwei zentralen Stellen des Grundlagentextes illustriert werden: Bereits im ‚theologischen‘ Kapitel 3 des Grundlagentextes wird deutlich, wie „Konfessionslosigkeit“ hier als ein allgemeiner Kontext kirchlichen Handeln und theologischer Reflexion gegriffen wird – und nicht mehr als ein in sich zu differenzierender Aspekt der religiösen Gegenwartskultur: „Vor diesem Hintergrund sind die bisherigen Überlegungen zum Phänomen der Konfessionslosigkeit als Beschreibung, als Analyse und als Verstehensbemühung zu lesen, die sich auf eine wesentliche Facette des Kontextes richten, in dem sich kirchliches Handeln und theologische Reflexion in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts bewegen.“ (EKD, 2020, S. 78) Im weiteren Verlauf des Textes wird dann in Bezug auf unterschiedliche Aspekte kirchlichen Handelns weiter differenziert – in Bezug auf Ebenen, Bereiche und Kontexte. Die Konfessionslosen (die AutorInnen sprechen hier von „Menschen, die ihr Leben ohne Mitgliedschaft in einer evangelischen Kirche (oder einer anderen Religionsgemeinschaft) führen”) (EKD, 2020, S. 105–108) bleiben aber weitgehend als Einheit präsent. Besonders die abschließende Zusammenfassung macht deutlich, wie das Papier en détail unterschiedliche Bildungskontexte diskutiert, aber nur en passant darauf verweist, dass die Rolle von Konfessionslosen in diesen Bildungskontexten hochgradig differenziert zu betrachten ist. Das dokumentiert sich schließlich nochmals in den abschließenden „zehn Wegen, die es zu gehen gilt, um der Begegnung und Auseinandersetzung mit Konfessionslosigkeit besser als bislang Raum geben zu können“ (EKD, 2020, S. 146–147). Hier wird zwar auf unterschiedliche Bildungskontexte, aber nicht auf die Vielfalt der Menschen eingegangen, die als Konfessionslose bezeichnet werden. Somit lässt sich – im Unterschied zu den ersten Teilen – in diesem Abschnitt eine Dichotomie beobachten, welche den komplexen Prozessen der Grenzziehung um das religiöse Feld nicht gerecht wird. In anderen Worten: Der Text lädt hier dazu ein, weitere Differenzierungen vorzunehmen.
3 Potentiale und Grenzen für religionspädagogische Debatten in Österreich
Auf der Basis der vorangegangenen Vorschläge einer weiteren begrifflichen Differenzierung liefert der Grundlagentext spannende Impulse für religionspädagogische Debatten. Drei aus der österreichischen Perspektive besonders interessante Punkte sollen nun herausgegriffen und damit für weitere Diskussionen markiert werden.
3.1 „Konfessionslosigkeit“ im religionspädagogischen Diskurs
Nutzt man im Folgenden zunächst einmal weiterhin den Begriff der „Konfessionslosigkeit“, so gibt eine Recherche in Literaturdatenbanken wie dem RKE zu erkennen, dass in Deutschland religionspädagogische Reflexionen zu diesem Phänomenbereich eine entschieden größere Rolle als in Österreich spielen. Religionspädagogisch scheint diese Thematik dann auf, wenn im Zusammenhang von Situationsanalysen zum Religionsunterricht auf die demographischen Entwicklungen, Abmeldungen vom Religionsunterricht etc. eingegangen wird, welche den konfessionellen Religionsunterricht in seiner herkömmlichen Form unter Druck setzen (z. B. Weirer, 2011; Schelander, 2014; Gmoser & Weirer, 2019).[3] Pointiert wählt Wolfgang Weirer (2011) für seine Thesen zur Zukunft des Religionsunterrichts den Titel: „[4] einerseits und der insbesondere in Wien unübersehbaren Pluralisierung von Religion andererseits wird der Umgang mit religiöser Differenz als eine zentrale religionspädagogische Herausforderung angesehen. Die sogenannten Konfessionslosen werden in diesem Zusammenhang häufig als ein Aspekt des Umgangs mit religiöser Differenz verstanden: „Religiöse Pluralität bedeutet sowohl die Präsenz verschiedener Konfessionen und Religionen, als auch das Phänomen, dass sich Menschen keiner religiösen Tradition zugehörig wissen oder religiös ‚unmusikalisch’ sind, um es in einer Metapher auszudrücken.“ (Jäggle, 2009, S. 265; vgl. auch Gmoser & Weirer, 2019, S. 182) Resümierend zeigt sich, dass in den wenigen einschlägigen Publikationen primär ein Bezug auf den schulischen Religionsunterricht vorherrscht, jedoch eine umfassende und grundlegende religionspädagogische Reflexion bezüglich „Konfessionslosigkeit“, wie dies der EKD-Grundlagentext unter dem Vorzeichen evangelischer Bildungsverantwortung unternimmt, ein Desiderat darstellt. Hier scheint sich erneut die Bedeutung des sozio-kulturellen Kontextes zu dokumentieren. In Deutschland scheint die Wiedervereinigung und die daraus resultierenden religionspädagogischen Herausforderungen in den neuen Bundesländern einen wichtigen Impuls für die verstärkte Reflexion dieses Phänomens bilden, der vergleichbar in Österreich fehlt. Im Grunde genommen gibt es nämlich – sieht man von indirekten und eher untergeordneten Bezugnahmen ab – kaum religionspädagogische Studien, die sich ausdrücklich und differenziert mit „Konfessionslosigkeit“ in Österreich auseinandersetzen. Dieser Punkt leitet unmittelbar über zum folgenden Abschnitt.
3.2 Religionspädagogische Herausforderungen der Minderheitensituation
Angesichts der zunehmenden Minderheitenposition, sieht sich die Evangelische Kirche A.B. und H.B. in Österreich in religionspädagogischer Hinsicht mit drei Phänomenen konfrontiert: Erstens führt die zunehmende numerische Marginalisierung von ProtestantInnen in Österreich (Schelander, 2014)[5] dazu, dass konfessionell-kooperative Formen des Religionsunterrichts erprobt werden. Beispiele dafür sind das Projekt KoKoRU (konfessionell-kooperativer Religionsunterricht (Bastel, Göllner, Jäggle & Miklas, 2006)) sowie dessen Nachfolgeprojekt dk:RU (dialogisch-konfessioneller Religionsunterricht (Lindner & Krobath, 2016)). Gleichwohl werden Kooperationsformen von der evangelischen Diasporakirche auch mit einer gewissen Sorge betrachtet. Diese können nämlich den Effekt haben, dass der kleinere Partner auf Dauer vom größeren „aufgesogen“ wird. Tendenziell könnte sich das in den Erprobungsversuchen insofern abzeichnen, als sich beim dk:RU neben dem Teamteaching zunehmend das leichter organisierbare Delegationsmodell etabliert (Feichtinger, 2020, S. 56 und S. 58), d.h. dass eine – aufgrund der Mehrheitsverhältnisse oftmals katholische – Religionslehrkraft den RU auch für SchülerInnen anderer christlicher Konfessionen erteilt und eine bzw. mehrere Lehrpersonen anderer Religionsgesellschaften vertritt. Zweitens führt die zunehmende religiöse Ausdifferenzierung dazu, dass die an sich positive Anerkennung von inzwischen 16 Religionsgemeinschaften[6] und die damit einhergehende Etablierung von verschiedenen konfessionellen Religionsunterrichten zu einem weiteren Problem für die evangelische Kirche wird. So trägt insbesondere die Anerkennung der Freikirchen als Religionsgesellschaft dazu bei, dass die Bildung von evangelischen Religionsklassen für die evangelische Kirche in Österreich zusätzlich erschwert wird. Solche Existenzprobleme evangelischen Religionsunterrichts absorbieren viel Energie und können die Beschäftigung mit den „Konfessionslosen“ in den Hintergrund drängen. Allerdings sind drittens die Religionsgesellschaften in Österreich auf eine spezifische Weise vom Phänomen der zunehmenden „Konfessionslosigkeit“ betroffen: Lange Zeit herrschte der problematische Zustand vor, dass trotz einer ca. 20jährigen erfolgreichen Erprobung des Ethikunterrichts (Bucher, 2001; Clark-Wilson, 2011) kein Ersatz – geschweige denn Alternativfach zu den konfessionellen Religionsunterrichten eingeführt wurde. Dies hatte den Effekt, dass „konfessionslose“ oder vom Religionsunterricht abgemeldete SchülerInnen eine Freistunde genießen konnten (Ritzer, 2003).[7] Auch bedingt durch die zunehmende Anzahl von „konfessionslosen“ SchülerInnen wird nun zum Schuljahr 2021/22 schrittweise ein Ethikunterricht als Ersatzfach eingerichtet. Vielleicht haben die in diesem Zusammenhang z.T. hitzig geführten politischen, öffentlichen und religionspädagogischen Diskussion um diese Problematik (Bucher, 2014) gleichfalls dazu beigetragen, dass weniger Aufmerksamkeit der Frage galt, welches religiöse Bildungsangebot speziell für „konfessionslose“ SchülerInnen vertretbar und angemessen ist. Diese spezifische Perspektive eröffnet einen eigenen Blick auf die religionspädagogischen Diskussionen des EKD-Grundlagentextes.
3.3 Religionspädagogische Potentiale und Grenzen des EKD-Grundlagentexts
Von besonderem Interesse scheint hier die von den AutorInnen des EKD-Grundlagentextes prominent eingeführte Leitformel von der „Kommunikation des Evangeliums“. So grundlegend diese Leitformel für christliche Bildung ist, stellt sich doch die Frage, in welchem Verhältnis diese zu „religiöser Bildung“ steht, welche im Titel dieses Grundlagentext steht (EKD, 2020).[8] Wie notwendig eine eingehende Verantwortung des Verhältnisses von Bildung, Religion und Kommunikation des Evangeliums ist, lässt sich exemplarisch am Vergleich mit dem Konzept des interreligiösen Lernens verdeutlichen. Eine zentrale Frage scheint hier: Würde ein EKD-Grundlagentext auch in diesem Fall auf vergleichbar pointierte Weise von der „Kommunikation des Evangeliums“ sprechen? Diese Frage will konkret im Blick auf die jeweiligen Religionen bedacht sein, was unschwer im Blick auf „das Judentum“ deutlich wird. Zwar kann man gute theologische Gründe anführen, warum im Blick auf Judentum im Unterschied zu Konfessionslosen eine unterschiedliche Handhabung der Formel Kommunikation des Evangeliums geboten ist. Gleichwohl erscheint es zielführender, auch hinsichtlich „konfessionsloser“ Personen primär und differenziert von religiöser Bildung als teaching about und teaching from zu sprechen – und sich in diesem Zusammenhang eigens genau zu überlegen, bezüglich welcher Adressatengruppe, in welchen Kontexten und wann im konkreten Lernprozess das an sich wichtige Potential der Formel Kommunikation des Evangeliums eingespielt werden kann. Vergleichbar zu Grundsätzen des interreligiösen Lernens könnte im EKD-Grundlagentext zudem noch deutlicher herausgearbeitet werden, was man von den verschiedenen Typen von Konfessionslosen umgekehrt auch lernen kann.[9] Darüber hinaus vermag der Blick auf weiterführende Diskurse der Religionspädagogik noch zwei grundsätzliche Fragen aufzuwerfen: Einerseits ist dies die Frage, ob die dichotome Gegenüberstellung von Personen mit Religionszugehörigkeit und „Konfessionslosen“ – ungeachtet ihrer differenzierten Handhabung in den ersten beiden Abschnitten – nicht durch eine übergreifende Kategorie aufgehoben werden sollte. In Betracht kommen vor dem Hintergrund des internationalen Diskurses bestimmte Leitvorstellungen wie „world view education“ (Jackson, 2015), „life orientation“ (van der Zande, 2018) oder „existential configurations“ (Gustavsson, 2020). Bereits im Jahr 1988 hat Ulrich Hemel in seiner Habilitationsschrift mit der für alle Menschen notwendigen „Weltdeutung“ eine vergleichbare übergeordnete Kategorie in den Blick genommen, welche religiöse Weltmodelle einschließt und gleichsam eine Brücke hin zu anderen Formen wie z.B. weltanschaulicher-ideologische Weltmodell schlägt (Hemel, 1988, S. 398).[10] Derartige Oberkategorien sollen allerdings nicht zu einer Simplifizierung bzw. Reduktion der Vielfalt von Religiösen und „Konfessionslosen“ führen. In diesem Zusammenhang wäre dann, andererseits, noch einmal genauer zu reflektieren, welche Inhalte von Bildung über Religion als Grundkompetenzen im Umgang mit Religion wünschenswert sowie zur Prävention gegen säkulare oder religiöse Fundamentalismen für alle SchülerInnen notwendig sind.[11] Letzteres impliziert für die Vielfalt konfessionsloser SchülerInnen eine Form von Bildung, bei der die negative Religionsfreiheit geachtet wird. In diesem Zusammenhang wäre in pluralen Gesellschaften die Einrichtung von Fächergruppen zwischen den Religionsunterrichten und alternativen Fächern wie Ethik und Philosophie mit konstitutiven Begegnungsphasen ideal. Diese bereits in der EKD-Denkschrift „Identität und Verständigung“ (1994) angesprochene Etablierung einer Fächergruppe wird jedoch keineswegs erleichtert, wenn VertreterInnen und TeilnehmerInnen eines Alternativfachs wie Ethik oder Philosophie von evangelischer Seite, noch dazu in dieser Reihenfolge, als Leitvorstellungen des Diskurses „Kommunikation des Evangeliums – Mission – Bildung“ (EKD, 2020, S. 86) wahrnehmen.
4 Anregungen für weitere Diskussionen
Auf der Basis des bislang Gesagten gilt es unserer Meinung nach, die Diskussionen um Religion und Bildung angesichts von „Konfessionslosigkeit“ um zwei Punkte zu erweitern: Zum einen gilt es zu bedenken, wie hier – angesichts der Limitiertheit dieses Begriffes – systematisch noch weiter differenziert werden kann, um so auf die Vielfältigkeit der Menschen einzugehen, die im Grundlagentext als „Konfessionslose“ bezeichnet werden. Zum anderen gilt es weitere Dimensionen der Diskussionen um Religion und Bildung zu berücksichtigen – insbesondere die Dynamiken von Minderheit- und Mehrheitssituationen, die Differenz zwischen Stadt und Land sowie den rechtlich-politischen Kontext. Darüber hinaus erscheint es interessant, das Papier der Kammer als Ansatzpunkt für die Frage zu nutzen, wie Kirche jenseits von Bildung mit dem Phänomen der „Konfessionslosigkeit“ umgehen kann. Dies führt zurück zur weitergehenden Auseinandersetzung mit Religion und Säkularisierungsprozessen. Folgt man hier komplexen Begriffen, wie sie etwas von José Casanova oder Bernt Schnettler entwickelt worden sind, so wird deutlich, dass die Auseinandersetzung mit „Konfessionslosigkeit“ nicht ausschließlich auf der kognitiven Ebene zu verorten ist (Schnettler, Szydlik & Pach, 2020; Casanova. 2009). Religion umfasst ganz unterschiedliche Ebenen oder Dimensionen. Schließlich scheint es hilfreich, die Interdependenzen zwischen religiöser Bildung und Konfessionslosen weiter herauszuarbeiten. Der Grundlagentext spricht hier von einer epistemischen Demut. Wünschenswert wäre es in diesem Sinne, wenn systematisch reflektiert würde, welche Bildungsprozesse für die EKD von Konfessionslosen ausgehen (können). Damit wird ein weiteres Diskussionsfeld markiert, welches sicher nicht nur die EKD in Zukunft weiter herausfordern wird.
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Prof. Dr. habil Karsten Lehmann ist Senior Research Fellow am Institut für Religionswissenschaft, Universität Wien, Forschungsplattform ‚Religion and Transformation in Contemporary Society’ und Forschungsprofessor an der Kirchlich Pädagogischen Hochschule, KPH Wien / Krems
Univ.-Prof. DDr. Martin Rothgangel ist Professor am Institut für Religionspädagogik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien
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Nach Alexander Dellen (2016, S. 162) waren zum Schuljahr 2014/15 ca. 7% der österreichischen SchülerInnen (in absoluten Zahlen: 68.457) ohne religiöses Bekenntnis, wobei ein Viertel davon im Religionsunterricht angemeldet war.
Diesen Hinweis verdanke ich Martin Jäggle. Vgl. auch Schelander (2014, S. 203): „‚Österreich ist ein katholisches Land‘. Dieser Satz ist nicht nur ein Klischee.“
Siehe auch de.statista.com/statistik/daten/studie/807470/umfrage/bevoelkerungsanteil-der-evangelischen-in-oesterreich/ [Zugriff 19.01.2021].
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Ritzer (2003) hat seine empirische Studie zu den Einflussfakturen für die Teilnahme am Religionsunterricht „Reli oder Kaffeehaus“ genannt.
Erste Fragezeichen entstehen bereits, wenn bei der Begründung des Aufbaus der Studie das dritte Kapitel viel vertiefter als die anderen dargelegt und dabei eingehend die Kommunikation des Evangeliums hervorgehoben wird – nicht aber von religiöser Bildung gesprochen wird (EKD, 2020, S. 22). Gerade weil „religiöse Bildung“ theologiegeschichtlich kontrovers diskutiert wurde, wäre hier eine entsprechende Diskussion im dritten Kapitel wünschenswert gewesen.
Dieser Punkt klingt zwar im EKD-Grundlagentext (2020, 20) an – wird aber in den späteren Teilen nicht seiner Bedeutung entsprechend entfaltet.
Hemel (1984, 212-239) selbst spricht nicht von Bildung, sondern von Vermittlung.
Hilfreiche und wegweisende Ausführungen finden sich im EKD-Grundlagentext (2020) insbesondere in 5.2 Religionsbezogene Bildung für Konfessionslose etablieren (S. 110–115).