1 Einleitung: Warum dieser Artikel sein Thema verfehlt

Sowohl die diesem Artikel vorgegebene Themenstellung und deren Erläuterung als auch der diesem Themenheft insgesamt zugrundeliegende EKD-Text „Religiöse Bildung angesichts von Konfessionslosigkeit“ (EKD, 2020) gehen offensichtlich von einem Zusammenhang von religiöser Bildung einerseits und (der Überwindung von) Konfessionslosigkeit andererseits aus.

Man wird den Herausgeber*innen dieses Themenheftes wahrscheinlich nicht Unrecht tun, wenn man vermutet, dass aus ihrer Perspektive Bildung durch und in Kirche eine „Aufgabe und Chance“ (EKD, 2020) angesichts von Konfessionslosigkeit sachgemäß wahrnimmt und dieser Artikel solche Chancen am Beispiel konkreten Bildungshandelns der Nordkirche ausloten soll.

Es würde den Rahmen sprengen, die drei für diesen Artikel thematisch relevanten Leitbegriffe „Kirche“, „Konfessionslosigkeit“ und „Bildung“ in ihrer historischen und systematischen Beziehungsvielfalt darzustellen. Der Einfachheit halber verweisen die Autor*innen deshalb auf die in den entsprechenden EKD-Texten vorgenommen Begriffsbeschreibungen.

Folglich werden „Menschen, die ihr Leben ohne Mitgliedschaft in der evangelischen Kirche (oder einer anderen Religionsgemeinschaft) führen“ (EKD 2020, 99) als konfessionslos verstanden. Die damit gegebene Fokussierung des Begriffs auf seine Bedeutung in vor allem religionsverfassungsrechtlichen Diskursen schafft Klarheit und eine Sicherheit in seiner Verwendung. Das Bewusstsein dafür, dass diese Fokussierung zugleich eine Art „Notlösung“ darstellt, die theologisch-ekklesiologisch begründete Differenzierungen braucht, um nicht ein übergroßes Maß an religiös konnotierten Wirklichkeiten aus dem Blick zu verlieren, setzt dieser Artikel ebenfalls voraus (vgl. Domsgen 2014).

Für den Bildungsbegriff verweisen wir auf die EKD-Texte „Religiöse Orientierung gewinnen. Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule“ (EKD 2014a) und „Kirche und Bildung – Herausforderungen, Grundsätze und Perspektiven evangelischer Bildungsverantwortung und kirchlichen Bildungshandelns“ (EKD 2010). Beide Texte entfalten einen Bildungsbegriff, der kognitive, affektive und soziale Dimensionen von Bildung in einer Balance hält, der anschlussfähig ist an schulische Kompetenzorientierung, der sich offen und bewusst in einem Kontext weltanschaulicher Pluralität verortet und der diesen Begriff zugleich protestantisch profiliert, indem er die Vorstellung von der nicht-delegierbaren Zuständigkeit eines jeden Menschen für sein eigenes Glauben in eine kirchliche Bildungsaufgabe transformiert.

Mit diesen Begriffsbeschreibungen im Hintergrund versteht dieser Artikel die vorgegebene Themenstellung als die Frage danach, welchen Beitrag Bildung  in und durch die Nordkirche dazu leistet, dass „Menschen… ihr Leben“ nicht mehr „ohne Mitgliedschaft in der evangelischen Kirche… führen“ (EKD 2010).

Dieses Verständnis der Fragestellung braucht u.E. jedoch – bevor die Suche nach einer Antwort auf sie beginnen kann – eine kurze Reflexion des in ihr hergestellten Zusammenhangs zwischen Bildung und der Überwindung von Konfessionslosigkeit. Schließlich ist doch dieser Zusammenhang empirisch zumindest für die Nordkirche nicht gesichert, im Gegenteil:

Die in einem ersten Schritt erfolgte Sichtung zahlreicher von den Autor*innen dieses Artikels ausgewählter Projekte ließ den Zusammenhang von Bildungsarbeit und Überwindung von Konfessionslosigkeit ausgesprochen fragil erscheinen: Auf Basis dieses ersten Schrittes sprach u.E. einiges für die Hypothese, dass sich dieser Zusammenhang kaum planbar, sondern – wenn überhaupt – eher zufällig einstellt. Das etwas ernüchternde Fazit unserer ersten Sichtung der Bildungsarbeit in und durch die Nordkirche lautete: Religiöse Bildung kann für gebildete Religiosität sorgen, sie bewirkt aber nur im Ausnahmefall eine Überwindung von Konfessionslosigkeit im oben beschriebenen Sinne.

Interessanterweise thematisiert auch der EKD-Text zur Konfessionslosigkeit den genannten Zusammenhang nicht vorbehaltlos, sondern versieht ihn mit einem „Aber“. An zentraler Stelle formuliert er:

Anders gesagt: Die hier entwickelten Überlegungen zur religiösen Bildung angesichts von Konfessionslosigkeit sind von der Hoffnung getragen, konfessionslose Menschen für den (Wieder-) Eintritt in die evangelische Kirche zu gewinnen, aber sie beleuchten vor allem das, was Kirche und Theologie dazu beitragen können – ohne sie unter statistischen Ertragsdruck zu stellen und geistliche Renditeerwartungen zu formulieren. (EKD 2020, 96)

Dieses „Aber“ ist u.E. Ausdruck einer theologischen Redlichkeit im Rahmen protestantischer Ekklesiologie. Es trägt der Tatsache Rechnung, dass der Zusammenhang von sichtbarer und unsichtbarer Kirche ausschließlich als Anspruch an die sichtbare und niemals umgekehrt gedacht werden darf: Es ist eben die unsichtbare Kirche, auf deren Seite das normative Moment für das Kirche-Sein von Kirche liegt.

Diese theologisch unverzichtbare Sortierung des Zusammenhangs von sichtbarer und unsichtbarer Kirche hat jedoch in Hinsicht auf die Fragestellung dieses Artikels häufig eine theologisch-ekklesiologische Übersprunghandlung zur Folge, erzeugt eine Art typisch protestantischen blinden Fleck in der Diskussion um Konfessionslosigkeit: Die Sortierung lenkt nämlich leicht von einer genauen Betrachtung des wohl doch eher Nicht-Zusammenhangs von kirchlich verantworteter Bildungsarbeit und (Wieder-)Eintritt in eine (evangelische) Kirche ab und überlässt die Frage, ob sich denn eine Bildungsarbeit denken ließe, die das Zufällige und Nicht-Planbare dieses Zusammenhangs zumindest reduziert, landeskirchlich eher (noch) randständigen Frömmigkeitsbereichen.

Die Themenstellung dieses Artikels rückt nun genau diesen blinden Fleck in den Fokus der Aufmerksamkeit. Aus der Perspektive der Autor*innen sind bei dem Versuch seiner Betrachtung folgende Zusammenhänge sichtbar geworden:

Bilder von Kirche sind (nicht nur) bei konfessionslosen Menschen häufig durch Stereotype geprägt, die sich mit Gefühlen von Irrelevanz, Ablehnung, Peinlichkeit, Scham oder Fremdheit verbinden. Das für uns Bemerkenswerte an diesen Stereotypen ist, dass sie häufig nicht durch persönliche Erfahrungen, die ihnen widersprechen, korrigiert werden. Stereotype über Kirche überlagern in aller Regel die persönlichen (Bildungs-)Erfahrungen mit Kirche.

Im Zusammenhang mit KiTa, Konfirmand*innenarbeit, evangelischer Schule, kirchlicher Erwachsenenbildung, Religionsunterricht, Kasualien usw. vollzieht sich u.a. auch kirchlich verantwortete Bildung, die aber in Bezug auf das mit dem Begriff Konfessionslosigkeit bezeichnete Problem der fehlenden Identifikation mit der Organisation nur im Ausnahmefall wirksam wird.

Eine nach unserer Wahrnehmung nicht untypische Erfahrung ist, dass man „Menschen, die ihr Leben ohne Mitgliedschaft in der evangelischen Kirche… führen“ (EKD 2010), auf diesen von ihnen nicht hergestellten Zusammenhang direkt ansprechen kann, um dann zu erleben, dass die persönliche Erfahrung mit einem guten KU oder RU, einer wohltuenden Sterbebegleitung, einer interessanten Akademieveranstaltung etc. als beglückt erlebte Ausnahme von der Regel deklariert wird, die für das eigene Verhältnis zur Kirchenmitgliedschaft keine Bedeutung entwickelt. Solche Bildungserfahrungen in oder durch Kirche bilden offensichtlich – wenn sie über eine entsprechende Qualität verfügen – persönliche Religiosität, aber nicht das Image von Kirche.

Die protestantisch redliche Fokussierung von Bildungsprozessen auf das religiöse Subjekt und die Entwicklung seiner Religiosität führen, das ist unsere These, in aller Regel zu einer Kirchen-Vergessenheit solcher Bildungsprozesse. Sie kommunizieren, so scheint es uns, eben höchstens implizit, dass der jeweilige Bildungsprozess in der Organisation Kirche die Bedingung seiner Möglichkeit hat. Sie bilden über die Religiosität ihrer Adressat*innen hinaus nicht ausdrücklich auch das Image von Kirche und verstehen die Thematisierung von Kirchenmitgliedschaft in aller Regel nicht als Teil des Bildungsprozesses.

Deshalb haben sich die Verfasser*innen dafür entschieden, im Rahmen der Fragestellung dieses Artikels solche religions- oder gemeindepädagogischen Bildungsprozesse in der Nordkirche zu suchen, deren Träger*innen diese Prozesse ihrem Selbstverständnis gemäß zugleich auch als kirchliche Image-Bildung inszenieren, auf die emotionale Gestimmtheit ihrer Adressat*innen gegenüber Kirche einwirken und auch durch explizite Thematisierung negativ konnotierter Stereotype diese relativieren wollen.

Im weiteren Verlauf dieses Artikels ist eine Auswahl von Bildungsvorgängen im Raum der Nordkirche beschrieben, die uns auf die Nennung dieser Suchkriterien hin zugesandt wurden. Liest man sie sorgfältig, fällt Folgendes auf:

  • Die Bildungsprojekte sind durchweg pädagogisch anspruchsvoll und theologisch reflektiert. An ihre jeweiligen Kontexte adaptiert bilden sie den Bildungsbegriff der o.g. EKD-Bildungsschriften sach- und adressat*innengemäß ab.

  • Die Kirchenimage-Bildung vollzieht sich im Rahmen der Projekte im Modus des impliziten Differenzerlebens: Fast alle Projekte wollen Erwartungshaltungen ihrer Adressat*innen gegenüber Kirche bewusst durchbrechen.

  • Keines der Projekte macht aber diese Durchbrechung explizit zum Thema gegenüber seinen Adressat*innen, um deren Kirchenverhältnis neu und verändert zu „bilden“.

Die Tatsache, dass auf die explizite Bitte der Autor*innen dieses Artikels hin, Bildungsprojekte einzureichen, die sowohl religiös als auch Kirchenimage bildend arbeiten, ihnen kein einziges vorgelegt wurde, dass das Verhältnis seiner Adressat*innen zur Kirche ausdrücklich zum Bildungsgegenstand macht, illustriert u.E. noch einmal die bereits oben beschriebene These, wie gerade in der Kirchenvergessenheit kirchlicher Bildungsprozesse protestantische Ekklesiologie zur Darstellung zu kommen scheint. Überpointiert ließe sich vielleicht formulieren: Der Mainstream landeskirchlicher Bildungsarbeit in der Nordkirche will den „Sinn und Geschmack für das Unendliche“ wecken, aber nicht die Küche thematisieren, die es braucht, um auf diesen Geschmack zu kommen.

Wenngleich wir der Überzeugung sind, dass die angehängten Projektbeschreibungen exzellente Projekte religiöser Bildung zugänglich machen, die eine Rezeption in anderen Landeskirchen verdienen: Letztlich – und dies haben wir erst durch die Arbeit an diesem Artikel verstanden – müssen wir aus den beschriebenen Gründen die Erledigung des uns gegebenen Auftrags schuldig bleiben: nämlich nordkirchliche Bildungsarbeit vorzustellen, deren Ziel es ist, das Verhältnis ihrer Adressat*innen zur Nordkirche neu zu ordnen.

Aus dieser Erfahrung ziehen wir die Konsequenz, im Rahmen unserer Tätigkeitsfelder die von uns als solche wahrgenommene Kirchenvergessenheit kirchlicher Bildungsarbeit zum Thema in der Nordkirche zu machen und suchen dafür Verbündete aus anderen Landeskirchen (bei Interesse bitte Mail an Hans-Ulrich.Kessler@hb1.nordkirche.de).

Bevor nun konkrete Projekte aus der Nordkirche vorgestellt werden sollen, die auch konfessionslose Menschen im Blick haben, gilt es ein mögliches Missverständnis der vorgetragenen Überlegungen abzuwehren:

Diese Überlegungen könnten nämlich zu der Frage führen, ob die Autor*innen denn der Auffassung seien, dass eine weniger kirchenvergessene Bildungsarbeit einen relevanten Beitrag zur Überwindung von Konfessionslosigkeit in der Nordkirche leisten würde. So wenig dies angesichts des offensichtlichen Mangels an Erfahrungen mit einer solchen Bildungsarbeit in Verbindung mit ihrer wissenschaftlichen Evaluation verneint werden kann, so sehr bestehen jedoch aus unserer Perspektive erhebliche Zweifel daran. Die Gründe für diese Zweifel können an dieser Stelle noch nicht einmal vollständig benannt und auf keinen Fall näher ausgeführt werden. Trotzdem wollen wir hier einen Gedanken wenigstens skizzieren, der in unserem Nachdenken eine besonders wichtige Rolle spielt: Die Organisationsstruktur einer deutschen Landeskirche und ihre Handlungslogiken setzen voraus, dass Kirchenmitgliedschaft Sitte ist. Eine Sitte braucht keine Begründung. Der Wille, ihr zu folgen, speist sich nicht aus einem benennbaren Zugewinn, sondern aus unhinterfragter Üblichkeit. Eine Sitte stiftet Verbindlichkeit und transformiert die ihr folgende Gruppe in eine Gemeinschaft.

In einer religionspluralen Gesellschaft verliert Religion jedoch den Status einer Sitte und die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion wird durch das schlichte Wissen um bzw. durch das Erleben von Alternativen zu einer biographisch vielleicht nie wirklich vollzogenen, aber im Bewusstsein als solcher begriffenen Entscheidung, deren Verbindlichkeit sich in Kontrakten darstellt.

Uns scheint, dass sich mehr oder wahrscheinlich doch eher weniger bewusst in der Kirchenvergessenheit kirchlicher Bildungsprozesse die Vorstellung abbildet, dass Kirchenmitgliedschaft nach wie vor Sitte ist. Und wir vermuten, dass die explizite Thematisierung von Kirche als Bedingung der Möglichkeit des erlebten Bildungsprozesses eine Weise sein könnte, in einer offensichtlichen Übergangszeit schon einmal zu üben, sich von eben dieser Vorstellung zu verabschieden. Darin, und ausdrücklich nicht einer „geistlichen Renditeerwartung“ (EKD 2020, 96), sehen wir eine mögliche Bedeutung der Verbindung von religiöser und Image-Bildung.

2  Nordkirchliche Bildungsarbeit angesichts von Konfessionslosigkeit – exemplarische Analysen

Die im Folgenden ausgeführten Beispiele nordkirchlicher Bildungsarbeit sind nicht durch Abstimmung mit kirchenleitenden Gremien ausgewählt worden. Sie wollen keine repräsentative Darstellung sein und sind uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt worden als Reaktion auf unsere Bitte um Projekte, in denen sich religiöse und Kirchenimage-Bildung verbinden.

Liest man die Beschreibungen, wird man, wie oben bereits dargelegt, feststellen, dass in diesen Projekten religiöse Relevanzerzeugung innerhalb auch konfessionsloser Anteile der Gesellschaft und explizite kirchliche Partizipation einen kaum nennbaren Zusammenhang bilden (vgl. Domsgen & Karstein 2020). Michael Domsgen und Uta Karstein sprechen von unterschiedlichen religiösen „Partizipationsniveaus“, um diese kaum vorhandene Benennbarkeit auf Begriffe zu bringen: „Kirchliche Partizipation ist dabei nur eine – und möglicherweise nicht mal die vordergründige bzw. verbreitete – Form von Partizipation, da sie zugleich die voraussetzungsreichste ist. Viel wahrscheinlicher kommt man über soziale, kunstbezogene, populärkulturelle, touristische, ethische oder auch gesellschaftspolitische Handlungsfelder mit ihr [d.h.: mit Kirche als religiöser Institution] in Kontakt.“ (Domsgen & Karstein 2020, These 15)

Die Projekte bestätigen die auch bei Domsgen und Karstein vorgetragene Auffassung, dass Kontakte im Raum von Kirche sich nur dort an die Institution rückkoppeln, wo familiale Voraussetzungen für diese Rückkoppelung vorliegen. Ein sporadischer Kontakt wird das kirchliche Angebot zwar vielleicht – sofern es offen genug kommuniziert wird – in Anspruch nehmen, sich aber nur um Ausnahmefall auf die Ebene einer gefühlten Zugehörigkeit zur Organisation Kirche übertragen lassen.

Unter dieser Spannung sind  auch die folgenden Texte zu lesen; die kursiv gesetzten Textteile markieren die Projektbeschreibungen von Kolleg*innen aus der Nordkirche, während die recte gesetzten Einleitungen und Kommentierungen die Projektbeschreibungen durch die Autor*innen des vorliegenden Aufsatzes inhaltlich rahmen:

a)  Titel: Die Chatberatung des Jugendpfarramts der Nordkirche

Ansprechpartner*in für Nachfragen: Landespastorin Annika Woydack

Zu Beginn der Corona-Pandemie stellte sich die Frage, wie die ehrenamtlichen Teamer*innen der vielen Gruppen in der Nordkirche weiterhin in Kontakt mit Jugendlichen und jungen Menschen bleiben konnten. Zugespitzt lautete die Frage, wie mit jungen Menschen Verbindung gehalten oder neu aufgebaut werden kann, die in besonderen Nöten sind oder die in Strukturen leben, in denen sie Einsamkeit erfahren. Die im lokalen Kontext von Kirchengemeinden bekannten jungen Menschen konnten weiterhin begleitet werden. Doch wie können Ehrenamtliche sich für junge Menschen als Ansprechpartner*innen bei Problemen zur Verfügung stellen, die namentlich nicht bekannt sind? Wie kann „Kirche“ zugehen auf die, die eher am Rande von Kirche stehen oder gar nichts mit ihr zu tun haben?

Als eine Antwort hat das Jugendpfarramt der Nordkirche eine Chat-Beratung initiiert. Das Jugendpfarramt nimmt damit eine Tradition auf, „Kirche für die Menschen“ zu sein, an Orten, die nicht in erster Linie mit Kirche verbunden werden. So gibt es die Festival-Seelsorge, die Schulseelsorge, Langzeitfortbildungen für Hauptamtliche in Jugendseelsorge oder die Seelsorgeausbildung für jugendliche Teamer*innen z.B. für Freizeiten, Jugendgruppen etc. All diese Angebote tragen zu einem positiven Bild und Image von Kirche bei – auch bei denen, die das Angebot nicht nutzen, aber von ihnen hören oder über Soziale Medien erfahren.

Die Chat Beratung www.schreibenstattschweigen.de ist seit Anfang Juni 2020 für junge Menschen da – anonym, vertraulich und kostenlos, die Berater*innen arbeiten ehrenamtlich. Der Kontakt wird unkompliziert und niedrigschwellig über eine Chatfunktion auf der Internetseite des Jugendpfarramts hergestellt.

Im Chat schreiben junge Menschen über Themen wie Einsamkeit, Depressionen, suizidale Gedanken. In dem Schreibgespräch im Chat geht es darum, dem oder der jeweiligen Jugendlichen Aufmerksamkeit zu schenken, mit ihnen ihre Situation zu betrachten und nach Möglichkeit eine Selbstaktivierung für einen eigenen Lösungsweg aus der Krise heraus anzuregen. So werden sehr unterschiedliche junge Menschen erreicht, die nicht zur üblichen kirchlichen „Bubble“ gehören. In der überwiegenden Mehrheit der Chats, ca. 75 Prozent, wird dieser mit einem Satz wie „danke. wie schön, dass ihr für uns da seid.“ abgeschlossen. Ob dieser Satz auch für das Kirchenbild der Chatter*innen gilt, wäre zu hoffen und zu vermuten, lässt sich aber nicht nachweisen. Aktuell bilden fünfzehn ehrenamtliche Berater*innen ein Team. Alle Berater*innen haben Vorkenntnisse in Gesprächsführung, viele durch Schulungen der Schul-Seelsorge, und wurden umfangreich digital geschult, um mit dem besonderen Format der Chat-Beratung vertraut zu werden. Hier zeigt sich eine besondere Stärke der Beratung: mit und für die Ratsuchenden geschieht Persönlichkeitsbildung, Beratung zur Selbstaktivierung, zur Entdeckung der eigenen Ressourcen.

In einem Workshop mit jungen Menschen stellte sich heraus, dass der ursprüngliche Titel „Chat-Seelsorge“ für junge Menschen unpassend war und sie sich nicht angesprochen fühlten. Dadurch ist der kirchliche Begriff „Seelsorge“ nicht mehr im Titel. Die Chat-Beratung befindet sich jedoch auf den Internetseiten des Landesjugendpfarramts. Damit ist der Kontext zur Kirche gegeben für die Ratsuchenden, von denen wir annehmen, dass sie keinen oder nur wenig kirchlichen Bezug haben. Für die Ratsuchenden zeigt sich Kirche in der Beratung als überraschend, innovativ, digital, stärkend und zugewandt.

Auch in der Ausbildung und der folgenden Supervision der Berater*innen geschieht Bildungsarbeit als Persönlichkeitsbildung, indem Berater*innen neben der Kompetenz, lösungsorientierte Fragen stellen und Gespräche führen zu können, angeleitet werden zur Selbstreflektion, Nutzung der eigenen Ressourcen und Spiritualität. Viele der Berater*innen kommen aus nicht-kirchlichen Berufen und erleben so einen Aspekt von Kirche, den sie vorher noch nicht kannten. Sie erfahren Pastor*innen und kirchliche Mitarbeiter*innen in Rollen, die nicht den klassischen Stereotypen entsprechen, so zum Beispiel in der Rolle der Supervisor*in oder der Ausbilder*in. Und sie erleben in Fortbildungen und Teamsitzungen den christlichen Glauben und seine Tradition als Ressource und Kraftquelle. Dieser Text repräsentiert vor allem eines: das zunehmend selbstverständliche Interesse kirchlicher Mitarbeiter*innen, auch Menschen zu erreichen, „die eher am Rande von Kirche stehen oder gar nichts mit ihr zu tun haben“. Die im Text genannten Zielstellungen, „dem oder der jeweiligen Jugendlichen Aufmerksamkeit zu schenken, mit ihnen ihre Situation zu betrachten und nach Möglichkeit eine Selbstaktivierung für einen eigenen Lösungsweg aus der Krise heraus anzuregen […] Persönlichkeitsbildung, Beratung zur Selbstaktivierung, zur Entdeckung der eigenen Ressourcen“, dienen auf Seiten des Jugendpfarramts der Erzeugung von Lebensrelevanz. Um das Angebot unter dieser Perspektive der Lebensrelevanz überhaupt lesbar und rezipierbar werden zu lassen, wurde der kirchliche Begriff „Chat-Seelsorge“ im Nachgang eines Workshops in „Chatberatung“ geändert. Um die organisationelle Rückkopplung aber trotzdem irgendwie sichtbar zu machen, wurde das Angebot auf den Internetseiten des Landesjugendpfarramtes verankert. Die tatsächlich evozierten Erfahrungen mit der Rückkopplung an die Organisation bewegen sich allerdings lediglich auf der Ebene der Mutmaßung – eine Abfrage am Ende des Chats erschien zu Recht als kontraproduktiv. Inwiefern die durch die Anbindung an die Internetseiten des Jugendpfarramtes ausgewiesene Trägerschaft tatsächlich zur Imagebildung von Kirche beiträgt („Für die Ratsuchenden zeigt sich Kirche in der Beratung als überraschend, innovativ, digital, stärkend und zugewandt“), ist aus unserer Sicht hochgradig unsicher – das Angebot wird wahrscheinlich vielmehr als frei flottierende Wohltat angenommen. Anders stellt es sich hingegen auf der Ebene der Berater*innen dar: Deren explizite Partizipation an Kirche muss nicht neu konstituiert werden, was die Imagebildung in hohem Maße erleichtert. Es deutet sich an, dass dieselbe vielmehr auf der Ebene der sog. Internen erfolgreich möglich ist.

Auch das folgende Angebot der kirchlichen Kunstarbeit im Rahmen des PTIs der Nordkirche hat seine Voraussetzungen darin, dass eine volkskirchlich geprägte Organisation in vielen ihrer Arbeitsbereiche in nahezu selbstverständlicher Hinsicht darauf aus ist, kulturelle Resonanzen zu erzeugen – völlig unabhängig von einer „geistliche[n] Renditeerwartung[…]“ (EKD 2020, 96). Diese Art von „Überschuss“ hat allerdings – dies sei hier noch einmal wiederholt – die volkskirchliche Verfasstheit  zur Voraussetzung. Dass die kirchliche Image-Bildung dabei einen eher indirekten Effekt darstellt, wird in diesem Rahmen bewusst in Kauf genommen.

b)   Titel: Die kirchliche Kunstarbeit des PTI

Ansprechpartner*in: Anna-Luise Klafs, Studienleiterin für Kunst und Kirche im PTI der Nordkirche

Kunst in der Kirche und von der Kirche ist spätestens seit der Aufklärung immer auch Scharnierstelle, Problemstelle, Anfechtungs- und Diskussionsgrundlage für einen Dialog mit Nichtchrist*innen.

(Nord-)Kirchliche Kunstarbeit kann diese spezielle Brückenfunktion nutzen, um

  1. Christliche Glaubensinhalte auf andere Art [d.h. durch das nicht stereotype Spiel mit christlichen Inhalten in nicht-kirchlicher Form] hör-, sicht- und greifbar zu machen

  2. Das Bild von Kirche auf andere Art zu gestalten.

Beispiele:

1. #hoffnungsleuchten: 4 Collagen

In der Weihnachtszeit 2020 sind 4 Künstlerinnen in 4 Seniorenheime der Nordkirche ausgeflogen und haben 4 Kunstwerke geschaffen – alles in Corona-konformer Interaktion mit den Bewohner*innen der Seniorenheime. Zu den Bewohner*innen zählen Christ*innen genauso wie Nichtchrist*innen. Das Thema „Kindheit und Weihnachten“ nimmt Bezug auf die Geburt Jesu, stellt aber individuelle Erfahrungen und Emotionen ins Zentrum. Im Gesamtbild erscheint eine Collage aus Geschichten rund um Weihnachten, die indirekt oder direkt christliche Werte hervorheben: Dankbarkeit für das wenige, was man hat, Freude über die Gemeinschaft, Trost in Kriegszeiten, Zuwendung zum Nächsten. Die Erinnerungen sind also gleichzeitig Bilder dafür, was Christentum für jede einzelne emotional bedeuten kann – eine Kirchenmitgliedschaft außen vor gelassen. Zugleich sprechen die Kunstwerke, die aus den Erinnerungen entstanden sind, eine explizit nicht-kirchliche Sprache, sie sollen nach außen wirken, auch für Menschen, die keine Berührung mit Kirche haben (im Altersheim, in der Öffentlichkeit). Das Bild, die Soundcollage, der Cartoon können mich ansprechen, ohne zu wissen, dass es sich um kirchliche Auftragswerke handelt. Der Überraschungseffekt, dass die (Nord)Kirche dahinter steckt, ist gewollt und kann im besten Fall einen Aha-Moment des Betrachters provozieren: Das ist von der Kirche!

2. Künstlerbörse

Seit dem ersten Lockdown im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie gibt die Nordkirche Künstler*innen eine Plattform, um digitale Angebote (z.B. Gesangsunterricht) zu präsentieren. Insgesamt sind über 60 professionelle Künstler*innen in der Kulturbörse vertreten, wobei die Mehrheit der Künstler*innen wenig bis gar nichts mit Kirche zu tun hat. Das Angebot wird eindeutig als Akt der „Solidarität“ verstanden, im christlichen Sprech „Nächstenliebe“, d.h. ein klassisch christliches Thema wird als solches wahrgenommen, auch wenn das Format alles andere als kirchlich ist. Laut unserer Evaluationsergebnisse (09-2020) sind viele Künstler*innen dankbar und überrascht zugleich, dass sich Kirche für sie einsetzt. Dass diese „interessierte Aufweichung“ von Stereotypen nicht einmalig ist, zeigt der Umstand, dass die überwiegende Zahl derer, die die Kulturbörse nutzen, auch an den nachfolgenden Aktionen teilgenommen haben. Der „Umweg“ über ein völlig unkirchliches Format und der bewusst provozierte Überraschungseffekt können Stereotype für einen Moment aufbrechen und damit indirekt bzw. nachträglich Image bildend wirken.

Während die voranstehenden Projekte bereits implizit einen Entfremdungsprozess der Gesellschaft von Kirche thematisieren, indem ihre Angebote auf „Überraschungseffekte“ und „Aha-Moment[e]“ gegenüber kirchendistanzierten Menschen abzielen oder sie von jenen als „überraschend, innovativ“ erlebt werden, macht der folgende Text zum Profilkurs des Diakonischen Werks Hamburg das Thema mehrheitlich-gesellschaftlicher Konfessionslosigkeit zu dessen explizitem Ausgangspunkt: Ohne Mitgliedschaft als bindendem Einstellungskriterium, wie es für manche Berufsfelder in diakonischen Einrichtungen existiert, braucht es anders gelagerte Identifikationsmomente (zu Sitte und Kontrakt), um Zweck und Haltung der Organisation nach innen wie nach außen zu rechtfertigen und zu plausibilisieren. Damit „stellt sich ganz grundsätzlich die Frage nach der Sinnhaftigkeit von formaler Kirchenmitgliedschaft, wenn wir bereits seit Längerem wissen, dass diese keinesfalls gesicherte Kenntnis und innere Verbundenheit gegenüber den Kerninhalten des christlichen Glaubens, der Kirche und der Diakonie garantieren“ (Middel-Spitzner 2020). Anders ausgedrückt: Dort, wo Selbst-Verständlichkeiten erklärungsbedürftig werden, müssen Rückkoppellungen neu erzeugt werden. Mit dem durch das Diakonische Werk Hamburg entwickelten „Profilkurs – Diakonie geschärft und verortet“ initiiert die Einrichtung einen bildungsbasierten Rückkopplungsprozess, der die neuangestellten Mitarbeitenden in ihrer Sprachfähigkeit über die Werte diakonischen Handelns anleitet und ihre bisherigen Erfahrungen mit Diakonie im Sinne eines wechselseitigen Lernprozesses kritisch auf das eigene Profil und Image bezieht. Im Vergleich der Projekte lässt sich hier ein Vorgehen identifizieren, das die Frage von Bildungsangeboten und „Renditeerwartungen“ (EKD 2020, 96) nicht ausklammert, sondern umkehrt: Auf Basis der Neuanstellung werden den Angestellten (womöglich erstmalig) religiöse Bildungsprozesse ermöglicht, deren sozialisationsbedingtes Ausbleiben im Kontext der evangelischen Kirche nachgerade für eine „Stabilität im Abbruch“ (EKD 2014, 70) der Mitgliedschaftsverhältnisse sorgt. Es ist anzunehmen, dass dieser Ansatz solche „Erosionsprozesse“ (EKD 2014, 17) nicht aufhält oder verlangsamt, die intendierte Sprach- und Auskunftsfähigkeit der Mitarbeitenden über die Zwecke der Organisation sich aber durchaus positiv auf die Außendarstellung, sprich: das Image, des Gesamtunternehmens auswirken kann.

c)   Titel: Profilkurs – Diakonie geschärft und verortet

Ansprechpartner*in: Sabine Middel-Spitzner, Persönliche Referentin des Landespastors, Diakonisches Werk Hamburg

Profilkurs – Diakonie geschärft und verortet heißt der seit 2016 für alle neuen Mitarbeitenden verpflichtende Kurs des Diakonischen Werkes Hamburg. In drei aufeinander aufbauenden Modulen werden alle neuen Mitarbeitenden in einer kontinuierlichen Gruppe (mit max. 30 Teilnehmenden) innerhalb eines halben Jahres geschult. Alle Tage haben eine ähnliche Rhythmisierung und gehen von 9 bis 17 Uhr. Warum haben wir uns in Hamburg dazu entschlossen, Mitarbeitenden, unabhängig von ihrer Position, ihrem Stellenumfang oder sonstigen Kriterien, Haltung, Ziele und Arbeitsinhalte diakonischer Arbeit näherzubringen?

Die Realität der Diakonie als Arbeitgeberin ist seit vielen Jahren geprägt durch den Fachkräftemangel. Insbesondere in den Bereichen Pflege, Medizin und Erziehung wird es dia­konischen Unternehmen in den nächsten Jahren zunehmend unmöglich sein, die notwendigen Mitarbeiter*innen erfolgreich un­ter Kirchenmitgliedern zu rekrutieren. De facto ist davon auszugehen, dass schon seit Jahren ein wachsender Anteil (etwa der professionell Pflegenden) in der Dia­konie keiner Kirche mehr angehört, insbesondere mit Blick auf die neuen Bundesländer. Wenn dem so ist und wir uns dieser Tatsache durch die Beschäftigung von Nicht-Christ*innen bewusst stellen, dann lautet die Aufgabe: Wie kann die Diakonie als soziale Arbeit der Evangelischen Kirche erkennbar sein und bleiben, wenn ein Großteil der Mitarbeitenden nicht mehr Mitglied einer ACK-Kirche ist?

Das Diakonische Werk Hamburg hat von 2014 bis 2016, ausgehend von intensiven Interviews mit dem Vorstand, der Einbindung aller Leitungskräfte sowie der Einrichtung eines Steuerkreises, bestehend aus Mitarbeitenden der verschiedenen Fachbereiche, den „Profilkurs – Diakonie geschärft und verortet“ entwickelt. Ziel des Kurses ist es, einerseits Mitarbeitende zu dem evangelisch-diakonischen Grundverständnis sowie den Rahmenbedingungen unserer Arbeit als Teil der Evangelischen Kirche sowie als Spitzenverband der Freien Wohlfahrtspflege sprachfähig zu machen. Andererseits werden Diskursräume angeboten, in denen (selbst-)reflektiert, kritisch nachgefragt und einander kennengelernt werden kann. 

In Bezug auf unseren Auftrag, erkennbar zu sein, gehen wir von einem sich wechselseitig bedingenden und befördernden Doppelthema aus: Die interkulturelle Öffnung macht die Pro­filentwicklung notwendig, um sich nicht in Beliebigkeit zu verlieren. Die Profilentwicklung bedarf hingegen der interkultu­rellen Öffnung und Diversitätsorientierung, um Verengung zu vermeiden und diskursfähig zu bleiben. Es braucht also einen Prozess der Profilentwicklung, der das Unternehmen für Mitarbeitende und Klient*innen als fundiert und reflektiert evangelisch-diakonisch erkennbar macht und Sprachfähigkeit fördert, sowie einen Prozess der Interkulturellen Öffnung und Diversitätsorientierung, der sowohl die Versorgung der sich diversifizierenden Kli­entel verbessert als auch den dringend be­nötigten Mitarbeitenden mit unterschiedlich kulturellem und religiösem Hintergrund signa­lisiert, dass sie willkommen sind und in ihrer Ganzheitlichkeit ernst genommen werden.

Was heißt das nun konkret? Wie können Mitarbeitende, die in ihrer (Nicht-)Religiosität ganz unterschiedlich gestimmt sind, etwas von diesem „Geist“ mitbekommen? Verpflichtende Bildungs- und Schulungs­angebote sind unserer Meinung nach die logische Folge. Bildung wird dann, im Sinne des oben beschriebenen Doppelthemas von Profil und Diversitätsorientierung, nicht nur als Wissensaneignung über das Religiöse unseres Unternehmens verstanden, sondern als wechselseitiger Lernprozess konzipiert, bei dem es darum gehen muss, die kulturellen und ggf. religiösen Ressourcen von Mitarbeitenden zu erfragen, sie abzurufen und in Alltag und Kultur des Unternehmens einzubeziehen, sofern sie grundsätzlich mit ihnen kompatibel sind. Mitarbeitende können in die diakonische Unternehmenskultur ihres Anstellungsträgers inkulturiert werden und entwickeln mehr als eine rein formale Loyalität, wenn sie über kluge, offene, regelmäßige Bildungs- und Diskursformate die Möglichkeit erhalten

a) Wissen zu erlangen über Grundausrich­tung und „Geist“ ihres Unternehmens,

b) sich mit ihren eigenen Haltungen und kul­turellen Hintergründen einzubringen und sich dann diskursiv auseinanderzusetzen mit den Inhalten, für die das Unternehmen steht. Auf diesem Weg erfahren und verstehen sie ihr Unternehmen – und sich selbst. Sie eig­nen sich in ihren Rollen als Leitungskraft und Arbeitnehmer*in dessen Grund­haltungen an, in freier Verbindung zu ihrer je eigenen Einstellung z. B. zu Religiosität oder Weltanschauung. In der Folge sind sie im besten Fall Botschafter*innen der Diakonie, mindestens aber können sie sagen, welchen Unterschied es macht, bei einer kirchlichen Arbeitgeberin zu arbeiten. Und im besten Fall weiß die Arbeitgeberin um die kulturellen Bezüge ihre Mitarbeiter*innen, kann diese mitbedenken und in den eigenen Diskurs einspeisen (lassen).

Wenngleich sich auch in der verfassten Kirche hierzu eine Bewusstseinsänderung vollzieht (der IKÖ Prozess der Nordkirchen ist seit 2017 in vollem Gange) unterscheiden sich die Bewegungen. Der Unterschied besteht vor allem darin, dass Diakonie eine sehr viel größere Kontaktfläche zur „Normalbevölkerung“ hat als die verfasste Kirche. In ihr bildet die Masse der Nutzer*innen und Anbieter*innen eine sehr viel homogenere Menge, z.B: in ihrer Nähe zur Kirche und zu ihren Kernbotschaften. Die Mitarbeitendenschaft der Diakonie ist sehr viel diverser (ihre Nutzer*innen sind es sowieso) und gehört, wenn Kirchenmitglied, eher zur Gruppe der Distanzierten bis Hochdistanzierten. Diakonie ist also scheinbar sehr viel mehr herausgefordert, sich über ihr Profil bewusst zu sein, dieses zu kommunizieren und in einen Diskurs darüber zu treten. Der Mitglieder- und Glaubwürdigkeitsverlust der verfassten Kirche macht jedoch deutlich, dass sich auch hier viel mehr als bisher bewegen muss. Wer sich in der Bevölkerung in seiner kulturellen Ausrichtung durch die verfasste Kirche nicht mehr ernstgenommen fühlt, trennt sich von dieser. Auch in der Diakonie stehen diese Erkenntnis und ihr Umgang damit erst am Anfang.

Das folgende Beispiel setzt an der kirchlichen Sozialisation von Jugendlichen an. Dabei fällt auf, dass Gemeinden immer wieder – und in gewisser Hinsicht auch völlig berechtigt – Formen der „Renditeerwartungen“ (EKD 2020, 96) hegen: Auch kirchenmusikalische Bildungsangebote sollen etwas hervorbringen auf Seiten der Jugendlichen im Blick auf die Organisation, die ihnen diese Angebote ermöglicht. Dies führt notwendigerweise zu Enttäuschungen. Räume für Religion in der Gesellschaft zu eröffnen bzw. die Kommunikation des Evangeliums zu fördern ist für die Kirche eben einerseits ein wesensnotwendiges, aufgrund dieser enttäuschten Erwartungen jedoch zugleich herausforderndes Unterfangen, denn: „[... S]olche Räume müssen weitgehend uneigennützig bereitgestellt und gestaltet werden und nicht auf Werbung für die eigene Organisation zielen, sondern auf die Förderung religiöser Suchbewegungen.“ (Hauschildt & Pohl-Patalong 2013, 424) Dieses Dilemma zwischen theologischen und organisationssoziologischen Erwägungen wird im folgenden Text offenkundig. Ob sich die Teilnehmer*innen tatsächlich „als Teil von Kirche sehen“, bliebe am Ende einer Tiefenprüfung zu unterziehen. Sicher jedoch ist, dass hier religiöse Sozialisationsprozesse initiiert werden.

d)   Titel:  Methodik, Didaktik und Gott? Die popularmusikalische Arbeit innerhalb der Nordkirche

Ansprechpartner*in: Jan Simowitsch, Leiter des Fachbereichs Popularmusik der Nordkirche

Eine jugendliche Gruppe möchte Gitarre lernen. Sie haben Instrumente, Zeit und starten gemeinsam bei null. Meine Aufgabe soll es sein, dass sie am Ende passabel auf Grundlagenniveau eine Liedbegleitung spielen können. Es geht um klassische Bildungsarbeit. Ein von Gott unabhängiges Lernstadium soll erreicht werden. Und egal, ob ich das Angebot mit atheistischen oder christlichen Jugendlichen durchführe, wird das Ergebnis gleich klingen. Zwischen Methodik und Didaktik ist Gott nicht zu finden.

Da es sich bei Gitarrenspiel auch auf Grundlagenniveau um Musik handelt, kenne ich den Wunsch von pastoraler Seite schon vor dem ersten Saitenanschlag: Können die Jugendlichen anschließend nicht auch die Gottesdienste begleiten? Oder zumindest am Ende gemeinsam im Gottesdienst spielen? Die Kirchenmusik hat ja die Aufgabe, Musik in den Gottesdienst zu bringen.

Diesen Wunsch kann ich nachvollziehen, halte ihn aber in dieser Weise für nicht sinnvoll. Natürlich kann am Anfang des Unterrichtes angesagt werden: Ihr bekommt über die Gemeinde den Unterricht kostenlos, als Dank spielt ihr am Ende im Gottesdienst. Fairer Deal. Nur ist dieser Deal von dem, was mir an Kirche wichtig ist, weit entfernt. Er ist quasi das Gegenteil von Kirche. Methodik und Didaktik im Tausch gegen Gott – bitte nicht.

„Worin unterscheidet sich denn das Gitarrenangebot in der Kirchengemeinde von der Musikschule?“

Die Frage ist spannend. Unterrichten wir eigentlich nur Getaufte? Das mag in Schleswig-Holstein bis vor einigen Jahren noch der demografische Fall gewesen sein, in Mecklenburg-Vorpommern schon lange nicht mehr. Wir haben also im Idealfall in unserer Gruppe sowohl typisch konfirmierte Jugendliche wie auch kirchenferne, die sich voneinander kaum unterscheiden – es sind Jugendliche.

Wenn mein Ziel als Kirchenmusiker darin besteht, den Lernenden sowohl das Instrument beizubringen, ihnen aber auch exemplarisch zu Momenten zu verhelfen, bei denen sie Kirche als einladend und ansprechend empfinden, dann muss ich mir vorher mehr überlegen. Und ich muss sie, und das gilt für jedes kirchliche Handeln, ernst nehmen. Ich kann also nicht den Kurs starten und sagen, was am Ende passiert, sondern ich sollte die Chance wahrnehmen, junge Menschen in ihrem Erwachsenwerden, in ihrem Suchen und Ausprobieren ein Stück weit zu begleiten.

Es geht also gerade nicht darum: dies sind wir, dies ist unser Sonntagsgottesdienst, erlebt, wer wir sind. Denn das führt bei den Jugendlichen sehr wahrscheinlich zu einem Gefühl von: hier sind wir fremd, das sind andere als wir. Eher geht es darum, sie entdecken zu lassen, dass Kirche aus vielen Menschen besteht, die ihnen ähnlich sind: die sich inspirieren lassen wollen, sich immer noch gelegentlich unsicher sind und sich freuen, neue Mitsucher*innen kennenzulernen. Und aus Menschen, die einander ernst nehmen: es geht um das eigene Wahrnehmen und das Ermöglichen von Partizipation, gerade auch im Religiösen.

Daran schließt sich die Frage an, ob Bildungsarbeit auch Imagearbeit für die Kirche impliziert.

Meine Antwort ist „Nein“, nicht direkt. Natürlich vermittle ich in meiner Sprache und Haltung ein Bild von Kirche und weiß, dass ich in der Öffentlichkeit mit Kirche assoziiert werde, dass mein Tun Auswirkungen auf das Image von Kirche hat. Ziel meiner konkreten Arbeit ist es aber weder, bei den Teilnehmer*innen das Image der Institution Kirche aufzubessern noch sie zu per beschlossenem Deal in den Gottesdienst zu bringen. Wenn ich authentisch Menschen für den Glauben begeistern und ihnen ein Gefühl der Partizipation in der Kirche vermitteln möchte, dann geht es in erster Linie um die Entdeckung des eigenen Glaubens als Teil in einer Gemeinschaft.

Gleichzeitig gilt jedoch: Wenn die religionspädagogische Arbeit gelingt, dann wird es dem Image von Kirche sehr zu Gute kommen. Die Teilnehmer*innen werden von Kirche emotionaler reden, da sie sich selbst als Teil von Kirche sehen werden. Die Teilnehmer*innen werden ihre gelernten Fähigkeiten präsentieren wollen und ihre Freunde und Familie dazu einladen. Etwas Besseres kann unserer gemeinsamen Kirche nicht passieren.

Insofern ist kirchliche Bildungsarbeit also im besten Sinne ein Katalysator für einen emanzipatorischen Prozess hin zum Priestertum aller Gläubigen.

Mit dem folgenden Beispiel wird die Personalisierung der religiösen Bildungsarbeit in Form der digitalen Kirche vorgestellt. Dass die Übertragung der dort gemachten Erfahrungen auf die religiöse Organisation als Ganze durchaus gelingt, davon ist Josephine Teske, die auf Instagram als @seligkeitsdinge bekannt ist, überzeugt.

e)   Titel: „Kirche für alle. Von Allen. Überall“ – Arbeit in der digitalen Kirche

Ansprechpartner*in: Pastorin Josephine Teske, #seligkeitsdinge auf Instagram

Liebe Josephine,

ich folge dir schon länger und bin jedes Mal wieder begeistert von dir und deinen Storys. Ich bin in einer evangelischen Kirchengemeinde aufgewachsen. Jedoch habe ich dort nicht mehr meinen Platz gefunden. Ich habe keine Antworten auf meine Fragen bekommen. Und dachte lange, es würde nur einen Weg geben, „richtig“ zu glauben. Du zeigst mir, dass Kirche modern sein kann. Durch dich und deine Arbeit hinterfrage ich Vieles und beschäftige mich mehr mit meinem Glauben. Durch dich bin ich Kirche wieder näher gekommen. Ich wollte einfach mal Danke sagen.

Luisa

[…]

Mit Stolz auf die Arbeit der Christ*innen auf Instagram habe ich exemplarisch dieses Feedback herausgesucht. Es zeigt auf, wie Kirche nach außen wirken kann, wenn einschränkende Strukturen keine Rolle in der Kirche spielen. Religiöse Bildungsarbeit in den sozialen Medien lebt von ihrer Niedrigschwelligkeit. Von leichter Sprache. Authentizität. Nahbarkeit. Aber vor allem davon, einfach zu erzählen, was Menschen glauben oder infrage stellen und miteinander barrierefrei ins Gespräch auf Augenhöhe zu gehen. Come as you are. Egal ob in einer Gemeinde aktiv oder überhaupt Glaubende*r. Egal, welcher Konfession du angehörst. Oder welchen Bildungsabschluss du hast. Ohne, dass dabei auf Hierarchien bzw. überholte Traditionen Rücksicht genommen werden muss.

Ich glaube, meine Bildungsarbeit hat Rückwirkungen auf das Kirchenbild. Keine Frage, Kirche wird anders wahrgenommen. Offener. Moderner. Nahbarer. „Normaler“. All das durch meine Person. Das kann kritisiert werden. Eine Pfarrzentrierung nie ideal. Dennoch möchte ich die Chancen hervorheben: Nahbarkeit schafft Vertrauen und schenkt Mut. Dafür braucht es erstmal ein Beziehungsgeschehen. Dies wiederum öffnet längst verschlossene Türen zu einer Institution, deren Mauern dick und Ansichten oft überholt sind; einer Institution, der der Vertrauensvorschuss der Menschen abhandengekommen ist. Inwiefern der Schritt von meinem Account hin zu einer analogen Gemeinde gelingt, kann ich nicht bestimmt sagen. Dennoch weiß ich, dass dieser Schritt getan wird. Menschen suchen sich bewusster „ihre Gemeinde“, die zu ihnen passt.

Meine persönlichen Reflexionen, mein Lernen im Leben und Glauben lädt zum eigenen Nachdenken an. Ich sage nicht, was richtig oder falsch ist. Ich habe keine ultimativen Antworten. Ich bin Christin und Expertin für Glaubensfragen. Ich versuche zu zeigen, wie mein Leben vor diesem Hintergrund mit allen Höhen und Tiefen gelingen kann. Und eröffne somit Räume für andere, Wege ihres Lebens mit Gott zu gehen. Gestärkt. Angenommen. Hinterfragend. Auch zweifelnd. Partizipation und Ermutigung zur Selbstreflexion im Glauben, das ist das Ziel meiner religiösen Bildungsarbeit. Und ja, das verändert Kirche. Insoweit, als dass Christ*innen selbstbewusst in die Gemeinden gehen und mitgestalten wollen. Nicht nur kritisieren, sondern anpacken und verändern. Das ist für mich Priestertum aller Glaubenden. Dies zu stärken, das versuche ich mit meiner digitalen Arbeit auf meine besondere Art und Weise. Und sehe, dass es gelingt.

3 Fazit

Die Beispiele religiöser Bildungsarbeit in der Nordkirche haben vor allem eines gezeigt, was eine Abwandlung des sogenannten Böckenförde-Diktums treffend auf den Punkt zu bringen vermag: Die Kirche lebt in ihrer Bildungsarbeit gegenwärtig von Voraussetzungen, die sie selbst nicht mehr garantieren kann. Mit Domsgen und Karstein gesprochen:

Sozialisationstheoretisch betrachtet, ist nicht davon auszugehen, dass Kirchlichkeit (in Verbindung mit der derzeit praktizierten Form der Kirchenmitgliedschaft) zunehmen wird. Die entsprechenden Erosionsprozesse werden sich fortsetzen (z.T. auch in beschleunigter Weise). […] Dabei kommt der Kirchenmitgliedschaft als Kristallisationspunkt der Finanzierung eine besondere Bedeutung zu.  (Domsgen & Karstein 2020, These 16)

Domsgen und Karstein ziehen aus dieser Analyse die Konsequenz, dass es zukünftig „verstärkt darum gehen“ müsse, „unterschiedliche Formen kirchlicher Partizipation von der Frage nach deren Finanzierung in Form der Kirchensteuer zu entkoppeln.“ (Domsgen & Karstein 2020, These 16) So sehr wir ihrer Analyse zustimmen, so sehr stellt sich uns aber zugleich die Frage, ob sie mit dieser Konsequenz nicht letztlich den oben beschriebenen „blinden Fleck“ protestantischer Ekklesiologie fortschreiben. Die eigentliche Herausforderung kirchlicher (Bildungs-)Arbeit wird darin liegen, ihre Finanzierung – und damit Mitgliedschaftsfragen – auf eine theologisch angemessene Weise zum Thema dieser (Bildungs-)Arbeit selbst zu machen und damit den „Weißen Elefanten“ zu benennen, von dem ohnehin alle wissen, dass er den Spielraum kirchlicher (Bildungs-)Arbeit zumindest auch definiert. Wie die Verkoppelung von kirchlicher (Bildungs-)Arbeit und ihrer Finanzierung durch Mitgliedschaft konkret aussehen kann und welche Konsequenzen dies für die kirchliche Arbeit nach sich zieht, ist allerdings das Thema eines anderen Aufsatzes, dessen es unseres Erachtens dringend bedarf. Einige Andeutungen sind dazu bereits in der Einleitung versucht worden.

Literaturverzeichnis

Domsgen, M. (2014). Konfessionslosigkeit. Annäherungen über einen Leitbegriff in Ermangelung eines besseren. In Domsgen, M. & Evers, D. (Hg.), Herausforderung Konfessionslosigkeit. Theologie im säkularen Kontext (S. 1-11), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt.

Domsgen, M. & Karstein, U. (2020). Religiöse Relevanz und kirchliche Partizipation in der Dynamik unterschiedlicher Generationen. Thesen. In Wissenschaftliches Symposion zum Thema „Kirchliche Partizipation und religiöse Relevanzstrukturen. Soziologisch-theologische Verständigungen auf dem Weg zur KMU VI“, 11./12.12.2020 [unveröffentlicht].

EKD (2010). Kirche und Bildung – Herausforderungen, Grundsätze und Perspektiven evangelischer Bildungsverantwortung und kirchlichen Bildungshandelns. Eine Orientierungshilfe des Rates der EKD, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

EKD (2014). Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis. V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover.

EKD (2014a). Religiöse Orientierung gewinnen. Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

EKD (2020). Religiöse Bildung angesichts von Konfessionslosigkeit. Aufgaben und Chancen, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt.

Hauschildt, E. & Pohl-Patalong, U. (2013). Kirche, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

Middel-Spitzner, S. (2020). Profilkurs – Diakonie geschärft und verortet [unveröffentlicht].

 

Hans-Ulrich Keßler ist leitender Pastor des Hauptbereichs „Schule, Gemeinde- und Religionspädagogik, Direktor des Pädagogisch-Theologischen Instituts der Nordkirche

Dr. Emilia Handke ist Pastorin, Leitung „Kirche im Dialog“, ein Werk im Hauptbereich Gottesdienst und Gemeinde der NordkircheDr. Dennis Bock

ist Sozial- und Kulturwissenschaftlicher Referent bei „Kirche im Dialog“, ein Werk im Hauptbereich Gottesdienst und Gemeinde der Nordkirche