1 Einleitung: Das Erkenntnisinteresse der SR-Studie
„Also, das interreligiöse Lernen, finde ich, sollte auf jeden Fall in das Lehramtsstudium eingebunden werden, gerade weil wir als [...] Lehrkräfte nachher eine Verantwortung dafür tragen, dass es nicht zu kulturellen oder interreligiösen Spannungen kommt, oder dafür, dass diese Spannungen abgebaut werden. Und wenn wir als Lehrkräfte nicht wissen, wie wir damit umzugehen haben, können wir auch von unseren Schülern nicht verlangen, dass sie wissen, wie sie damit umgehen sollen“ (Lehramtsstudentin der Katholischen Theologie an der TU Dortmund).Auch wenn für die zitierte Lehramtsstudentin auf der Hand zu liegen scheint, dass die Herausforderung eines angemessenen Umgangs mit einer von Pluralität geprägten Schülerschaft nicht ohne Konsequenzen für die Lehrerausbildung bleiben darf, stellt sich dies in der Praxis wesentlich weniger selbstverständlich dar: Während interreligiöse Lernformen im Religionsunterricht an Selbstverständlichkeit zunehmen (Eisenhardt, Kürzinger, Naurath & Pohl-Patalong, 2019, S. 9–15), ist es im Angesicht der Wirkungskette Lehrerausbildung – Lehrerhandeln – Schülerleistung (König, 2014, S. 19) umso erstaunlicher, dass es an entsprechender Reflexion bezüglich einer angemessenen Vorbereitung im universitären Kontext mangelt (Schröder, 2009, S. 51). So bleibt die Frage, wie sich ein Lernen in der direkten Begegnung auf Hochschulebene fruchtbar machen ließe, weitestgehend unbeantwortet. Ist über eine religiöse-plurale Schülerschaft hinaus von einer weltanschaulichen Pluralität im Religionsunterricht auszugehen, ist zudem zu fragen, wie sich dies in derartigen Überlegungen berücksichtigen lässt. Naheliegend erscheint diesbezüglich die Öffnung des praktischen interreligiösen zum interweltanschaulichen Dialog. Hier knüpft das Forschungsinteresse der SR-Studie an, welches die Ergründung von Chancen und Grenzen des dialogischen interreligiösen bzw. interweltanschaulichen Lernens – konkret anhand der Methode des SR– im Studium der Katholischen Theologie als Vorbereitung auf den Schulalltag angehender Religionslehrer/innen betrifft (Welling, 2020, S. 13–16).
2 Interreligiöser Dialog als Königsweg des interreligiösen Lernens?
Bei der Methode des SR handelt es sich um eine schriftbasierte Form des praktischen interreligiösen Dialoges. Bevor Intention und Umsetzung des SR genauer thematisiert wird, geht es im Folgenden darum, warum der praktische interreligiöse Dialog „zwischen Menschen, die auf ihre je eigene, unverwechselbare Art und Weise in ihrer jeweiligen religiösen Tradition beheimatet sind“ (Goßmann, 2005, S. 349), im fachlichen Diskurs als besonders erfolgversprechende Form des interreligiösen Lernens gilt. Grundsätzlich wird der Terminus Lernen in diesem Zusammenhang aus einer heuristischen Perspektive verstanden, aus welcher sich das Lernen „als erfahrungsbezogener, dialogischer, sinnvoller und ganzheitlicher Prozess, in dem sich die Aspekte des Wissen-Lernens, Können-Lernens, Leben-Lernens und Lernen-Lernens verbinden“ (Ledl, 2012, S. 301) definieren lässt. Hinsichtlich des interreligiösen Lernens konkretisieren sich diese Eigenschafften des Lernens, indem nicht lediglich ein objektiver Wissenserwerb bezüglich der Weltreligionen angestrebt wird. Vielmehr rückt die „Beziehung zwischen eigener und fremder Religion, zwischen lernenden Subjekten und anderen Religionen“ (Schambeck, 2013, S. 52–51) mit dem Ziel in den Fokus, dass erworbene Erkenntnisse so in das Bewusstsein eindringen, dass sie das alltägliche Leben beeinflussen (Sajak, 2010, S. 80; Knauth, 2009, S. 319; Welling, 2020, S. 34–37). Die Annahme, dass die direkte Begegnung mit der/dem religiöse Anderen einen derartigen Lernerfolg garantiert, lässt sich durchaus kritisch hinterfragen (Schweitzer, 2014, S. 142; Gärtner, 2015a, S. 216–217; Schambeck, 2013, S. 74). Dennoch scheint es mit Blick auf die konkreten Eigenschaften des Dialoges aus theoretischer Perspektive naheliegend, dass im praktischen interreligiösen Dialog sämtliche Zieldimensionen interreligiösen Lernens berührt werden. So erklärt M. Vött:
„Dialog ist [...] ein thematisches, sach- und teilnehmerorientiertes Gespräch über strittige Fragen von existentieller Bedeutung, das im Prozess des sich Einander-Aussetzens und sich Miteinander-Auseinandersetzens zu einer Erkenntnis der anliegenden Probleme und zu einer Entwicklung der persönlichen Einstellung und Identität führt“ (2002, S. 74).
Zugespitzt auf den praktischen interreligiösen Dialog ist mit B. Roebben darüber hinaus davon auszugehen, dass ein „‚Learning in the presence of the other” ein “learning about religion (information), learning from religion (communication) and learning in/through religion (appropriation)“ impliziert (2016a, S.16). Schlussfolgernd ließe sich der Ertrag des Dialoges mit den Zieldimensionen interreligiösen Lernens verknüpfen:
Kognitive Dimension: Wissenserwerb (Welling, 2020, S. 38–39)
Im Dialog kommt es zum Wissenserwerb auf religionskundlicher Ebene (learning about religion).
Soziale Dimension: Perspektivenwechsel und Toleranz (Welling, 2020, S. 40–42)
In der direkten Anwesenheit der/des religiös Anderen ergibt sich im Dialog nicht nur die Möglichkeit, etwas über deren/dessen Religion zu lernen, sondern auch zu erfahren, was die jeweiligen Inhalte für sie/ihn und ihre/seine Religiosität bedeuten (Ziebertz,1993, S. 86). M. Schambeck spricht in diesem Zusammenhang von dem Kennenlernen einer Religion vermittelt aus der Teilnehmerperspektive (2013, S.164). Ein Perspektivenwechsel trägt hierbei zu einem besseren, wenn auch nicht ineinander aufgehenden, gegenseitigen Verständnis bei (learning from religion). Dies fundiert bestenfalls eine tolerante Grundhaltung gegenüber der/dem religiös Anderen und seiner Religion, „die Differenzen bzw. Andersartigkeit wahrnimmt und diese nicht aufhebt oder negiert“ (Gärtner, 2015b, S. 1).
Persönliche Dimension: Perspektivenerweiterung und religiöse Identität[1](Welling, 2020, S. 42-50)
Das Lernen im Sinne eines learning about und learning from religion führt die/den Lernenden zu der Frage, was das neu Gelernte für sie/ihn und ihre/seine eigene Position bedeutet (learning in/through religion). Somit wird die religiöse Identität des Einzelnen berührt (Grimmitt, 1987, S. 226; Schweitzer, 2014, S. 59), was dem Anspruch religiöser Bildung entspricht, einen Anreiz zu geben, „bereits vorhandene religiöse Identitätsmuster” (Altmeyer, 2016, S.8) einerseits auf Relevanz zu prüfen und zu legitimieren und sie andererseits in der Konfrontation mit religiöser Pluralität weiterentwickeln zu können (Altmeyer, 2016, S. 8).
Im Hinblick auf einen praktischen interreligiösen Dialog, stehen die genannten Dimensionen nicht einfach nebeneinander, vielmehr ist davon auszugehen, dass sie ineinandergreifen (Roebben, 2016b, S. 93). Hierbei handelt es sich um eine theoretische Annahme, welche es forschungsbasiert zu prüfen gilt.
3 Von interreligiöser zur interweltanschaulichen Bildung?
Mit Blick auf die Frage nach einer angemessenen Vorbereitung auf den Schulalltag ist ferner zu beachten, dass die Pluralität der Schülerschaft sich nicht im Religionsplural erschöpft, denn, so beschreibt B. Schwarz-Boenneke,
„[…] im Religionsunterricht sitzen Kinder und Jugendliche mit tiefer und starker religiöser Prägung neben Mitschülern ohne eine solche, m.a.W. sitzt die Obermessdienerin neben dem Agnostiker. Eine solche Differenz der Glaubensbiographien kann ‚Angst‘ machen, wenn es darum geht, allen gerecht zu werden“ (2018, S. 151).
Im fachlichen Diskurs wird etwa die Formulierung „Religionsunterricht mit Schüler/innen unterschiedlicher Weltanschauungen“ (Domsgen, 2019, S. 114) genutzt, um derartige individuelle Tendenzen der Schüler/innen in Glauben bzw. Nicht-Glauben und Religiosität zu beschreiben. Hinsichtlich der genauen Wortbedeutung von ‚Weltanschauung‘ ist darauf hinzuweisen, dass der Terminus immer im Kontext einer bestimmten Theorie oder Wissenschaft zu verstehen ist, was einen gänzlichen Konsens bezüglich der Wortbedeutung unter Wissenschaftler/inne/n verhindert (van der Kooij, 2016, S. 8–13). Das diesem Artikel zu Grunde liegende Verständnis von ‚Weltanschauung‘ folgt den Ausführungen J. van der Kooijs, die Weltanschauung zunächst als eine Sicht auf das Leben, die Welt und die Menschheit (view on life, the world, and humanity) charakterisiert und weiterführend verdeutlicht, dass jede Religion als Weltanschauung bezeichnet werden könne, während nicht jede Weltanschauung zwangsläufig eine Religion sei (2016, S. 29–30). Außerdem unterscheidet van der Kooij folgendermaßen zwischen organisierter und persönlicher Weltanschauung:
Organisierte Weltanschauungen: Über die Jahre gewachsene, mehr oder weniger geschlossene und etablierte Systeme, die sich durch Traditionen, Werte, Quellen, Rituale, Ideale oder Dogmen definieren. Jeder organisierten Weltanschauung (wie z.B. dem Christen- oder Judentum) gehört eine Gruppe von Personen an, die sich mit der jeweiligen Sicht des Lebens identifizieren (2016, S. 32–33.).
Persönliche Weltanschauungen hingegen implizieren die persönliche Sicht des Einzelnen hinsichtlich des Lebens, der Welt und der Menschheit. Auch persönliche Weltanschauungen umfassen Normen, Werte und Ideale sowie (ggf. vorläufige) Antworten auf existenzielle Fragen und können dabei von organisierten Weltanschauungen geprägt werden (2016, S. 35–36).
Abb. 1
Unter Berücksichtigung des zuvor aufgeführten Potentials eines praktischen interreligiösen Dialoges stellt sich die Frage, warum Personen mit einer nichtreligiösen Weltanschauung nicht von einem derartigen Mehrwert profitieren sollten (Hedges, 2017, S. 45). Ansätze zur Umsetzung eines interweltanschaulichen Dialoges, lassen sich im Rahmen einer sogenannten Worldview Education erkennen, die van der Kooij basierend auf ihrer zuvor dargelegten Verhältnisbestimmung von Religion und Weltanschauung präzisiert. Hierbei geht sie von einer Erweiterung der Religious Education im schulischen Kontext auf eine Worldview Education aus (2016, S. 41–44), welche der vielschichtigen persönlichen Weltanschauung des/der Einzelnen Raum gibt, die oft von mehr als einer organisierten Weltanschauung inspiriert worden ist (2016, S. 49). Einen fundmentalen Impuls in einer derartigen Worldview Education stellen existenzielle Fragen dar, die nicht nur im Horizont organisierter Weltanschauungen beantwortet werden können, sondern eine Rolle im Leben der Lernenden spielen. Dabei geht van der Kooij davon aus, dass eine implizite oder explizite Sichtweise auf existenzielle Themen bei einem Großteil der Menschen vorauszusetzen ist (2016, S. 42). Für die SR-Studie resultiert folgendes Begriffsverständnis:
Personen mit einer religiösen Weltanschauung: Personen, die sich einer konkreten organisierten religiösen Weltanschauung zugehörig fühlen (z.B. dem Christentum) und deren persönliche Weltanschauung folglich von dieser Zugehörigkeit geprägt wird (Welling, 2020, S. 117).
Personen mit einer nichtreligiösen Weltanschauung: Personen, die sich zu einer organisierten jedoch nichtreligiösen Weltanschauung zugehörig fühlen (z.B. dem Humanismus) oder sich mit keiner konkreten organisierten Weltanschauung identifizieren können. Die persönliche Weltanschauung kann in diesem Fall von der jeweiligen konkreten nichtreligiösen Weltanschauung oder verschiedenen nichtreligiösen organsierten Weltanschauungen geprägt werden (Welling, 2020, S.117).
Sowohl bei den muslimischen und christlichen Teilnehmer/inne/n der SR-Studie, als auch bei den Teilnehmer/inne/n mit einer nichtreligiösen Weltanschauung handelte es sich nicht um drei in sich geschlossene, weltanschaulich homogene Personengruppen. Dies wird in der Annahme einer persönlichen Weltanschauung der/des Einzelnen deutlich, die in religiösen und in nichtreligiösen Weltanschauungen impliziert ist. So ist mit Blick auf die christlichen oder muslimischen Teilnehmer/innen darauf hinzuweisen, dass der Einfluss der organisierten religiösen Weltanschauung auf die Religiosität des/der Einzelnen unterschiedlich stark ausgeprägt war (Welling, 2020, S. 193–196). Auch die befragten Philosophiestudierenden, die sich selbst als Atheist/innen beschrieben, unterschieden sich in ihren persönlichen Weltanschauungen: Orientierte diese sich zum Beispiel im Falle eines Teilnehmers stark am Humanismus (Welling, 2020, S. 249), weist eine weitere befragte Teilnehmerin darauf hin, dass sie durchaus an etwas wie das „Schicksal“ glaube (Welling, 2020, S. 187–192).
Werden Personen mit einer nichtreligiösen Weltanschauung in den dialogischen Austausch zwischen Personen mit einer religiösen Weltanschauung involviert, greift der Begriff ‚interreligiöser Dialog‘ folglich zu kurz, vielmehr muss von einem interweltanschaulichen Dialog gesprochen werden. Mit Blick auf die SR-Studie muss jedoch darauf aufmerksam gemacht werden, dass das primäre Interesse dem interreligiösen Dialog galt. So wurden Chancen und Grenzen eines solchen Dialoges in erster Linie hinsichtlich einer Integration in den Studiengang der Katholischen Theologie und resultierend aus entsprechender Perspektive reflektiert und konkretisiert. Die Ausführungen bezüglich der Öffnung des Dialoges und der Erweiterung der Methode kommt eine ergänzende Funktion zu, die weiterführende Reflexionen zum Thema des interweltanschaulichen Lernens fundieren können und zugleich Forschungsbedarf in diesem Bereich aufzeigen (Welling, 2020, S. 150).
4 Scriptural Reasoning als Basis interreligiöser Lernprozesse
Der Anspruch, im Studium der Katholischen Theologie auf religiöse und weltanschauliche Pluralität im Schulalltag vorzubereiten und hierbei das Potential des interreligiösen bzw. interweltanschlichen Dialoges zu nutzen, erfordert die Generierung geeigneter Methoden. Im Rahmen der SR-Studie ist sich hierbei für die Methode des SR entschieden worden (Welling, 2020, S. 141–142).
Ursprung des SR
Beim SR handelt es sich um eine ursprünglich aus dem jüdischen Kontext stammende Methode des schriftbasierten Austausches, mit deren Hilfe postmoderne Denker dem jüdischen Denken nach der Shoah neuen Ausdruck verleihen wollten. Ausgelöst durch religiöse Vielfalt innerhalb der Gesellschaft kam es mit Beginn der 1990er Jahre zunehmend zur Integration christlicher und mit den 2000er Jahren schließlich auch muslimischer Gelehrter (Moyaert, 2013, S. 68–70). Es resultierte ein Zusammenspiel der drei Religionen – mit D. F. Ford wie folgt charakterisiert:
“The four key strands that were brought together in these ways were: Jewish textual reasoning […]; Christian postliberal text interpretation (whose main theological reference point was Karl Barth in particular as interpreted by Frei at Yale); a range of less text-centred Christian philosophies and theologies, both Protestant and Catholic; and Muslim concern simultaneously for the Qur’an and for Islam in relation to Western modernity (especially understood through the natural and human science and technology)” (2006, S. 348).
Die in allen drei Religionen vorherrschende ehrfürchtige Einstellung gegenüber den jeweiligen Heiligen Schriften fungierte somit als Nährboden, damit aus dem ursprünglichen Textual Reasoning das Scriptural Reasoning – zu verstehen als „practice of interreligious reading“ (Moyaert, 2017, S.16) – erwachsen konnte.
Umsetzung
Eine theoretische, philosophische und/oder hermeneutische Rahmung des SR erfolgte bisher nur in Ansätzen, was wohl auf das Bestreben zurückzuführen ist, interreligiöse Begegnungen nicht durch theoretische Fundierungen vorhersehbar, handhabbar und greifbar zu machen (Moyaert, 2017, S. 19). Die folgenden Erklärungen zur Umsetzung sind deshalb nicht als unflexible Vorschriften zu verstehen, sondern sollen eine Vorstellung und Orientierung im Hinblick auf die Methode des SR gewährleisten.
Die Basis des Dialoges bildet das sogenannte Textbündel, hierbei handelt es sich um Textausschnitte aus dem Tenach, der Bibel und dem Koran bzw. den Hadithen, die durch ein übergeordnetes Thema miteinander verbunden sind (Harris, 2016, S. 8). Eine SR-Sitzung besteht aus drei SR-Sessions, in deren Fokus jeweils einer der Textausschnitte steht. So wird sich beispielsweise in Session 1 mit dem Ausschnitt aus der hebräischen Bibel, in Session 2 mit dem Ausschnitt aus dem Neuen Testament und in Session 3 mit dem Korantext auseinandergesetzt (Taylor, 2008, S. 13). Für den Dialog sieht das SR ursprünglich Teilnehmer/inne/n der abrahamitischen Religionen vor (Taylor, 2008, S.9–10). Aufgrund der Einzigartigkeit einer jeden SR-Sitzung kann der genaue Ablauf nicht pauschalisiert werden. Folgende Eckpunkte seien jedoch zur Orientierung genannt (Welling, 2020, S. 234):
Der Presenter liest den Text laut und deutlich vor und gibt eine kurze Einführung. Rückfragen und erste Eindrücke zum Text werden gesammelt. Die Rolle des Presenter wird im Vorfeld der SR-Sitzungen vergeben. Ebenso die Rolle des Convener, welcher die Diskussion leitet, indem er für ausgewogene Redeanteile sorgt oder durch Impulse einem Versiegen der Interaktion vorbeugt (Moyaert, 2017, S. 18; Taylor, 2008, S. 12–14).
Anschließend wird gemeinsam interpretiert, hinterfragt und erklärt. Hier ist das sogenannte Deep Reasonings verortet, welches Nicholas Adams wie folgt beschreibt
„By deep reasoning I mean histories of interpretation of scripture and histories of their application to particular problems in particular times and places. Deep reasonings are not merely the grammars and vocabularies of a tradition, but the relatively settled patterns of their use transmitted from generation to generation” (2006, S. 398).Um eine SR-Sitzung abzuschließen, bietet es sich an, dass jede/r Teilnehmer/in seine/ihre aus der Sitzung gewonnenen Eindrücke und Erkenntnisse zusammenfasst.
Intention des SR
Ziel des SR sollte niemals das Erlangen eines final meaning sein. So geht es grundsätzlich nicht um ein harmonisierendes Lesen, sondern vielmehr um eine „hermeneutic diversity“ (Moyaert, 2013, S. 72), die jedem/jeder Teilnehmer/in das Durchdringen der Textausschnitte aus der Innenperspektive des eigenen Glaubens ermöglicht und deren Gleichberechtigung im Dialog fundiert. Indem resultierende Überlegungen im Dialog mitgeteilt und diskutiert werden, wird ein Reflexionsprozess hinsichtlich der Fruchtbarkeit einzelner Bedeutungsmöglichkeiten angestoßen (Ochs in Geddes, 2004, S. 95).
Dass dieser Reflexionsprozess seitens der einzelnen Teilnehmer/innen über den Dialog hinausreichen kann, wird in der Literatur mit den Symbolen von Haus/base camp, Zelt und spiritueller Reise verdeutlicht. Hierbei symbolisiert das Haus den Ort des alltäglichen Glaubens, in welchem Heranwachsende Rituale, Traditionen und Inhalte kennenlernen, und ihre religiöse Identität ihren Ursprung findet (Moyaert, 2013, S. 73–76). In der Eigenschaft als Ort der Offenheit, Begegnung sowie räumlicher und zeitlicher Flexibilität dient das Zelt als Symbol des SR (Ford, 2006, S. 356). Das SR wendet sich an Personen, die ihre religiöse Identität nicht über festgelegte Dogmen definieren, sondern sich vielmehr als Reisende auf einer spirituellen Reise verstehen, die Traditionen aus der Vergangenheit mit Blick in die Zukunft (re-)interpretieren (Moyaert, 2013, S. 75). Bildlich gesprochen nehmen Teilnehmer/innen des SR während dieser Reise zwei Rollen ein: In der Rolle des Gastes bekommen sie Einblicke in Schrift und Tradition anderer Religionen, während sie in der Rolle des Gastgebers/der Gastgeberin den Dialogpartner/inne/n eben diese Einblicke in den eigenen Kontext gewähren (Harris, 2016, S. 3–4). Dass sich dem Aufenthalt im Zelt – und somit dem inspirierenden, herausfordernden und mitunter verunsichernden Dialog – eine Rückkehr ins base camp anschließt, macht deutlich, dass eine endlose „Reise“ von Dialog zu Dialog nicht der Intention des SR entspricht (Moyaert, 2013, S. 73). Vielmehr sollen die Teilnehmer/innen nach dem Dialog zur Ruhe kommen, um neue Erkenntnisse einordnen und reflektieren zu können. Indem dies sowohl im Dialog mit „Daheimgebliebenen“ als auch in der individuellen inneren Reflexion geschieht, ergibt sich aus dem interreligiösen ein intrareligiöser Dialog (Welling, 2020, S. 134–137).
5 Die SR-Studie
Um das einleitend formulierte Erkenntnisinteresse zu ergründen, ist das SR im Rahmen einer qualitativen Sozialforschung an der TU Dortmund umgesetzt worden. Die resultierenden Dialoge können folglich als Forschungsgegenstände des empirisch angelegten Forschungsprojektes benannt werden, dem folgende Forschungsfrage übergeordnet ist:
Wie lässt sich der interreligiöse/interweltanschauliche Dialog, angebahnt durch das SR, als Form des interreligiösen/interweltanschaulichen Lernens für die Lehramtsausbildung – insbesondere der Katholischen Theologie – fruchtbar machen (Welling, 2020, S. 151)?
Die Datenerhebung erfolgte im Rahmen einer Blockveranstaltung der Katholischen Theologie (GyGe, BK, Bachelor), zudem war das Seminar für Philosophiestudierende geöffnet. Muslimische Studierende nahmen als Gäste an der Veranstaltung teil. Neben Texten aus AT und NT und dem Koran entschied ich mich dafür, einen Ausschnitt aus Ludwig Feuerbachs Wesen des Christentums als Textgrundlage in die Methode zu integrieren, thematisch verbunden waren die Texte durch die Überschrift ‚Gott und Mensch‘. Das Textbündel setzte sich somit aus folgenden Textausschnitten zusammen (Welling, 2020, S. 158–159):
Koran, Al-Baqarah: Sure 2, 29–33
Bibel: AT Genesis 1, 26–29; NT, Johannes 1, 1–5
Feuerbach, Ludwig (1841): Das Wesen des Christentums. Hier: S. 106–107
Die Erweiterung der Methode um den religionskritischen Textausschnitt sowie die Öffnung des Dialoges für Personen mit einer nichtreligiösen Weltanschauung versuchte, dem Anspruch einer angemessenen Vorbereitung auf einen Schulalltag Rechnung zu tragen, der von einer Pluralität in jeglicher Form von Weltanschauung geprägt wird.
Die Datenerhebung erfolgte triangulativ im Rahmen einer sogenannten Lab-in-the-field Forschung (Gneezy & Imas, 2017, S. 440).
Es resultieren drei Datensätze:
der Hauptdatensatz von zwölf teilstandardisierten Leitfadeninterviews mit jeweils drei christlichen und drei muslimischen Studierenden sowie drei Philosophiestudierenden, die ihre eigene Weltanschauung als nichtreligiös einordneten;
Feldnotizen resultierend aus teilnehmender Beobachtung während zwei SR-Sitzungen;
teilstandardisierte Beobachtungsprotokolle resultierend aus passiver Beobachtung der mit Kameras aufgezeichneten Dialoge.
Die Auswertung der Feldnotizen und Beobachtungsbögen fungierte als triangulative Ergebnisüberprüfung (Flick, 2011, S. 41) der aus der Analyse der Interviews resultierenden Chancen und Grenzen der Umsetzung des SR und orientierte sich an der qualitativen Inhaltanalyse nach Mayring (2016).
6 Darstellung und Reflexion zentraler Ergebnisse
Die Analyse der Datensätze zeigt vielschichtige Ergebnisse auf. Im Folgenden sollen die für eine didaktisch sinnvolle Umsetzung des SR im Lehramtsstudium der Katholischen Theologie wegweisenden Aspekte sowie der besondere Mehrwert einer solchen Umsetzung dargestellt und reflektiert werden.
6.1 Die Dialogerfahrung: zur kommunikativen Dynamik des Zusammenspiels von Learning about, from, in/through Religion/Worldview
Die Analyse der Ergebnisse bestätigt Roebbens These, dass gerade das Zusammenspiel der drei Komponenten learning about, from, in/through religion als „Träger der dialogischen oder kommunikativen Dynamik“ (2016b, S. 93) zu charakterisieren ist (Welling, 2020, S. 240–250). Abbildung 2 visualisiert, wie die einzelnen Komponenten während der SR-Dialoge ineinandergreifen, dies soll ferner im weiteren Verlauf anhand von Beispielen verdeutlicht werden. Bedingt durch die Teilnahme von Studierenden mit einer nichtreligiösen Weltanschauung stellt sich an dieser Stelle außerdem die Frage, ob über ein learning about, from, in/through religion hinaus von einem learning about, from, in/through worldview gesprochen werden kann.
Abb. 21. Learning about Religion/Worldview
Auf kognitiver Ebene erwerben die Teilnehmer/innen Wissen über die Religion der Dialogpartner/innen und informieren zugleich über ihre eigene Religion. Zusammengefasst ist festzuhalten:
Den Interviews folgend betrifft der religionskundliche Wissenszuwachs insbesondere Erkenntnisse bezüglich der Parallelen in den Schöpfungserzählungen sowie den Themenkomplex von Christologie und Trinität und die unterschiedlichen Texthermeneutiken (Welling, 2020, S. 175–177).
Die Themenschwerpunkte Christologie und Trinität sowie die Auseinandersetzung mit der Koranhermeneutik bieten Anlass zu teilweise emotional anmutenden kontroversen Diskussionen. Hier zeichnet sich die Herausforderung eines angemessenen Umgangs mit bzw. einer angemessenen Haltung gegenüber unterschiedlichen Wahrheitsansprüchen ab (Welling, 2020, S. 268). Eine muslimische Teilnehmerin geht auf diese Herausforderung ein, wenn sie beschreibt:
„Am meisten ist mir schwergefallen, das nicht subjektiv aufzunehmen, sondern objektiv, und die Personen als einfach nur Interessente aufzunehmen und nicht wirklich als Gegner, die mir da versuchen, irgendetwas zu widerlegen. Und am Anfang war es ein bisschen schwieriger, aber zum Ende hin hat es geklappt, und ich hatte eine kühlere Stellung dazu, weil ich war dann eher nur als Wissende sozusagen [...], und dann ist es mir auf jeden Fall einfacher gefallen.“Hinsichtlich eines möglichen learning about worldview ist festzustellen, dass die Studierenden mit einer religiösen Weltanschauung zwar mit Blick auf den philosophischen Textausschnitt auf die im Dialog thematisierte Annahme einer Existenz Gottes aus religionskritischer Perspektive verweisen, jedoch auf Nachfrage nach neuen Erkenntnissen und wahrgenommenen Gemeinsamkeiten und Unterschieden eher auf inhaltliche Aspekte der jeweiligen Religionen eingehen (Welling, 2020, S. 177–178).
Kritisch angemerkt werden muss an dieser Stelle hinsichtlich des angenommenen Mehrwertes eines interreligiösen Dialoges, dass die interviewten Teilnehmer/innen erlangte inhaltliche Erkenntnisse nur wenig konkret und eher oberflächlich darlegen können (Welling, 2020, S. 175–177). Hierbei fokussieren sie sich auf Inhalte, die während der Dialoge kontrovers diskutiert worden sind (Welling, 2020, S. 268). So verweisen nahezu alle befragten nichtmuslimischen Teilnehmer/innen auf das Spannungsfeld zwischen Evolutionstheorie und Schöpfungstheologie im Angesicht der Koranhermeneutik – wie aus der Aussage einer Philosophiestudierenden hervorgeht:
„Ja, also was mich zum Beispiel sehr verblüfft hat, [...] beim Thema ‚Evolutionstheorie‘ zum Beispiel, wo alle Christen sich einig waren, dass eben die Schöpfungsgeschichte in der Bibel metaphorisch zu verstehen ist, und die [...] ja doch ähnlich ist zum Koran, und obwohl sie halt sehr ähnlich ist, haben die Muslime hingegen gesagt, dass es wortwörtlich zu verstehen ist.“
Indes gehen die nichtchristlichen Studierenden auf die Trinitätstheologie ein – exemplarisch kann folgendes Zitat einer muslimischen Studierenden angeführt werden:
„Davor hatte ich Jesus zum Beispiel ganz anders wahrgenommen. Ich dachte mir: Okay, er wird als Sohn Gottes angesehen. Aber jetzt erkenne ich das: Jesus [...] kann sich auch im Wort Gottes irgendwie zeigen, aber auch als Übermittler, aber auch als Sohn Gottes sozusagen. Dass man halt diese Unterteilung hat. Und das hatte ich ja jetzt nicht. Und deswegen hätte ich ein falsches Bild darüber [...]. Und so versteht man das besser und kann das viel besser nachvollziehen.“
Die triangulative Ergebnisüberprüfung und die damit einhergehende Analyse der Beobachtungsbögen, welche die inhaltlichen Schwerpunkte der Dialoge protokolierten, macht jedoch darauf aufmerksam, dass die Bandbreite der besprochenen Inhalte wesentlich größer war und ausführlicher erfolgte, als es sich aus den Interviews schlussfolgern lässt. So sind neben Trinitätstheorie und Koranhermeneutik vor allem die durch die jeweiligen Schriften vermittelte Vorstellung von Gott und Mensch oder Religion spezifische Aspekte wie die Tradition der Sündenvergebung thematisiert worden (Welling, 2020, S. 220).
Neben dem Hinweis auf die kontrovers diskutierten Themen legen die Befragten in den Interviews einen Schwerpunkt auf den persönlichen und gesellschaftlichen Gewinn (Welling, 2020, S. 178–192; Punkt 2 und 3 dieses Artikels). Die beschriebene Diskrepanz zwischen den erhobenen Daten führt zu der Vermutung, dass religionswissenschaftlicher Wissenszuwachs in der Wahrnehmung der Teilnehmer/innen einen sekundären Stellenwert bezieht. Basierend auf der Annahme, dass ein direktes interreligiöses Lernen ein religionskundliches Lernen niemals ersetzen sollte (Boll, 2017, S. 50), muss sich hinsichtlich einer perspektivischen Umsetzung dialogischer Lernsituationen im Lehramtsstudium der Katholischen Theologie die Frage gestellt werden, wie die kognitive, soziale und persönliche Dimensionen des interreligiösen Lernens in einen fruchtbaren Einklang gebracht werden können, in dessen Rahmen das eine das andere fundiert und somit zu einem nachhaltigen Lernertrag beiträgt.
2. Learning from Religion/Worldview
Ein learning from religion zeigte sich im Erlangen eines vertieften wechselseitigen Verständnisses. Dabei kam Folgendes zum Tragen:
Durch die Versprachlichung unter der Voraussetzung einer sogenannten „linguistic hospitality“ (Ricœur, 2006, S. 23) wird das Geglaubte für den Anderen zumindest als Denkbares erschließbar (Tautz, 2007, S. 348). Hierbei müssen die Teilnehmer/innen zum einen Aspekte der jeweiligen Weltanschauung unter den Voraussetzungen eines Perspektivenwechsels so versprachlichen, dass der Inhalt sich auch aus einer Außenperspektive erschließen lässt (Welling, 2020, S. 180). Dies ordnet eine befragte Theologiestudentin als Herausforderung ein, indem sie erklärt: „Wenn man [...] Sachen erläutert hat, musste man überlegen: Moment mal, verstehen die das denn überhaupt, so wie du das formuliert hast?“ Eine Teilnehmerin beschreibt die so gewonnenen Einblicke als eine „Sichtweise, die nachvollziehbar ist“. Hinsichtlich einer solchen sprachlichen Gastfreundschaft im Dialog erklärt M. Moyaert:
„Fulfilling the task of conveying the meaning of what is said in one language to another, translation ensures that different linguistic communities are not turned in on themselves but may communicate with each other, even though communication will never be perfect and understanding never complete” (2014, S. 144).
Die triangulative Ergebnisüberprüfung basierend auf den Beobachtungsbögen bestätigt das Bestreben der Teilnehmenden
„ihre religiöse oder nicht-religiöse Weltanschauung und Einstellung für die anderen Teilnehmer/innen zugänglich zu machen. Sind inhaltliche Aspekte für die anderen Teilnehmer/innen offensichtlich nicht verständlich, streben sie danach, andere Zugänge oder Erklärungen zu finden, die möglicherweise aus der Außenperspektive besser greifbar sind“ (Welling, 2020, S. 223).
Ferner erfordert der Dialog eine empathische Grundhaltung, unter deren Voraussetzung es eine angemessene Ausdrucksweise zu finden gilt, welche die Verletzlichkeit des Gegenübers berücksichtigt (Welling, 2020, S. 181). So wird die Begegnung laut einer Theologiestudentin davon beeinflusst, dass Glauben „etwas sehr Persönliches, Intimes“ sei, und ein Philosophiestudent weist auf Themenkomplexe hin, „die sehr heikel sind und sehr kontrovers diskutiert werden können“. Daraus resultiert die Angst, etwas Unangemessenes zu sagen, „was vielleicht die anderen verletzen könnte“ (Theologiestudentin) bzw. die „Angst, dem Gegenüber ein bisschen zu nahe zu treten“ (muslimische Studierende).
Der Dialog ermöglicht ferner Einsichten in die „Lebensbedeutung einer gelebten Religion“ (Mendl, 2008, S. 74). Dies setzt – mit der Symbolik des SR ausgedrückt – seitens der „Gastgeber/innen“ die Bereitschaft voraus, die anderen an der persönlichen Weltanschauung teilhaben zu lassen (Welling, 2020, S. 260–263). Zwei Beispiele, die sich den Beobachtungsbögen entnehmen lassen, verdeutlichen dies: Es ging nicht nur darum, ein Verständnis für die Trinitätstheologie des Christentums zu entwickeln, sondern Einblicke zu gewinnen, wie sich etwa die Annahme eines Gottvaters auf die persönliche Gottesvorstellung der/des Einzelnen auswirkt. Außerdem ging es nicht lediglich darum, die Schöpfungserzählungen der Heiligen Schriften kennenzulernen, sondern deren Relevanz für die Lebensführung der/des Einzelnen zu erschließen (Welling, 2020, S. 222). Seitens der „Gäste“ ist neben einem Interesse an Inhalten anderer organisierter Weltanschauungen, die Offenheit, sich der Innenperspektive des Anderen anzunähern, erforderlich. Festzuhalten ist, dass Einblicke in persönliche Weltanschauungen – und damit einhergehend in religiöse Erfahrungen – für den Zuhörer immer Fremderfahrungen bleiben (Welling, 2020, S. 241–244): es bleibt also bei einer begrenztenForm der Teilhabe (Mendl, 2008, S. 74).
Grundsätzlich führen die Befragten den Aufbau von Toleranz und den Abbau von Berührungsängsten auf die Begegnung und das erlangte gegenseitige Verständnis zurück (Welling, 2020, S. 181) – wie etwa folgendes Zitat einer Theologiestudentin deutlich macht:
„Wir haben uns total gut verstanden und ich fand auch jetzt nicht, dass man irgendwie jemanden von oben herab behandelt hat. Das war alles wirklich auf Augenhöhe und man hatte auch keine Angst, vor der Gruppe zu sprechen. Man konnte wirklich frei die Meinung sagen, und das war super, und das habe ich auch vorher nicht gedacht. Ich habe echt gedacht, man muss sich da doch zurückhalten und gucken, was man sagt, aber das war überhaupt nicht.“
Hinsichtlich eines learning from worldview ist interessant, dass die Philosophiestudierenden die Wortwahl ihrer Kommiliton/inn/en in den Interviews offen kritisierten (Welling, 2020, S. 283). Dass die befragten christlichen und muslimischen Studierenden auf eine wahrgenommene Verletzlichkeit der Philosophiestudierenden verweisen, deutet einen Lernprozess an (Welling, 2020, S. 186).
3. Learning in/through Religion/Worldview
Die Ergebnisanalyse zeigt, dass die kommunikative Dynamik des Dialoges ein learning in/through religion auslöst, welches mit Roebben als „erneute Begegnung mit sich selbst“ (2016b, S. 92) beschrieben werden kann. Diesbezüglich zeigt die SR-Studie:
Teilnehmer/innen erkennen als „Gastgeber“ Wissenslücken und Unsicherheiten in der Versprachlichung (Welling, 2020, S. 187–190).
Es resultiert ein Infragestellen der eigenen Position, welches im Zusammenspiel mit der Konfrontation fremder Standpunkte zu einer Neubegründung – im Sinne einer Ausdifferenzierung und Bewusstseinsvertiefung – des religiösen Standpunktes führt. Eine Theologiestudentin erklärt diesbezüglich:
„Dadurch, dass man immer die Meinung der anderen gehört hat, hat man gerade in der Session, in der die Bibelstelle vorgestellt worden ist, immer selber überlegt: Wenn die anderen das jetzt so sehen? Aber warum glaubst du denn? Warum siehst du das nicht wie die anderen? Das war so eine ständige Reflexion, die einem Tage danach so im Kopf hängen geblieben ist.“
Der Moment der Neubegründung des eigenen Standpunktes im Angesicht des Fremden stellt hinsichtlich der (Weiter-)Entwicklung der religiösen Identität im Dialog folglich einen Schlüsselmoment dar (Welling, 2020, S. 191). Es ist somit davon auszugehen, dass der SR-Dialog „als Durchgang durch das Fremde“ im Idealfall die religiöse Urteilsfähigkeit der/des Einzelnen prägt (Meyer & Tautz, 2015, S. 4), dies kann exemplarisch an der Ausführung einer muslimischen Teilnehmerin verdeutlicht werden:
„Also ich habe für mich da, als ich den Kontakt zu den anderen […] aufgebaut habe, und die erklärt haben, wie ihre Sichtweise auf die Dinge ist, da habe ich angefangen, zu gucken, stimmt das, was ich bis jetzt angenommen habe? Das klingt für mich auch nachvollziehbar. Und dann habe ich halt hinterfragt und dann bin ich halt wieder zurück auf meinen Weg sozusagen gekommen, obwohl ich auch neue Eindrücke gesammelt habe.“
Auch die befragten Philosophiestudierenden beschreiben Reflexionsprozesse, die auf eine derartige Ausdifferenzierung des weltanschaulichen Standpunktes schließen lassen (Welling, 2020, S. 191–192), so deutet folgendes Zitat auf ein erfolgtes learning in/through worldview hin:
„Also, da hat sich nichts an meiner Weltanschauung geändert. Im Gegenteil: Ich finde eigentlich schon auch so die Argumente, die da teilweise vorgebracht worden sind, auch von den Muslimen, […] eine sagte dann zum Beispiel, dass allein schon die Tatsache, dass alles so hintereinander perfekt in der Welt zusammenpasst und die ganzen Vorgänge so fließend sind, dass das eigentlich ein Beweis für sie ist, dass es da jemanden geben muss. Also natürlich ist das wissenschaftlich kein Beweis. Das ist halt ihre Überzeugung [...]. Also ich bin nicht von meiner Position abgerückt.“
Dennoch stellt die Philosophiestudentin im weiteren Verlauf des Interviews ihre eigentlich atheistische Position in Frage: „Ich muss […] sagen, ich habe vorher gedacht, ich wäre eine Atheistin, aber da kam ja die Frage auch während des Dialoges auf, ob ich an gar nichts glaube. Vielleicht glaube ich an Schicksal. Ich weiß es ehrlich gesagt auch nicht so richtig.“
6.2 Die Methode: Scriptural Reasoning als Möglichkeit des performativen Lernens
Resultierend aus der Analyse der Datensätze lassen sich Anknüpfungspunkte für eine didaktisch sinnvolle Umsetzung des SR im Lehramtsstudium der Katholischen Theologie erkennen. So machen die Forschungsergebnisse deutlich, dass die Umsetzung des SR Aspekte des didaktischen Prinzips des performativen Lernens impliziert (Mendl, 2018, S. 208–222), welches auf die vom Traditionsabbruch geprägte Ausgangssituation mit der Suche nach einem „veränderten Präsentationsmodus religiöser Ausdrucksformen“ (Mendl, 2018, S. 209) reagiert. Indem hierbei Wissen in Erfahrung überführt wird sowie Deutung von und Teilhabe an Religion ineinandergreifen, wird ein „tieferes Verständnis des eigenen und fremden Handelns“ (Mendl, 2018, S. 208) fundiert. H. Mendl versteht performative Lernsettings als Einladung „zu einem zeitlich begrenzten Erleben echter Handlungsformen aus dem Schatz religiöser Traditionen“, deren tatsächliche Wirkung jedoch didaktisch unverfügbar bleibt (2018, S. 209). Er macht ferner darauf aufmerksam, dass performatives Lernen neben Einsichten in „Räume, in denen sich Religion manifestiert“, sowie in die „erlebbare Außenseite des Glaubens“ auch die Erfahrung der direkten „Begegnung mit Personen, die aus religiöser Überzeugung heraus handeln“ (2018, S. 209), vorsieht. Eine Annahme, die auch S. Leonhard bestätigt: „Die Förderung des Verstehens von Weltzusammenhängen benötigt authentischen Kontakt, d.h. leibliche, räumliche, personale, kulturelle Begegnung und Dialog, Perspektivübernahme und -wechsel!“ (2018, S. 162). Die zuletzt genannten Aspekte, machen deutlich, dass performatives Lernen auch durchaus interreligiös gestaltet werden kann, was wiederum Anknüpfungspunkte für das SR bietet.
Ist das SR somit als performatives Erlebnis zu bewerten (Welling, 2020, S. 256–263), empfiehlt sich für die Umsetzung der Methode – begründet in der Annahme, dass „nur aus dem Zueinander von Erleben und Reflexion eine Erfahrung werden [kann]“ (Mendl, 2018, S. 210) – die Einbettung in ein wie folgt gestaltetes performatives Arrangement (Welling, 2020, S. 297–313).
1. Diskursive Einführung
Ableitend aus den Forschungsergebnissen empfiehlt sich eine Vorbereitung auf das SR auf verschiedenen Ebenen:
Auf Metaebene sollte eine Einführung in Chancen und Herausforderungen interreligiöser Bildung erfolgen. Eine Auseinandersetzung mit den grundlegenden Aspekten des interreligiösen Dialoges kann eine erste theoretische Grundlage bieten, wie Herausforderungen im SR begegnet werden kann.
Auf inhaltlicher Ebene sollten Lehrende ein Orientierungswissen bezüglich der anderen Religionen vermitteln, damit grundlegende Aspekte nicht während des Dialoges geklärt werden müssen und somit die Textfokussierung erleichtert wird.
Auf methodischer Ebene muss eine Einführung in die Methode erfolgen, damit die Teilnehmer/innen Intention, Ablauf und Bedingungen des SR verinnerlichen.
Forschungsbasiert kann festgestellt werden, dass kontroverse Diskussionen keinen direkten Einfluss nehmen müssen auf die positive Atmosphäre während der SR-Sitzungen. Die Voraussetzung positiver Gruppendynamik kommt in diesem Fall dem zugute, was im Zusammenhang mit dem SR als "risky friendship“ (University of Cambridge, Rose Castle Foundation) beschrieben wird. SR-Dialoge schaffen die Grundlage für das Erwachsen einer Freundschaft, die sich nicht ausschließlich durch Verbundenheit in Einigkeit, sondern vor allem durch Verbundenheit in Einzigartigkeit auszeichnet. Es ist – auf Beziehungsebene – deshalb sinnvoll, ein Gefühl der grundsätzlichen Fremdheit abzubauen, indem die Teilnehmer/innen einander unabhängig von und mit Bezug auf ihre Religion kennenlernen.
Beteiligt man auf thematischer Ebene die Gruppe an der Themenauswahl, weiß jeder Einzelne seine elementaren Erfahrungen wertgeschätzt und begreift sie bestenfalls als immanenten Ausgangspunkt für den Lernprozess. Ein Einbezug in die Textauswahl macht auch Sinn, um eine höhere Identifikation mit dem jeweiligen Textausschnitt zu gewährleisten.
2. Performatives Erlebnis
Der performative Charakter des SR offenbart sich in folgenden Erfahrungen der Studierenden:
Teilnehmende haben die Möglichkeit, „sich in Teilsegmenten erlebnisorientiert in den Raum fremder Religionen […] zu begeben“ (Mendl, 2009, S. 34), und dabei den Einfluss der jeweiligen Heiligen Schrift, auf die persönliche Weltanschauung des/der religiös Anderen kennenzulernen (learning about and from religion). Insbesondere im Umgang mit verschiedenen Wahrheitsansprüchen zeigt sich hierbei die Notwendigkeit einer „Hermeneutik des widerständig Fremden“ (Nipkow, 2002, S. 104; Tautz, 2007, S. 365) , welche ein vierfach verzweigtes, wechselseitiges Verständnis impliziert (im Folgenden erklärt mit Nipkow aus christlichen Perspektive in Bezug auf den Islam):
„erstens gilt es, sich selbst als Christ zu verstehen und zwar im neuen Gegenüber zum Islam
zweitens mit dem Interesse, auch vom anderen als Christ verstanden werden zu wollen, und zwar ebenfalls einschließlich der eigenen christlichen Interpretation des Islam,
während gleichzeitig komplementär dasselbe auf der anderen Seite der Andersgläubigen gilt.
Auch die Muslime müssen sich bemühen – dritter Aspekt –, sich selbst als Muslime und ihre Interpretation von uns zu verstehen und sie wollen zugleichviertens als solche von uns verstanden werden mitsamt ihrer Interpretation von uns“ (Nipkow, 2002, S. 113).
Zugleich erleben sie in der schriftbasierten Auseinandersetzung „punktuelle Teilhabe an Erfahrungen der eigenen ‚fremden Religion‘ (Mendl, 2009, S. 34). Es kommt gewissermaßen zu einer Begegnung mit dem widerständig Fremden, dass uns mit M. Tautz „nicht allein in anderen Religionen begegnet, sondern sehr wohl auch in der vermeintlich vertrauten eigenen“, weshalb „eine Hermeneutik des widerständig Fremden immer auch mit einer das unterschiedlich Plurale auch im Bekannten, in der eigenen Religion beachtenden Form einer pluralisierenden Hermeneutik verbunden sein“ muss (2007, S. 365).
Auch wenn „Erscheinungsformen einer institutionalisierten Religion“ (Mendl, 2016, S. 10) den Teilnehmer/innen der SR-Studie bekannt waren, wird im Dialog deutlich, dass die direkte Erfahrung des Informierens und Teilhabenlassens neue Herausforderungen impliziert. So scheint etwa das Thema ‚Trinität’ zwar als Bestandteil der christlichen Religion anerkannt zu werden, die Schwierigkeiten der Theologiestudierenden, dieses kohärent für andere darzulegen, deuten darauf hin, dass sie die konkrete Bedeutung – ggf. auch in der Konsequenz für die persönliche Weltanschauung – noch nicht gänzlich durchdrungen haben (learning in/through religion).
3. Diskursive Reflexion
Für die Umsetzung der Methode im Lehramtsstudium bietet es sich an, die Teilnehmer/innen im Rahmen einer diskursiven Reflexion beim Verarbeiten und Einordnen der gemachten Erfahrung zu unterstützen. Ich schlage hierfür eine Reflexion in religiös/weltanschaulich „homogenen“ Gruppen (also im base camp) vor, damit Teilnehmer/innen neben positiven Eindrücken und Entwicklungen auch das, was widerständig fremd erschien (Tautz, 2007, S. 365; Nipkow, 2002, S.104), reflektieren können, ohne dies zu Gunsten einer formalen Toleranz in den Hintergrund zu rücken. Hierbei können zum Beispiel die Leitlinien einer angemessenen Grundhaltung im interreligiösen Dialog nach C. Cornille (2008) einen Rahmen bieten, um den Dialog etwa entlang des religionspädagogischen Dreischritts Sehen – Urteilen– Handeln zu reflektieren (Brieden & Heger, 2018, S. 5–6). Ausführlich dargelegt werden die Leitlinien in Cornilles Monographie The im-possibility of interreligious Dialogue (2008), deren Titel die komplexe Herausforderung eines interreligiösen Dialoges verdeutlicht. Cornille erklärt:
„Rather than a set of requirements which must be perfectly achieved in order for dialogue to be possible, these conditions for dialogue represent a heuristic device which may help to understand the limits and the possibility of interreligious dialogue. They may offer a basis for understanding why certain dialogues fail, and for recovering the religious resources necessary for constructive dialogue” (2013, S. 30).
Folglich handelt es sich bei den Leitlinien vielmehr um einen Orientierungs- und Reflexionsrahmen.
6.3 Die Perspektive: Scriptural Reasoning im Lehramtsstudium der Katholischen Theologie
In den Vorgaben zur strukturellen und inhaltlichen Gestaltung der Theologiestudiengänge lassen sich durchaus Anknüpfungspunkte finden, die die Umsetzung des interreligiösen und darüber hinaus interweltanschaulichen Dialoges – wie im Rahmen der SR-Studie stattgefunden – rechtfertigen (Welling, 2020, S. 313–322). So fällt mit Blick auf die Kirchlichen Anforderungen an die Religionslehrerbildung (DBK, 2011) zunächst auf, „dass ‚Dialog und Diskurskompetenz’ [...] 20% aller dort formulierten Kompetenzen, und somit einen elementaren Anteil der von den Kirchen für die Religionslehrerausbildung geforderten Fähigkeiten“ (Boehme, 2013, S. 236; vgl. auch DBK, 2011, S. 20–21) umfasst, was den Rückschluss auf Relevanz dialogischer Lernprozesse eindeutig zulässt.
Ferner kann bezüglich der vorgesehenen inhaltlichen Anforderungen an das Theologiestudium forschungsbasiert festgestellt werden, dass in den durchgeführten SR-Dialogen Inhalte der theologischen Disziplinen, welche sich in den vier Fächergruppen der exegetischen, der historischen, der systematischen und der praktischen Fächergruppen zusammenfassen lassen (DBK, 2011, S. 24), ineinandergreifen. Hierbei wird gewissermaßen der bis zum Zeitpunkt des Dialoges erlangte Kenntnisstand angewandt, wie folgende Beispiele veranschaulichen:
In der Arbeit mit dem Textausschnitt der Bibel kommen bisher erlangte Herangehensweisen und Fähigkeiten im Kontext der Bibelarbeit zum Tragen – etwa dann, wenn der Text gedeutet und in den historischen Kontext eingeordnet wird oder wenn auf der Metaebene Einblicke in die biblische Texthermeneutik gewährt werden. Beide zuletzt genannten Punkte fordern und fördern exegetisch-historische Kompetenz (DBK, 2011, S. 21).
Der systematisch-theologische Bereich (DBK, 2011, S. 24–25) ist in den durchgeführten Dialogen insbesondere dann zum Tragen gekommen, wenn Theologiestudierende den Themenkomplex der Trinität und deren Stellenwert und Bedeutung für den christlichen Glauben darlegen. Es ist entsprechend von Forderung und Förderung systematisch-theologischer Argumentations- und Urteilskompetenzauszugehen (DBK, 2011, S. 21).
Bereits erworbenes Wissen aus dem Kontext der praktischen Theologie deutet sich im Dialog dann an, wenn die Teilnehmer/innen nach Wegen suchen, theologische Inhalte für die/den religiös/weltanschaulich Anderen unter dem Vollzug eines Perspektivenwechsels elementarisiert zu versprachlichen (DBK, 2011, S. 25).
Ferner rechtfertigt das Ziel einer religiösen Sprachfähigkeit, die es ermöglicht, „aus der Binnenperspektive über den katholischen Glauben [zu] sprechen und in ein dialogisches Verhältnis zu Andersgläubigen und Nicht-Glaubenden [zu] treten“ (DBK, 2011, S. 17), die Umsetzung interreligiöser/interweltanschaulicher Dialoge im Lehramtsstudium. So kann forschungsbasiert festgehalten werden:
In der Bereitschaft zur sprachlichen Gastfreundschaft (vgl. oben) wird die von Religionslehrer/inne/n erwartete „Fähigkeit zur sprachlichen Elementarisierung“ (Schlappa, 2015, S. 305) erprobt. Sind es im Rahmen der SR-Dialoge Kommiliton/inn/en, für die religiösen Inhalte „übersetzt“ werden müssen (Moyaert, 2014, S. 144; Ricœur, 2006, S. 23), werden es im Religionsunterricht ggf. Schüler/innen sein, die nicht religiös sozialisiert sind oder aber keiner oder einer anderen Religion zugehören.
Indem die Theologiestudierenden den Dialogpartner/inne/n nicht lediglich einen objektiven Einblick in den Inhalt der entsprechenden Bibelstellen geben, sondern zudem die persönliche Bedeutung dieser Inhalte im Horizont ihres Alltags thematisieren (vgl. oben), werden sie selbst dazu angeregt, „sich von den Ansprüchen des Evangeliums befragen zu lassen und dem eigenen, notwendigerweise fragmentarischen Glauben selbstverantwortlich und selbstreflexiv eine eigene Gestalt zu geben“ (Mendl, 2018, S. 269).
In der Konfrontation mit anderen teilweise konträren Ansichten sind die Studierenden im Dialog gefragt, kohärent zu argumentieren und sich begründet zu positionieren. Im Artikulieren von bisher für selbstverständlich gehaltenen Glaubensinhalten stoßen sie durchaus auf Defizite, denen es entsprechend zu begegnen gilt. Es ergibt sich somit die Möglichkeit, sogenannte soft skills einzuüben, die derartige Herausforderungen perspektivisch erleichtern (Bloch, 2018, S. 296).
Eine ausgeprägte religiöse Sprachfähigkeit bezieht also nicht nur für die Umsetzung interreligiöser Kooperationen einen hohen Stellenwert, sondern fundiert auch im konfessionellen Religionsunterricht die Fähigkeit der Lehrerin/des Lehrers, Schüler/innen zur produktiven Auseinandersetzung mit religiösen Inhalten anzuregen und sie schließlich dazu zu motivieren, religiös (mit) zu sprechen und ggf. eine eigene religiöse Identität auszubilden (Schlappa, 2015, S. 380; Schwarz-Boenneke, 2018, S. 156). Mit Blick auf das Lehramtsstudium sind die Chancen interweltanschaulicher Interaktionen folglich eindeutig auch unabhängig von interreligiösen Kooperationen im schulischen Kontext gefragt.
7 Fazit
Abschließend sind folgende grundlegende Aspekte im Hinblick auf die Umsetzung des SR zu resümieren:
Die Entscheidung für den Dialog und die resultierende Auseinandersetzung erfordert eine mutige Entscheidung gegen die eigene Komfortzone, in der die eigene Position häufig unhinterfragt bleibt, und für das Kennenlernen anderer Weltanschauungen, in deren Horizont es ein begründetes Urteil zu bilden gilt (Welling, 2020, S. 323–324).
Die Umsetzung des SR im Rahmen des Lehramtsstudiums kann einen Erprobungsraum bieten, in dem organisierte und persönliche Weltanschauungen Raum finden. Hierbei wird die Kontroverse aus Respekt vor einer vermeintlichen „political correctness“ nicht gescheut, sondern vielmehr eine Sensibilität für die tatsächliche Verletzlichkeit des Anderen angebahnt (Welling, 2020, S. 327–328). Ein Erproben „sprachlicher Elementarisierung“ (Schlappa, 2015, S. 305) zeigt zugleich, ob die religiöse Sprachfähigkeit der Studierenden einer Weiterentwicklung bedarf (Welling, 2020, S. 328). Das SR erweist sich somit als integrales Konzept, in dessen Rahmen Studierende gefordert sind, Theorie und Praxis miteinander zu verbinden, ohne dass dabei die konsekutive Struktur der gesamten Lehramtsbildung aufgebrochen werden muss (Riegger & Heil, 2017, S. 65).
Richtet sich die Methode ursprünglich an Teilnehmer/innen der abrahamitischen Religionen, hat die SR-Studie dennoch einen Mehrwert für Personen mit einer nichtreligiösen Weltanschauung aufgezeigt: Neben einem Wissenszuwachs erfolgt ein Vertiefen des Bewusstseins „über den Standort […] ihrer eigenen […] Weltanschauung“ (Broehme & Brodhäcker, 2015, S. 144), sowie der entsprechende Gewinn hinsichtlich der genannten sozialen Aspekte (Welling, 2020, S. 247–250). Dennoch
[…] ist deutlich geworden, dass sich die Theorien zum interreligiösen Lernen/Dialog nur mit Einschränkungen auf ein ‚interweltanschauliches’ Lernsetting anwenden lassen, ohne dabei die elementaren Unterschiede zwischen religiösen und nichtreligiösen Weltanschauungen zu relativieren oder Teilnehmer/innen mit einer nichtreligiösen Weltanschauung zu vereinnahmen. So wie der von vielen zu Recht geforderte Einbezug von Personen mit einer nichtreligiösen Weltanschauung in den Dialog nicht lediglich damit getan ist, diese Personen zwischen Teilnehmer/innen mit einer religiösen Weltanschauung in einen Dialog „zu setzen“, ist es nicht ausreichend, die Kriterien interreligiösen Lernens ohne Einschränkungen auf einen solchen Dialog anzuwenden. Für eine perspektivische Umsetzung derartiger Dialoge etwa in der Lehramtsausbildung der Katholischen Theologie, wie in dieser Arbeit fokussiert, aber auch in anderen Kontexten, ist eine weiterführende Auseinandersetzung und theoretische Reflexion derartiger Lernsettings unbedingt erforderlich (Welling, 2020, S. 292).Trotz des aufgezeigten Potentials bedarf es einer realistischen Haltung gegenüber folgenden Aspekten: Die Umsetzung des SR erfordert einen hohen organisatorischen Aufwand. Realistisch erscheint eine punktuelle Ermöglichung derartiger Erfahrungen, zudem sollten Studierende jedoch auf außeruniversitäre Angebote aufmerksam gemacht werden, die im Falle einer Teilnahme für das Theologiestudium anrechenbar sind (Welling, 2020, S. 327).
Hinsichtlich des Einsatzes von Methoden zum interreligiösen Lernen im Lehramtsstudium zeigt sich Forschungsbedarf. Empirische Forschungsergebnisse können Orientierung für Planung und Umsetzung bieten und somit Unsicherheiten und Hemmungen seitens der Planenden abbauen. Aufgrund des individuellen Charakters praktischer interreligiöser Dialoge, ist das SR jedoch schlussendlich ein „learning by doing“ (Welling, 2020, S. 330).
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Ziebertz, H. (1993). Religious Pluralism and Religious Education. Journal of Empirical Theology, 6(2), S. 82–99.
Dr. Katharina Welling ist Lehrbeauftragte am Seminar für Religionspädagogik, religiöse Erwachsenenbildung und Homiletik der Universität Bonn.
Im Rahmen dieses Artikels ist es nicht möglich, ‚Identität‘ aus den Perspektiven aller relevanten Disziplinen zu reflektieren. Religiöse Identität wird im Folgenden entsprechend der Ausführungen S. Altmeyers verstanden: Hat Identität mit dem Ausbalancieren der Außen- und Innenperspektive zu tun, spezifiziert sich dieses Bestreben mit Blick auf religiöse Identität, wenn religiöse Aspekte und die resultierenden Lebensformen in den Fokus von Selbst- und Fremdwahrnehmung rücken. Altmeyer dazu:
„In der subjektiven, nach innen gerichteten Perspektive wäre dann von Religiosität zu sprechen (Ich bin religiös im individuellen Sinn), in der objektiven, nach außen gerichteten Perspektive von Religion (Ich bin religiös im soziokulturellen Sinne), wobei beide Perspektiven untrennbar miteinander verwoben sind“ (2016, S. 6).
Religiöse Identität impliziert folglich eine (religiöse) Lebensform, in der sich Bezüge zu individueller Religiosität und sozial-kulturell kodierter Religion im Rahmen verschiedener Identifizierungspraktiken zeigen (2016, S. 7).