1 Die Fragestellung
Der Bibliolog sieht sich in einer großen Nähe zur Kinder- und Jugendtheologie (besonders pointiert: Krasemann, 2017, S. 139.143.145–146). Diese Nähe betrifft nach Pohl-Patalong folgende Aspekte:
Beide betrachten Kinder und Jugendliche als „Subjekte der Auslegung“ (Pohl-Patalong, 2016, Kap. 3) biblischer Texte. Dies entspreche einer Umsetzung des „Priestertums der Gläubigen“ (Pohl-Patalong, 2016, Kap. 4.2; 2011, S. 29; vgl. Roose, 2017, S. 475–477).
Die „Erfahrungen der Subjekte“ werden „als produktiv für die Deutung des biblischen Textes erachtet“ (Pohl-Patalong, 2016, Kap. 4.1; vgl. Büttner & Schreiner, 2004, S. 8).
Beide weisen der Lehrkraft (u.a.) „eine moderierende und mäeutische Rolle“ zu (Pohl-Patalong, 2016, Kap. 3.; vgl. Freudenberger-Lötz, 2007, S. 41–52).
Ähnlich sind sich Bibliolog und „kindertheologische Bibeldidaktik“ (Büttner & Schreiner, 2006, S. 7) zudem darin (ohne dass Pohl-Patalong explizit darauf hinweist), dass sie an der Endgestalt biblischer Texte anknüpfen (Pohl-Patalong, 2016, Kap. 4.1; Büttner & Schreiner, 2004, S. 9–10) und rezeptionsästhetische Perspektiven aufwerten (Pohl-Patalong, 2016, Kap. 4.1; Büttner & Schreiner, 2004, S. 10–12). Der Text gilt beiden als offen und mehrdeutig (Pohl-Patalong, 2016, Kap. 4.1; 2013, S. 82; Büttner & Schreiner, 2004, S. 10–12), sodass es nicht darum gehen kann, „das ‚richtige‘ Verständnis des Textes zu gewinnen, sondern unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten zu eröffnen, deren Spektrum einen vertieften Zugang zum Text eröffnet“ (Pohl-Patalong, 2016, Kap. 4.1; Büttner & Schreiner, 2004, S. 10–12).
Die genannten Gemeinsamkeiten verdecken allerdings wesentliche Differenzen zwischen Bibliolog und kindertheologischer Bibeldidaktik. Diese Differenzen gründen – so die These dieses Beitrags – in der Hermeneutik. Sie ziehen entscheidende didaktische und methodische Konsequenzen nach sich. Der Beitrag entfaltet die These argumentativ und stellt abschließend das in der Erprobung befindliche „biblische Gespräch“ (Roose, 2020) als eine Weiterentwicklung von Bibliolog und kindertheologischer Bibeldidaktik vor, das Überlegungen aus dem Vergleich beider aufnimmt.
2 Die Unterscheidung zwischen Bestimmtem und Unbestimmtem als Fundament des Bibliologs
Die Unterscheidung zwischen Bestimmtem und Unbestimmtem ist für den Bibliolog in hermeneutischer, didaktischer und methodischer Hinsicht konstitutiv.
In hermeneutischer Hinsicht beruft sich der Bibliolog auf das Modell von Wolfgang Iser (Pohl-Patalong, 2016, Kap. 4.1; Iser, 1994). Literarische – und (damit) auch biblische – Texte weisen „Leerstellen“ auf. Diese Leerstellen sind das Unbestimmte, der gedruckte Wortlaut das Bestimmte in Texten. Lesen und Interpretieren vollziehen sich nun so, dass sich die Rezipierenden mit ihren Erfahrungen in die Leerstellen „hineinlesen“ und dabei vom Wortlaut des Textes begrenzt werden (Pohl-Patalong, 2013, S. 82). Auf diese Weise entfaltet der Text seine Wirkung im „Akt des Lesens“.
Die Unterscheidung zwischen Bestimmtem und Unbestimmtem bindet der Bibliolog zurück an das „schwarze“ und „weiße Feuer“ im Kontext jüdischer Hermeneutik. Das „schwarze Feuer“ entspricht dem gedruckten Wortlaut des Textes, das „weiße Feuer“ dem, was „zwischen den Zeilen“ offen bleibt, also – mit Iser – den Leerstellen. Der Bibliolog zeichnet sich dadurch aus, dass er „sich eng an das ‚schwarze Feuer‘ des Textes hält, ihm in seinem Handlungsverlauf folgt und nur Fragen stellt, die der Text tatsächlich offen lässt“ (Pohl-Patalong, 2016, Kap. 4.1).
In didaktischer Hinsicht führt diese klare Unterscheidung zwischen Bestimmtem und Unbestimmtem zu einer ebenso klaren Rollenverteilung im Bibliolog: Die Teilnehmenden sind für das je individuelle, erfahrungsbezogene „Füllen“ der Leerstellen zuständig. Die Subjektorientierung bezieht sich im Bibliolog auf die Erfahrungen der Schüler(innen) bzw. der Teilnehmenden, mit denen sie sich in die „Leerstellen“ des Textes hineinlesen. Sie sind also nur in Bezug auf das „weiße Feuer“ „Subjekte der Auslegung“. Die Leitung beschränkt sich auf die Rolle der Moderatorin („facilitator“) und der Leitung („director“) (Pohl-Patalong, 2011, S. 31). Sie versucht, durch unterstützendes und wertschätzendes „Echoing“ (Pohl-Patalong, 2016, Kap. 3; Kap. 4.2) Beiträge im Sinne eines mäeutischen Verfahrens „hervorzulocken“. Sie macht einige Leerstellen des Textes für die Teilnehmenden sichtbar und lädt sie dazu ein, diese individuell zu füllen. Die Auswahl der zu füllenden Leerstellen richtet sich nach „theologischer Relevanz“ (Pohl-Patalong, 2011, S. 30) und nach der jeweiligen Gruppe und Situation (ebd.). Bei der Suche nach Leerstellen sind der Leitung klare Grenzen gesetzt:
„Das Eröffnen der vorhandenen Deutungsspielräume des Textes (als ‚Schüren des weißen Feuers‘), ohne die durch das ‚schwarze Feuer‘ gesetzten Grenzen zu überschreiten, ist von allen, die Bibliologe anleiten, als zentrale Kompetenz gefordert.“ (Pohl-Patalong, 2016, Kap. 4.2).
Damit gibt es ein klares Gefälle zwischen Leitung und Teilnehmenden: Die Leitung fungiert als Sachwalterin des gedruckten biblischen Textes, des „schwarzen Feuers“. Sie kontrolliert die Einhaltung der „Grenzen“, die das „schwarze Feuer“ vorgibt. Die Teilnehmenden dürfen sich innerhalb dieser „Grenzen“ frei bewegen, sie sind aber nicht zuständig (und auch nicht kompetent?) für das „schwarze Feuer“.
In methodischer Hinsicht ermöglicht die klare Unterscheidung zwischen Bestimmtem und Unbestimmtem eine scharf umrissene Balance zwischen Steuerung und Freiheit, zwischen Vorgegebenem und Freigegebenem: Die Lehrkraft steuert auf der Grundlage des vorgegebenen biblischen Textes. Sie entfaltet den Text hinsichtlich seines historischen Kontextes und seiner vorgegebenen Leerstellen. Sie liest als „Exegetin“ aus dem Text heraus, was – eindeutig und falsifizierbar – in ihm steckt. Die Teilnehmenden lesen sich als „Eiseget(inn)en“ in die vorgegebenen Leerstellen hinein. Sofern sie sich dabei an die gesetzten Grenzen des „schwarzen Feuers“ halten, gibt es hier kein „richtig“ und „falsch“. Jeder Beitrag, der diese Grenzen respektiert, führt zu einer angemessenen Interpretation:
„Die Fragen sind so gestellt, dass jede Antwort richtig ist und zu einem tieferen Verständnis des Textes beiträgt.“ (Pohl-Patalong, 2016, Kap. 3; 2005, S. 13)
Diese konsequente Unterscheidung zwischen Bestimmtem und Unbestimmtem auf hermeneutischer, didaktischer und methodischer Ebene macht den Bibliolog attraktiv. Studierende haben oft das Gefühl, der Bibliolog sei auch für sie als wenig erfahrene (angehende) Lehrkräfte gut handhabbar. Da der Wortlaut des biblischen Textes sich nicht ändert und die individuellen Beiträge der Schüler(innen) am Fortgang des Bibliologs nichts ändern (und auch nicht untereinander ins Gespräch gebracht, sondern „nur“ gespiegelt werden müssen)[1], erscheint der Bibliolog gut planbar und wenig anfällig für Unvorhergesehenes. Demgegenüber betont Pohl-Patalong:
„Der Ansatz ist sehr viel komplexer als er sich zunächst darstellt und führt häufig sowohl in methodische Schwierigkeiten als gelegentlich auch in menschlich nicht einfache Situationen, auf die weder Lektüre noch Erfahrungen mit anderen Ansätzen hinreichend vorbereiten.“ (Pohl-Patalong, 2016, Kap. 1)
3 Dekonstruktivistische Anfragen: Die Unterscheidung zwischen Bestimmtem und Unbestimmtem als Produkt der Interpretation
Stanley Fish hat das Modell von Wolfgang Iser grundlegend in Frage gestellt. Er vertritt die These, dass die Unterscheidung zwischen Bestimmtem und Unbestimmtem bereits ein Produkt der Interpretation sei:
„In the end it [Iser’s theory] falls apart because the distinction on which it finally depends – the distinction between the determinate and the indeterminate – will not hold. […] The distinction itself is an assumption which, when it informs an act of literary description, will produce the phenomena it purports to describe.” (Fish, 1981, S. 6–7)
Der naheliegende Einwand, dass zumindest die Buchstaben ja nun einmal einfach „da” seien (Iser, 1980, S. 62–64), überzeugt Fish nicht. Denn schon unsere Wahrnehmung dieser Buchstaben sei durch Deutungen geformt. Es gibt – so Fish – keinen Standpunkt eines Lesers außerhalb oder „vor“ der Interpretation.[2] Fish dekonstruiert Isers Theorie, indem er u.a. darauf hinweist, dass sich die Grenze zwischen gegebenem Bestimmtem und zu interpretierendem Unbestimmtem innerhalb der Erläuterungen von Iser zur Verteidigung seines Modells verschiebt: Einmal verläuft sie zwischen der „realen“ Welt (dem gegebenem Bestimmtem) und der (fiktionalen) Literatur (dem zu interpretierenden Unbestimmten). Dann verläuft sie innerhalb der (fiktionalen) Literatur zwischen dem vorgegebenen Wortlaut und den zu interpretierenden Leerstellen. (Fish, 1981, S. 10) Fish schließt daraus:
„Rather than being different objects of interpretation the world and the world of the text are different interpreted – that is, made – objects.” (Fish, 1981, S. 11)
Wird dann alles Unbestimmt und damit beliebig? Fish sagt, dass – in einer bestimmten Lesart – das Gegenteil der Fall sei. Da wir keinen „objektiven“ Standpunkt einnehmen können, ist unsere Wahrnehmung immer schon geformt. Wir können Bedeutungen nicht willkürlich zuweisen:
„It is only if it were possible to perceive independently of assumptions, of interpretive categories, that irresponsible or arbitrary perception would be a danger.” (Fish, 1981, S. 11)
Man könnte die Welt – nach Fish – ebenso gut dahingehend interpretieren, dass alles bestimmt sei.
„There is no subjectivist element of reading because the observer is never individual in the sense of unique or private, but is always the product of categories of understanding that are his by virtue of membership in a community of interpretation. It follows then that what that experience in turn produces is not open or free, but determinate, constrained by the possibilities that are built into a conventional system of intelligibility.” (Fish, 1981, S. 11)
Es gibt keinen Text, der einfach da ist und auf einen Leser wartet, um ihn zu „führen“, und keine Leserin, die „frei” in ihrer Interpretation dieses vorgegebenen Textes wäre.
4 Das „schwarze“ und das „weiße Feuer“ als Produkt der Interpretation
Blicken wir von hier aus auf die Unterscheidung zwischen „schwarzem“ und „weißem Feuer“, zeigt sich ein ähnliches Phänomen. Das Bild ist v.a. in der jüdischen Kabbala beheimatet. Mir geht es in diesem Zusammenhang nicht um die Frage, ob sich Bibliodrama und Bibliolog „zu Recht“ auf jüdische Rede vom „schwarzen“ und „weißen Feuer“ beziehen.[3] Mich interessiert vielmehr, wie Vertreter(innen) von Bibliodrama und Bibliolog diese Rede vom „schwarzen“ und „weißen Feuer“ rezipieren.
Als erster zog Peter Pitzele das Bild Mitte der 1980er Jahre als hermeneutische Grundlage für das Bibliodrama heran (Pitzele, 1998, S. 23–28). Von hier aus erhielten das „schwarze“ und das „weiße Feuer“ Einzug in das deutsch-sprachige Bibliodrama (Schramm, 2000) und in den Bibliolog (Pohl-Patalong, 2016, Kap. 1.). Für unseren Zusammenhang ist interessant, dass sich innerhalb dieser Rezeptionen die Grenze zwischen „schwarzem“ und „weißem Feuer“ wiederum verschiebt.
Wir haben gesehen, dass bei Pohl-Patalong (2016, Kap. 2.) das „schwarze Feuer“ dem gedruckten Wortlaut des Textes entspricht, das „weiße Feuer“ dem, was „zwischen den Zeilen“ offen bleibt. Pitzele beschreibt das „schwarze“ und das „weiße Feuer“ folgendermaßen:
„Das schwarze Feuer sind die geschriebenen Worte, d.h. die schwarze Tinte der Buchstaben, die wir alle lesen und sehen können. Obwohl geschriebene Worte, wie alle Worte, leicht entgleiten und vieles bedeuten können, stehen die Worte vor uns wie Tatsachen; sie sind im kanonisierten Text fixiert. Sie können analysiert, in Wörterbüchern nachgeschaut, in ihrem Kontext verstanden werden, und sie sind nicht veränderbar. Das weiße Feuer ist der Raum zwischen den Worten auf der Seite oder Schriftrolle, der Raum um die Worte herum, ja sogar der Raum zwischen den Buchstaben … Der Impuls zu illustrieren, zu erläutern und die Vorstellungskraft spielen zu lassen, fand stattdessen mit Worten statt, zunächst durch einen mündlichen Kommentar zur Bibel, der allmählich verschriftlicht wurde und sich zu einem Korpus heiligen Materials formierte, das wir Midrasch nennen.“ (Pitzele, 1999, S. 51–52)
In diesem Zitat finden sich mehrfache Verschiebungen: Zunächst deckt sich die Unterscheidung mit derjenigen bei Pohl-Patalong: Die schwarzen Buchstaben entsprechen dem „schwarzen Feuer“, das „weiße Feuer“ entspricht einem „Raum“, den es durch die „Vorstellungskraft“ zu füllen gilt. Allerdings wird dieses „weiße Feuer“ später ebenfalls verschriftlicht – also zum „schwarzen Feuer“? Das dann wiederum „Räume“ öffnet? Eine weitere Verschiebung – auch gegenüber dem Verständnis von Pohl-Patalong – deutet sich in der genaueren Charakterisierung des „schwarzen Feuers“ durch Pitzele an. Es ist einerseits – so wie bei Pohl-Patalong – „im kanonisierten Text fixiert“ und damit „nicht veränderbar“. Worte stehen „wie Tatsachen“ (Iser würde sagen: wie Vor-Gegebenes, Bestimmtes) vor uns. Deutlicher aber als Pohl-Patalong weist Pitzele darauf hin, dass auch das „schwarze Feuer“ der Deutung unterliegt: Worte können „leicht entgleiten“, sie können „vieles bedeuten“. Worte können aber auch „analysiert, in Wörterbüchern nachgeschaut, in ihrem Kontext verstanden werden“. Bei dieser Deutung des „schwarzen Feuers“ geht es also – anders als beim „weißen Feuer“ – nicht um individuelle Vorstellungen. Das „und“, das auf die zitierte Wendung folgt („und sie sind nicht veränderbar“), deutet darauf hin, dass Deutung im Kontext des „schwarzen Feuers“ für Pitzele eher Vereindeutigung meint. Die Analyse der Wörter und ihre historische Einbettung arbeiten dem „Entgleisen“ und der Vieldeutigkeit der Wörter entgegen. In der Perspektive von Fish bringt Pitzele bei der Deutung des „schwarzen Feuers“ intersubjektive, konventionalisierte Bedeutungen in Anschlag, während er beim „weißen Feuer“ (vermeintlich) individuelle, freie Vorstellungskräfte am Werk sieht.
Tim Schramm bestimmt zunächst – mit Pitzele – die Buchstaben der Tora als „schwarzes Feuer“, dem „weißen Feuer“ entsprechen die Unterlage, die Zwischenräume etc. sowie der Midrasch. Anschließend bringt er ein überraschendes Zitat von Rabbi Isaak (Anfang 14. Jahrhundert):
„,Die Gestalt der schriftlichen Thora hat die Farben des weißen Feuers, die Form der mündlichen Thora aber hat die Farben des schwarzen Feuers.‘“ (zit. nach Schramm, 2000, S. 233)
Schramm kommentiert dieses rabbinische Zitat folgendermaßen:
„Die eigentlich schriftliche Thora besteht, so ist mit Sholem zu verstehen, aus dem weißen Untergrund, der die schwarzen Buchstaben umschließt, von denen paradoxerweise gesagt wird, sie hätte die Gestalt der mündlichen Tora. So oder so, Feuer auf jeden Fall, schriftlich und mündlich, – lass uns den (später schriftlich fixierten) Midrasch und das jüdische wie christliche Bibliodrama als seine aktuelle Ausprägung mit dem ‚weißen Feuer‘ assoziieren.“ (Schramm, 2000, S. 233)
Schramm dekonstruiert durch das Zitat die Unterscheidung, an die Pitzele anschließt – und arbeitet dennoch mit ihr weiter. Anders als Pohl-Patalong rechnet Schramm Bibliodrama und Bibliolog insgesamt dem weißen Feuer zu. Das „so oder so“ meint wohl weniger eine Aufhebung der Unterscheidung zwischen „schwarz“ und „weiß“ als vielmehr die Markierung, dass es sich dabei – ganz im Sinne von Fish – nicht um eine „ontologische“, vorgegebene Unterscheidung handelt, sondern um ein Produkt der Interpretation.
Wenn wir von dieser hermeneutischen These ausgehen, können wir immer auch andere Interpretationen und Unterscheidungen zwischen Bestimmtem und Unbestimmtem vornehmen und dann nachzeichnen, was sich in didaktischer und methodischer Hinsicht jeweils zeigt und verschiebt. Ich frage daher im nächsten Schritt danach, was sich im Bibliolog verändert, wenn wir ihn einer dekonstruktivistischen Kritik im Anschluss an Fish unterziehen; einer Kritik, bei der die vorgegebene Unterscheidung zwischen Bestimmtem und Unbestimmtem in Bewegung gerät.
5 Der Bibliolog in dekonstruktivistischer Lesart
In didaktischer Hinsicht verwischt bei einer dekonstruktivistischen Lesart die klare Rollenverteilung, die der Bibliolog einerseits der Leitung, andererseits den Teilnehmenden zuweist. Die Leitung entpuppt sich immer auch als „Eisegetin“: Die Benennung von Leerstellen zeigt sich nun als ein Akt der Interpretation, als ein „Hineinlesen“. Die Leitung eines Bibliologs bewacht dann nicht einfach Gegebenes, sondern beansprucht implizit die alleinige Deutungshoheit über das (vermeintlich) Gegebene. Als problematisch erweist sich in einer dekonstruktivistisch inspirierten Perspektive, dass der Interpretationsakt, den die Leitung vornimmt, nicht als solcher kenntlich wird und daher vermeintlich auch keiner Begründung bedarf und keine legitime Alternative kennt. Die Frage, wo die Teilnehmenden Leerstellen sehen, ist nicht vorgesehen.
Die Teilnehmenden erweisen sich in einer dekonstruktivistisch inspirierten Perspektive immer auch als „Exeget(inn)en“. Sie bringen nicht nur ihre eigenen Erfahrungen ein, sondern nehmen den Text auch in seinem „schwarzen Feuer“ wahr. Eine methodische Schulung der genauen Textwahrnehmung ist im Bibliolog für die Teilnehmenden jedoch nicht vorgesehen. Diese Aufgabe wird allein an die Leitung delegiert. Insofern werden die Teilnehmenden zu „verhinderten Exeget(inn)en“.
In methodischer Hinsicht gerät die scharf umrissene Balance zwischen Steuerung und Freiheit, zwischen Allgemeinem (dem Text) und Individuellem (den Erfahrungen), wie sie der Bibliolog anstrebt, ins Wanken. Im gemeinsamen Deutungsprozess des biblischen Textes brechen nun offene Geltungsfragen auf, die sich diskursiv anhand genauer Textwahrnehmung diskutieren lassen. Rückblickend wird deutlich: Der Bibliolog „umschifft“ das Aufbrechen von Geltungsfragen, indem er einerseits die Deutungshoheit ausschließlich in die Hände der Leitung legt und andererseits die Deutungen der Teilnehmenden als Ausdruck individueller Erfahrungen rahmt, die nebeneinander stehen bleiben und denen von vornherein – qua Art der Frage, die die Leitung stellt (s.o.) – Textangemessenheit zugeschrieben wird, ohne jedoch für die weitere Interpretation relevant zu sein.
Die Attraktivität des Bibliologs könnte sich zu einem wesentlichen Teil diesem Einhegen offener Geltungsfragen verdanken, das nach den empirischen Untersuchungen von Wenzl durchgängig im Alltagsunterricht zu beobachten ist (Wenzl, 2014, S. 113). Dafür spricht, dass sich die idealtypischen Strategien zum Einhegen offener Geltungsfragen im schulischen Unterricht, die Wenzl rekonstruiert, gut mit den Leitungsfunktionen des Bibliologs zur Deckung bringen lassen. Wenzl rekonstruiert insgesamt drei Idealtypen, die beschreiben, wie Lehrkräfte die Erörterung offener Geltungsfragen systematisch umgehen. Der erste Typus gibt die Deutungshoheit nicht aus der Hand, der zweite Typus sammelt unterschiedslos Schülermeinungen, ohne Widersprüche zu thematisieren oder sich selbst einzubringen, der dritte Typus trägt manifest eine Offenheit für Geltungsfragen zur Schau, markiert diese jedoch latent als Störungen. Die beiden ersten dieser Idealtypen erinnern stark an die Rollenzuweisung der Leitung im biblischen Dialog, die einerseits die Deutungshoheit über das „schwarze Feuer“ nicht aus der Hand gibt und die andererseits alle Beiträge von Teilnehmenden gelten lässt, ohne sie in einen gemeinsamen Deutungsprozess einzubringen.
6 Kindertheologische Bibeldidaktik
Kindertheologische Bibeldidaktik nimmt in ihrer hermeneutischen Grundlegung – anders als der Bibliolog – explizit dekonstruktivistische Überlegungen auf. Kinder werden nun auch selbst zu „Exegeten“ (Bucher, Büttner, Freudenberger-Lötz & Schreiner, 2003). Ihre Tätigkeit geht in doppelter Hinsicht über die Rolle, die der Bibliolog ihnen zuschreibt, hinaus: Einerseits greifen die Schüler(innen) beim Interpretieren nicht nur auf ihre Erfahrungen zurück, sondern auch auf ihre (experimentellen) Laien-Theologien. Andererseits. bezieht sich ihre Interpretationsleistung nicht mehr nur auf das „weiße Feuer“, also auf das Füllen von (als solche interpretierten) Leerstellen, sondern auch auf das „schwarze Feuer“.
Die Schüler(innen) werden damit in sehr viel umfassenderer Weise zu „Subjekten der Auslegung“ als dies im Bibliolog der Fall ist. Der „Perspektivwechsel zum Kind“ (Synode, 1995, S. 50), wird konstruktivistisch unterfüttert und in der Dimension der Theologie (nicht nur der Erfahrungen) von Kindern und Jugendlichen mit einer gewissen Emphase stark gemacht. „Damit wird eine bildungstheoretische Perspektive eingenommen, die die Selbsttätigkeit des Subjekts betont.“ (Scheunpflug, 2012, S. 113) Im Hintergrund steht ein modernitätstheoretisches Konzept von Bildung, das sich über Begriffe wie „Selbstbewusstsein“ und „Autonomie“ konstituiert (Lüders, 2007, S. 28).
In der Perspektive von Fish droht die kindertheologische Bibeldidaktik über ihren starken Subjektbegriff allerdings gleichsam auf der anderen Seite vom Pferd zu fallen: Während der Bibliolog (irrigerweise) suggeriert, dass es einen Text gibt, der einfach da ist und auf einen Leser wartet, um ihn zu „führen“, suggeriert die kindertheologische Bibeldidaktik (irrigerweise), dass es eine Leserin gibt, die „frei” in ihrer Interpretation dieses vorgegebenen Textes wäre. Sie droht – nach Fish – dem Missverständnis zu erliegen, dass die Kinder und Jugendlichen in der individuellen Formulierung und Deutung ihrer Erfahrungen und Theologien „open or free“ seien.
Was beim Bibliolog für das Füllen der Leerstellen gilt – dass es individuell und ohne Auswirkung auf den Fortgang des Bibliologs erfolgt – droht im Rahmen einer stark subjektorientierten bibeltheologischen Didaktik für die Auseinandersetzung mit dem Text insgesamt: Je stärker die „objektive“ Widerständigkeit des Textes (die der Bibliolog über die Leitung inszeniert) zugunsten einer emphatischen, individuellen Subjektorientierung abgeblendet wird, desto schwieriger wird es, eine kritische, diskursive Auseinandersetzung über konkurrierende Deutungen zum biblischen Text zu führen:
„In Lehr-Lern-Prozessen nehmen, sofern sie kindertheologisch orientiert sind […], vor allem die Wahrnehmung und Darstellung von ‚Theologie der Kinder‘, zum Teil auch deren Interpretation viel Raum und Zeit in Anspruch; darüber hinaus gehende entwicklungsfördernde Angebote und kritische Auseinandersetzungen mit problematischen (etwa Angst einflößenden oder keine Relativierung ihrer selbst zulassenden) Gestalten von Kindertheologie sind de facto rar.“ (Schröder, 2012, S. 246)
7. Subjekttheoretische Anfragen: Die Vorgängigkeit der Sprache oder des Diskurses
Michael Meyer-Blanck bringt demgegenüber einen semiotischen Theoriehintergrund (und damit einen schwächeren Subjektbegriff) für die Jugendtheologie in Anschlag. Er betont,
„dass wir unsere Sprachen nicht nur sprechen, sondern dass wir auch von unserer Sprache gesprochen werden. […] Das Evangelium gilt nicht zeitlos und ortlos, aber es ist auch nicht auf einzelne Subjekte, Gesprächssituationen und Klassenräume beschränkt. Das individuelle Evidenzerleben ist ja gerade von der Gestalt, dass es sich immer zugleich auf die anderen bezieht.“ (Meyer-Blanck, 2013, S. 28)
Über diese Argumentationslinie macht Meyer-Blanck die Dimensionen einer „Theologie für“ und einer „Theologie mit“ gegenüber einer individuellen „Theologie von“ stark. In einer radikaleren, diskurstheoretischen Lesart geht es bei der Vorgängigkeit der Sprache um „die strikte Absage an jede theoretische Konzeption, die dem Subjekt die Fähigkeit zuschreibt, als selbstbewusste und vorgängige Instanz Diskurse zu begründen und zu kontrollieren“ (Lüders, 2007, S. 78). Die Modellierung rückt damit in die Richtung des Pols (nach Fish), an dem
“there is no subjectivist element of reading because the observer is never individual in the sense of unique or private, but is always the product of categories of understanding that are his by virtue of membership in a community of interpretation” (Fish, 1981, S. 11).
Bibeldidaktisch gewendet heißt das: Kinder und Jugendliche gehen nie „unbeleckt“ an biblische Texte heran, auch wenn sie kaum biblische Erzählungen kennen. Sie sind gefangen in ihren alters- und milieubedingten Vorverständnissen. Es geht deshalb nicht nur darum, Kinder und Jugendliche zu eigenständigen Deutungen zu ermutigen, sondern auch darum, ihnen ihre je eigene Gebundenheit in bestimmten Vor-Verständnissen (z.B. dass es in der Bibel „gerecht“ zugeht), Vor-Urteilen[4] etc. ein Stück weit bewusst zu machen und diese in der Auseinandersetzung mit dem biblischen Text zu dekonstruieren. Dieses Phänomen ist bisher v.a. im Bereich der Bibeldidaktik und der Kanonhermeneutik (Roose, 2009, S. 39–40) beschrieben. Es traut dem biblischen Text eine gewisse Widerständigkeit zu. Genaue Textwahrnehmung – so die hermeneutische Prämisse – kann Vorverständnisse aufbrechen und modifizieren.
8 Das biblische Gespräch
Das biblische Gespräch nimmt die kritischen Überlegungen zum Bibliolog und zur kindertheologischen Bibeldidaktik auf und verdichtet sie zu drei Aspekten:
Aus dem Bibliolog übernimmt das biblische Gespräch (phasenweise) eine Modellierung des biblischen Textes als einer gegebenen, widerständigen Größe (als „schwarzes Feuer“), die bei genauer Betrachtung dazu in der Lage ist, bestimmte Deutungen zu falsifizieren oder zu modifizieren. Diese Modellierung des Textes betrachtet das biblische Gespräch – anders als der Bibliolog – als Produkt der Interpretation; die „Grenzen“ bleiben also immer fließend. Ebenfalls anders als im Bibliolog überlässt das biblische Gespräch die methodisch angeleitete genaue Textwahrnehmung nicht allein der Leitung. Sie verliert die Deutungshoheit. Das biblische Gespräch möchte die Teilnehmenden vielmehr selbst in die Lage versetzen, sich auch methodisch angeleitet dem Text zu nähern. Sie macht dazu Anleihen in der Literaturdidaktik, insbesondere beim literarischen Gespräch (Roose, 2016), das Methoden zur Stärkung der subjektiven Involviertheit und zur genauen Textwahrnehmung bereitstellt (Winkler, 2015). Dadurch können konkurrierende Deutungen hervorgebracht werden. Die Interpretation wird zu einem gemeinsamen diskursiven Prozess, bei dem die Beiträge der Schüler(innen) Auswirkungen auf den weiteren Gesprächsverlauf haben. Die Leitung hat – anders als im Bibliolog und ähnlich wie im theologischen Gespräch – auch die Aufgabe, die Beiträge der Teilnehmenden untereinander in Beziehung zu setzen und mögliche Deutungskonflikte erkennbar zu machen. Das biblische Gespräch veranschaulicht mögliche Verschiebungen in der Deutung des biblischen Textes, indem es zwischen zwei gemeinsame Gesprächsphasen zu demselben biblischen Text eine Bearbeitungsphase schiebt, in der die Schüler(innen) bzw. die Teilnehmenden den biblischen Text methodisch angeleitet in Einzel- oder Gruppenarbeit genauer wahrnehmen. Das biblische Gespräch ist damit nicht ergebnis- sondern prozessorientiert. Es geht ihm zentral um Deutungskompetenz in einem umfassenden Sinn.
Aus der kindertheologischen Bibeldidaktik übernimmt das biblische Gespräch dementsprechend eine Ausgestaltung der Subjektorientierung, die sich nicht nur auf das Füllen von vorgegebenen Leerstellen mit eigenen Erfahrungen beschränkt, sondern auf das „weiße“ und das „schwarze Feuer“ erstreckt. Dieser Ansatz hat erhebliche Auswirkungen auf die gewünschte Haltung der Lehrkraft: Die zentrale Kompetenz besteht nicht darin, (vermeintlich) gesetzte Grenzen zu bewachen (wie im Bibliolog), sondern sich – ähnlich wie im theologischen Gespräch – neugierig und offen mit den Schüler(innen) in ein Gespräch zu begeben, in dem Bedeutung in Auseinandersetzung mit dem biblischen Text ko-konstruiert wird. Das Gespräch wird (zwangsläufig) offener, unstrukturierter. Es ist nur bedingt planbar. Ein „klares“ Ergebnis ist kaum zu erwarten.
Das biblische Gespräch rechnet nicht damit, dass das Subjekt „open or free“ in seiner Interpretation ist. Expliziter als Bibliolog und kindertheologische Bibeldidaktik berücksichtigt es (altersbedingte, milieubedingte, situative etc.) Vorverständnisse. Es zielt in einer ersten Phase darauf, diese Vorverständnisse ansatzweise bewusst zu machen, um von da aus eine mögliche Entwicklung im Deutungsprozess anschaulich machen zu können. Konstitutiv sind daher immer zwei Gesprächsrunden zu einem biblischen Text: Einer zum Austausch über erste Deutungen, einer nach einer intensiven Bearbeitungsphase zum Austausch über mögliche Modifizierungen in den Deutungen. Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang auch die Thematisierung der Kanonizität des biblischen Textes: Welche Rolle spielt es für mich, für meine Mitschüler(innen), für Christ(inn)en, für Konfessionslose, für Jüdinnen und Juden, für Muslima und Muslime, dass der Text im (Judentum und) Christentum kanonisch geworden ist?
9 Schluss
Das biblische Gespräch berücksichtigt in Auseinandersetzung mit dem Bibliolog dekonstruktivistische, in Auseinandersetzung mit kindertheologischer Bibeldidaktik subjekttheoretische Überlegungen und begibt sich bewusst in die (unauflösbare) hermeneutische Spannung von Text und Leser(in), die beidesowohl in der Kategorie der Bestimmtheit als auch in der Kategorie der Unbestimmtheit perspektiviert werden können – und müssen. Das biblische Gespräch zielt auf das „selber Lesen“ eines im Christentum kanonisch gewordenen Textes im Austausch mit anderen, es meint die methodisch unterstützte Deutung des biblischen Textes (seines „weißen“ und seines „schwarzen Feuers“) im Horizont der je eigenen geprägten Vorverständnisse, Erfahrungen und Theologien im Gespräch mit den Deutungen anderer.
Anhang
Literaturverzeichnis
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Dr. Hanna Roose, Professorin für Praktische Theologie/Religionspädagogik, Ruhr-Universität Bochum
Das gilt, obwohl Pohl-Patalong von einer „gemeinsamen Auslegung“ spricht: „[…] eine gemeinsame Auslegung gibt es nur, wenn einige auch laut mitmachen“ (Pohl-Patalong, 2005, S. 13). Laut geäußerte Beiträge, die von der Leitung gespiegelt werden, sind für alle anderen hörbar und können dadurch weitere Beiträge beeinflussen. Der Leitung kommt die Aufgabe zu, darauf zu achten, dass „Teilnehmende weder verunsichert noch durch Äußerungen anderer verletzt werden“ (Pohl-Patalong, 2011, S. 30). Ihr kommt aber nicht die Aufgabe zu, Beiträge inhaltlich zu vernetzen (so explizit auch Krasemann, 2017, S. 144–145).
Darauf weist auch Pohl-Patalong (2013, S. 83) hin, ohne jedoch auf die weit reichenden hermeneutischen Konsequenzen einzugehen: „Eine Begegnung zwischen Text und Mensch geschieht nicht voraussetzungslos, sondern wird durch religiöse und konfessionelle Prägungen mitbestimmt.“
Insgesamt fällt bei dieser Bezugnahme auf, dass sie sehr eklektisch und wenig präzise ausfällt, sodass es kaum möglich ist, die Verweisstellen im Einzelnen ausfindig zu machen und prüfen zu können.
„Eine ganz eigenartige Erscheinung lässt sich im Zusammenhang mit den Kenntnissen der Schüler beobachten: In der Tat wissen die meisten nicht viel; dennoch beklagen sich viele darüber, dass im Bibelunterricht ‚immer das Gleiche‘ behandelt würde, das ihnen längst zum Hals heraushinge.“ (Berg, 1993, S. 20)