Einleitung
Befinden wir uns gegenwärtig wieder in politisierten Zeiten? Die Älteren unter uns mögen sich an die 1968er, die etwas Jüngeren an die Friedensmärsche und Anti-Atomkraftbewegung der frühen 1980er Jahre und die noch Jüngeren an die deutsch-deutsche Wendezeit erinnert fühlen. Den Sponti-Spruch „Bürger, lasst das Glotzen sein, kommt herunter, reiht euch ein“ hat Konstantin Wecker 1977 vertont. In diesen Zeiten formiert sich wieder öffentlicher Straßenprotest in Bewegungen wie „Attac“ und „Occupy“, „Fridays for Future“ und „Extinction Rebellion“, und ja, auch „Pegida“ und „Chemnitz“.
Man kann tatsächlich in diesen Septembertagen des Jahres 2019 den Eindruck einer umfassenden Repolitisierung gewinnen: Jüngst auf einer Konferenz in Großbritannien war es mehr als eindrücklich, dass sich die Gespräche zwischen den Tagungseinheiten um kaum ein anderes Thema als den Brexit und seine Folgen drehten – nicht wenige Tagungsteilnehmende verfolgten sogar während der Vorträge, sozusagen in Echtzeit, die Debatten des britischen Unterhauses mit. Auch in London und Edinburgh Straßenproteste. Was könnte man sich mehr wünschen als eine solches mobiliertes, zivilgesellschaftliches Interesse an den aktuellen politischen Geschehnissen?
Oder haben wir es gegenwärtig schlicht mit besonders anschaulichen Fällen von medial initiierter kollektiver Erregung (Pörksen, 2018) in Zeiten der Aufmerksamkeitsökonomie (Franck, 1998) zu tun? Jedenfalls zeigen sich interessante und ambivalente medial-politische Crossovers: Greta Thunberg segelt auf einer Hochleistungsyacht in New York ein, Jan Böhmermann will zum SPD-Vorsitzenden werden, der Privatvielflieger Leonardo di Caprio gründet einen Amazon-Forest-Fund und Donald Trump twittert einstweilen unbeschadet weiter. Vieles an den gegenwärtigen politischen Debatten erscheint jedenfalls hoch emotionalisiert.
Ich hole deshalb mit dieser Ouvertüre so weit aus, weil der Zusammenhang von religiöser Bildung und Politik – und erst recht eine mögliche Felderöffnung aus evangelischer Perspektive – diese aktuellen Dynamiken, Bewegungen und Ambivalenzen zuallererst einmal so aufmerksam wie möglich wahrnehmen muss. Was ist nun davon zu halten und von welcher Bedeutung sind diese medial-politischen Ereignisse und Berichterstattungen für die religiöse Bildung? Sich mit der Thematik „Religiöse Bildung und Politik“ im Sinn einer Felderöffnung zu befassen, bedeutet notwendigerweise, mit der Frage nach dem angemessenen Zugriff zu beginnen.
Und dieser stellt sich angesichts der gegenwärtigen Unübersichtlichkeiten im Bereich des Politischen alles andere als einfach dar. Wie steht es also um die Positionierung, die Zielsetzung sowie den Auftrag des Religionsunterrichts – gerade im Umbruch einstmaliger gesellschaftlicher Selbstverständlichkeiten, was aktuell angesichts von 100 Jahren Weimarer Verfassung und 70 Jahren Grundgesetz in manchen Jubiläumsreden geradezu Phantomschmerzen auszulösen scheint?
Um hier nur stichwortartig das hermeneutische Perspektivenrepertoire zu benennen, das im Prinzip mit in den Blick kommen muss, wenn man sich als Religionspädagogik und Fachdidaktik auch nur annäherungsweise angemessen mit den gegenwärtigen Sachfragen beschäftigen will: Ins Spiel gelangen aktualitätsbezogene, bildungstheoretische, institutionelle, rechtliche, politikwissenschaftliche, bildungspolitische, theologisch-ethische, fachdidaktische, entwicklungs- und lernpsychologische, aber auch künstlerische und natürlich mediale Aspekte. Und diese Tagung will ja dieser Vielfalt von Aspekten durch ein entsprechend ausdifferenziertes Tagungsprogramm möglichst gut gerecht werden. Was heißt dies aber nun für einen Eröffnungsvortrag, dem noch zumal das Stichwort der Felderöffnung mitgegeben ist?
Dieser Untertitel will wohl gleich signalisieren – vielleicht entlastend, vielleicht aber auch anspruchsvoll –, dass es sich eben um ein weites, vielfältiges, kaum überschaubares Feld handelt. Nun setzt dieser Begriff des Feldes alleine schon eine bestimmte sozialphilosophisch begründete, kritische Markierung, von der gleich noch näher die Rede sein wird. Wie gesagt: Angesichts der Komplexität der Thematik geht es um die Frage des angemessenen Zugriffs auf die Thematik und dies setzt notwendigerweise Entscheidungen auf der Seite des religionspädagogisch Forschenden und des, immer auch hier schon mitzudenkenden, Unterrichtenden voraus.
Und so will ich in einem ersten Abschnitt einen dreifachen Zugriffsversuch unternehmen. Im zweiten Abschnitt sollen daran anschließend die Herausforderungen für die religionspädagogische Theoriebildung benannt werden, bevor ich mit einem konkreten theologisch ausgerichteten Deutungs- und Konkretisierungsversuch und Fazit abschließe.
1 Zugriffsversuche: Deutungsperspektiven der sozialen Praxis des Politischen
1.1 Die Idee der Social Imagineries
Will man eine Deutung der gegenwärtigen Praxis des Politischen – auch in ihrem Zusammenhang zu Fragen religiöser Praxis – wagen, so erscheint mir hier in einem ersten Schritt die Analyse von Charles Taylor überaus hilfreich. Seiner Überzeugung nach, so erstmals in seiner Studie „Modern Social Imagineries“ im Jahr 2004 vorgelegt, lebt das Politische von gemeinsamen sozialen Imaginationen – man kann übersetzen: von gemeinsamen Vorstellungen und Leitbildern, die das Zusammenleben konstituieren. Die wesentlichen Aspekte, in denen sich diese Imaginationen niederschlagen, sind für Taylor „Economy“, „Public Sphere“ und „The Souvereign People“. Sie finden diese Trias übrigens hier vor Ort – von diesem Tagungsraum der Evangelischen Akademie aus – gut sichtbar und kontextuell manifestiert in der Ansicht der Frankfurter Bankentürme, des öffentlichen Marktplatzes „Am Römer“ und der Paulskirche als Hort des ersten deutschen Parlaments.
Taylor geht davon aus, dass es soziale Imaginationen sind, die das wirtschaftliche Handeln, die öffentliche Sphäre und das Prinzip der Volkssouveränität in seinem Kern ausmachen und damit für Verlässlichkeit, Stabilität und so etwas wie einen rationalen gemeinsamen Konsens sorgen: „Our social imaginary at any given time is complex. It incorporates a sense of the normal expectations we have of each other, the kind of common understanding that enables us to carry out the collective practices that make up our social life. This incorporates some sense of how we all fit together in carrying out the common practice.” (Taylor, 2004, S. 24)
Imaginationen haben also mit bestimmten Erwartungen, einem gemeinsamen Verständnis des Verbindenden – etwa konkreter Werte und Gründe – sowie einer entsprechenden Praxis zu tun. Dabei betont Taylor, dass diese Imaginationen, die ihrerseits durch sprachliche und bildhafte Narrative konstitutiert werden, eine sowohl faktische, als auch eine normative Seite haben: „It is both factual and normative; that is, we have a sense of how things usually go. But this is interwoven with an idea of how they ought to go, of what missteps would invalidate the practice.” (Taylor, 2004, S. 24) Theoretische Reflexion und konkrete Handlungs-, aber auch Sprachpraxis im alltäglichen Leben profilieren folglich diese stabilisierenden Imaginationen immer wieder aufs Neue. Wie steht es nun gegenwärtig in der bundesrepublikanischen Gesellschaft um solche gemeinsamen Imaginationen?
1.2 Gegenwärtige Emotions-Imaginationen
Tatsächlich muss man sich – um diesen Ansatz auf die hiesigen Verhältnisse zu übertragen – fragen, ob eine solche kollektive Imaginationspraxis tatsächlich noch vorhanden ist bzw. ob hier, wie bei Taylor angenommen, noch von einem Common Sense ausgegangen werden kann. Zumindest prominente Stimmen gegenwärtiger Sozialphilosophie und Politiktheorie sind hier einigermaßen skeptisch: Martha Nussbaum beschreibt die gegenwärtigen westlichen Gesellschaften unter dem prägnanten Titel „Königreich der Angst“ (Nussbaum, 2019). Offensichtlich tragen die einstmals stabilitätssichernden Imaginationen nicht mehr: Emotionen wie Angst, Zorn, Ekel und Neid – so Nussbaum – führen zur krisenhaften Gesamtsituation. Cornelia Koppetsch befasst sich unter der Überschrift: „Die Gesellschaft des Zorns“ mit dem Rechtspopulismus im globalen Zeitalter (Koppetsch, 2019), Carolin Emcke schreibt „Gegen den Hass“ an (Emcke, 2016) und Carlo Strenger setzt sich in aufklärerischer Absicht mit der Rede von „Diese(n) verdammten liberalen Eliten“ auseinander (Strenger, 2019). Der Historiker Frank Biess erzählt gleich die ganze Geschichte der Bundesrepublik als eine Geschichte kollektiver Ängste (Biess, 2019)
An die vielfältigen digital-medialen Ausdrucksformen dieser offenkundigen Wutverfasstheit ließe sich hier ebenfalls erinnern. Und hingewiesen sei hier darauf, dass auch innerhalb der deutschsprachigen Literatur der letzten Jahre viel von dieser explosiven, fast apokalyptischen Kraft politischer Gegenwartsanalysen zu spüren ist; man denke hier etwa nur an jüngst erschienene Romane wie Juli Zehs dystopisch-terroristische „Leere Herzen“ (Zeh, 2019), Jonas Lüschers Theodizee-Reflexion „Kraft“ (Lüscher, 2017) oder Lukas Rietzschels sächsische Feldstudie: „Mit der Faust in die Welt schlagen“ (Rietzschel, 2018). In allen drei Romanen wird der Zustand deutscher Gegenwarts-Politik wuchtig abgearbeitet.
Offenbar kommt es jedenfalls in den letzten Jahren verstärkt zu einer Emotionalisierung des Politischen und damit zu sich neu etablierenden, sich aber eben massiv segmentierenden und emotionalen Imaginationen, die gerade die gemeinsame politische Deliberation erheblich schwieriger, wenn nicht in einzelnen Fällen sogar inzwischen ganz unmöglich machen.
Nun könnte man darüber ein Klagelied anstimmen und sich ansonsten frustriert in den geschützten Bereich des Privaten zurückziehen. Es lohnt sich aber hier, wenigstens für einen kurzen Moment, nochmals auf einen weiteren Wahrnehmungsansatz moderner Gesellschaftsformationen einzugehen, um wenigstens eine Form der Erklärung dieser gegenwärtigen Emotionsdynamiken zu identifizieren. Tatsächlich gibt es gute Gründe dafür, sich den Gesamtzusammenhang des Politischen eben nicht nur von einer bestimmten Vorstellung von Diskursivität aus vorzustellen, sondern das Prinzip des Agonalen als mindestens ebenso entscheidend anzusehen – womit wir zu einer weiteren, eigenen Art der Felderöffnung gelangen.
1.3 Agonale Dynamiken auf dem Feld des Politischen
Die Bestimmung des Sozialen über eine Feldtheorie, wie sie Bourdieu vornimmt, stellt keineswegs einfach eine deskriptiv-topologische Analyse dar, sondern erfolgt vor dem Hintergrund der Annahme umfassender Herrschafts- und Machtinteressen. Das politische Feld als Mikrokosmos innerhalb der sozialen Welt wird von ihm als ein Spiel beschrieben, „bei dem es um die legitime Durchsetzung der Sicht- und Teilungsprinzipien der sozialen Welt geht“(Bourdieu, 2001, S. 51). Macht hat in diesem Spiel derjenige, der über genügend soziales, ökonomisches und symbolisches Kapital bzw. über Prestigekapital, zudem über genügend freie Zeit und Bildung (kulturelles Kapital) verfügt (Bourdieu, 2001, S. 52). Jedes soziale Feld schließt sich tendenziell in seiner Entwicklung immer weiter von seiner Umwelt ab: „Je mehr sich das politische Feld konstituiert, desto mehr verselbständigt es sich, professionalisiert es sich, desto mehr haben die Professionellen die Tendenz, auf die Laien herabzusehen“ (Bourdieu, 2001, S. 44). Diese haben unter anderem das Interesse, dass das politische Feld unverändert bleibt: „Ein sehr großer Teil der von den Politikern vollzogenen Handlungen hat keine andere Funktion, als den Apparat zu reproduzieren und sich selbst zu reproduzieren, indem sie den Apparat reproduzieren, der ihre Reproduktion garantiert“ (Bourdieu, 2001, S. 53–54). Bourdieu weist explizit auf die Ähnlichkeiten mit dem religiösen Feld hin: Im religiösen Feld sind es die Beziehungen, ja ist es der Habitus von professionellen Religionsvertretern zu bzw. gegenüber den Gläubigen. Somit muss es darum gehen, die „stillschweigende Prämisse der politischen Ordnung aufzudecken, dass nämlich Laien von ihr ausgeschlossen sind“ (Bourdieu, 2001, S. 44). Die Bourdieu’sche Feldtheorie ist insofern kritische Analyse der unterschiedlichen Macht- und Herrschaftsrelationen, die auf den diversen Feldern der modernen Gesellschaft bzw. im Bereich des Politischen zu konstatieren sind. Und ein solcher Zugriff auf die komplexen, machtbezogenen Imaginationen ist nun auch für die möglichst klaren Bestimmungen der gegenwärtigen Rahmenbedingungen des Politischen hilfreich, von denen alle religionspädagogische Reflexion unbedingt auszugehen hat und inmitten derer sie sich positioniert.
2 Religionspädagogische Herausforderungen
Die drei aufgeführten Deutungsperspektiven im Blick auf die gegenwärtigen Verhältnisse des Politischen sollten ansatzweise deutlich machen, wie anspruchsvoll es für eine Religionspädagogik ist, sich inmitten dieser Dynamiken und Felder reflexiv zu positionieren bzw. sich mit den hochdynamischen institutionellen und bildungstheoretischen, schulpolitischen und fachdidaktischen Herausforderungen des Zusammenhangs von religiöser Bildung und Politik auseinanderzusetzen.
Tatsächlich beschäftigt sich die Disziplin bekannterweise selbst seit etwa zehn Jahren wieder intensiver mit diesem Fragenkomplex. Es wäre hier durchaus verheißungsvoll, die jüngeren Entwicklungen und vor allem die Gründe für die Wiederkehr einer politisch interessierten, sensibilisierten und dimensionierten Religionspädagogik aufzuzeigen. Dafür müsste man mutmaßlich sowohl auf bestimmte kontextuell und fachlich bedingte, wie auch biografische und berufsbiographische Aspekte der Protagonistinnen und Protagonisten zurückgreifen. Gleiches gilt hier sicherlich auch für die Entwicklungen der inhaltlich damit verbundenen „Öffentlichen Religionspädagogik“ (hier v.a. Grümme 2015, 2018). Ich belasse es gleichwohl an dieser Stelle bei einer kurzen Charakterisierung dieser Dynamiken und einigen aktuellen Konkretisierungen im Bereich (vgl. ausführlicher und mit entsprechenden Literaturverweisen Könemann, 2016).
Im Unterschied zu einer problemorientierten Religionsdidaktik der 1980er Jahre plädiert ein politisch dimensionierter Ansatz der Religionspädagogik weder für die einlinige politische Schwerpunktsetzung noch auf die bloße Vermittlung bestimmter vermeintlich eindeutiger politischer Haltungen oder Meinungen. Vielmehr zielt dieser vor dem Hintergrund eines breiten Bildungs- und Subjektverständnisses auf die gemeinsame Erschließung politisch relevanter Kernthemen, Kernprobleme und Unterrichtssituationen ab. Dies verbindet sich mit der Einsicht in die unübersehbare Komplexität und Ambivalenz einzelner politischer Sachverhalte, so dass alle didaktischen Formen einer Behauptungsrhetorik von vornherein als am Ziel vorbeigehend angesehen werden.
Vor dem Hintergrund des Beutelsbacher Konsens mit seiner Forderung nach dem Überwältigungs- bzw. Indoktrinationsverbot, dem Kontroversgebot und der Befähigung zur subjektiven Interessensanalyse, an den auch die religionspädagogischen Ansätze in diesem Feld mehr oder weniger explizit anknüpfen, stellt sich damit der religionspädagogische Zugang wesentlich als diskursiv und pluralitätsorientiert dar. Zudem wird gegen alle Funktionalisierungs- und Verzweckungsabsichten gerade der Eigensinn religiöser und theologischer Argumente für eine solche Wirklichkeitserschließung des Politischen stark gemacht. So können hier etwa theologische Aspekte von Gerechtigkeit, Verantwortung und Hoffnung, aber auch Deutungsmuster der Anerkennung des Anderen bis hin zur Aufnahme der Wahrheitsfrage stark gemacht werden. Damit rückten über einen rein auf das religiöse Subjekt hin ausgerichteten Zugriff auch mehr und mehr die Reflexionen der rechtlichen und öffentlichen Rahmenbedingungen für eine solche politisch dimensionierte Bildung in das Blickfeld. Materialiter spiegelt sich dieser Zugriff jüngst in einer verstärkten Reflexion etwa über den Gerechtigkeitsbegriff (Grümme & Schlag, 2016), aber auch in der Auseinandersetzung mit der Frage von Heterogenität, Interreligiosität und Migrationsfragen (Reese-Schnitker, Bertram & Franzmann, 2018) wider.
Die gestiegene Aufmerksamkeit für den Zusammenhang von religiöser Bildung und Politik lässt sich, wenigstens exemplarisch, auch für die kirchliche Öffentlichkeitspraxis, d.h. für jüngere Verlautbarungen der EKD bzw. der Kammer für Bildung und Verantwortung nachzeichnen: Dies gilt in Hinsicht auf die bildungspolitischen Rahmenbedingungen (Kirchenamt der EKD, 2014) in Hinsicht auf eine materiale Konkretisierung religions- und migrationssensibler Bildung (EKD, 2018a), abgeschwächt auch in dem ebenfalls von der Bildungskammer veröffentlichten, gut gemeinten, aber doch etwas eigentümlich-pastoralen Thesen-Aufruf „Dein Glaube – Deine Demokratie!“ (EKD, 2018b). Zumindest in den genannten Denkschriften zeigt sich ein bestimmtes Agendasetting, das nicht im Gewand politischer Eindeutigkeitsrhetorik daherkommt und auch Polarisierungen zu vermeiden versucht. Sondern die öffentliche Artikulation und damit gewissermaßen der kirchliche Beitrag zur Pflege sozialer Imaginationen zeigt sich in der Einübung des informierten Diskurses inmitten gegebener Pluralität. Auf diese Weise soll gerade der konstruktive Umgang mit Konflikt und Konsens (EKD, 2017) gefördert werden. Durchbuchstabiert wird dies im Blick auf die Herausforderungen von Populismus, Rassismus, Antisemitismus oder Migration. Interessanterweise fallen allerdings die religionsbezogenen und theologischen Begründungslinien hier überaus dünn aus. Man findet jedenfalls kaum einen näheren Bezug auf mögliche biblische oder theologische Orientierungspunkte. Hier ist also, um es einmal zurückhaltend zu formulieren, noch erheblicher Spielraum für die kluge und pointierte theologische Deutung des Politischen und die Ausarbeitung der von dort ausgehenden bildungstheoretischen und bildungspraktischen Implikationen.
3 Theologische Überlegungen zum Zusammenhang von religiöser Bildung und Politik
Von den bisherigen Überlegungen stellt sich die Frage, was dies nun für die zukünftige Ausrichtung der Disziplin und die didaktische Ausgestaltung des Faches bedeuten kann. Ich will dazu in einem Schlussteil Möglichkeiten einer pneumatologisch gewendeten Religionspädagogik des Politischen wenigstens kurz andeuten.
Ich nehme dazu nochmals den von Taylor ins Spiel gebrachten Begriff der „imaginaries“ auf, setze diesen aber in eine dezidiert theologische Perspektive. Tatsächlich stellt sich ja die Frage, von welchem eigenen bzw. spezifischen Deutungsrepertoire aus nun die Positionierung zu Fragen des Politischen sinnvollerweise angegangen werden könnte. Dazu gehe ich von einem Verständnis öffentlicher Religionspädagogik aus, wonach diese sich nicht anmaßen sollte, in vermeintlich eindeutig prophetischem Sinn immer schon die richtigen Antworten und Wege aufzeigen zu können. Vielmehr geht es darum, möglichst genau wahrzunehmen und zu analysieren, was der Fall ist, in einem zweiten Schritt, was angesichts der politischen Entwicklungen drohen könnte und in einem dritten Schritt, welche Folgerungen aus diesen Einschätzungen gezogen werden können und sollten.
Es geht also darum, die Bestandsaufnahme des Politischen bzw. dessen Thematisierung vom Boden des eigenen Deutungsrepertoires zu reimaginieren (ausführlicher Schlag, 2015; 2019b). Die Imagination im Sinn einer weiterreichenden Vorstellungskraft und durchaus auch eines kritisch geschärften Blicks auf die Verhältnisse liegt dann darin, die Dinge intensiver zu beleuchten und sie sich anders vorstellen zu können, als sie auf den ersten Blick erscheinen – und damit jedenfalls nicht von der Normativität des Faktischen auszugehen. Dies bedeutet dann aber auch, dass bestimmte theologische und ethische Deutungselemente nicht als statische und erratische Satzwahrheiten zu verstehen sind, sondern, weil sie in sich einen Kern eigener Diskursivitätsdynamik tragen, immer wieder neu durchzubuchstabieren und der Prüfung auszusetzen sind – dies gilt selbst dort, wo theologischerseits etwa Deutungskategorien wie die der Gottebenbildlichkeit oder der Nächstenliebe zur Sprache gebracht werden.
Woher nimmt nun aber die Religionspädagogik selbst ihre materialen Bezugspunkte, wenn sie in theologischer Perspektive auf Fragen des Politischen blickt? Es stellt sich also die Frage, in welchem substanziell-theologischen Sinn sich die Religionspädagogik den Fragen des Politischen zuwendet. Hierfür halte ich nun tatsächlich den konkreten Rekurs auf die Rede vom Heiligen Geist für weiterführend. Ich will insofern im Folgenden – wenigstens andeutungsweise – für eine "pragmatistisch pneumatologische" Ausrichtung einer politisch dimensionierten Religionspädagogik plädieren:
Durch den Grundgedanken und die Rede vom Heiligen Geist werden nach biblischer Vorstellung und deren theologischer Interpretation alle Räume menschlichen Lebens und Zusammenlebens in der besonderen Weise eines „Woher“ und „Wozu“ qualifiziert. Dadurch wird die von Gott her gegebene Schöpfungszusage für die gegenwärtige, und damit eben auch politische, Lebenswirklichkeit qualifiziert. Dabei ist theologisch festzuhalten, dass der Geist Gottes „alles andere als eine ungreifbare, ins Unbestimmte diffundierende Größe“ ist. (Welker, 1993, S. 273) Zugleich ist zu betonen, dass nach trinitarischem Verständnis der Heilige Geist nicht aus sich selbst heraus verkündigt, sondern auf die Person Jesus Christus verweist. Von dort aus ergibt es theologisch gesprochen Sinn, den Heiligen Geist als öffentliches, personales Beziehungsgeschehen zu denken. Sowohl das „Zusammensein Gottes als Vater und Sohn“ wie das „Zusammensein Gottes und der Menschen“ (Korsch, 2000, S. 173) findet seinen Ausdruck in der Rede vom Heiligen Geist, was sich zu der Einsicht verbindet: „Wir Menschen sind ganz und gar, mit Leib und Seele, bei Gottes eigenem Leben dabei.“ (Korsch, 2000, S. 174) In der nach wie vor modernitätsfähigen Deutung Tillichs rücken die Rede vom Geist Gottes und von der Lebendigkeit des Lebens in denkbar engste Nähe: Nach Tillichs Vorstellung bringt Gottes Geist den Menschengeist durch „Inspiration“ und „Infusion“ überhaupt erst in seine Wesentlichkeit (Tillich, 1966, S. 138) und nur weil Gott im Menschengeist wohnt, kann der Mensch nach ihm fragen.(Tillich, 1966, S. 151)
Die Rede von der Neuschöpfung durch den Geist macht zudem deutlich, dass irdische Weltwirklichkeit und neue geistliche Existenz unmittelbar und real miteinander verbunden sind. Es ist das im Heiligen Geist präsent werdende Gottesverhältnis, dass das Selbst- und Weltverhältnis des Menschen bestimmt. (Korsch, 2000, S. 178) Als „Leben mit Gott im Heiligen Geist“ (Korsch, 2000, S. 180) ermöglicht dies dem Individuum das Gelingen, wie das Misslingen, des eigenen Lebens zu verstehen sowie ein Selbstverhältnis zu entwickeln, das nicht unter dem Zwang steht, „alles sich selbst unterwerfen zu sollen oder zu müssen“ (Korsch, 2000, S. 179) bzw. das eben nicht in ausschließlich individueller Selbstbeziehung verbleibt. (Welker, 1993, S. 273)
In der Perspektive des Politischen und seiner Imaginationen ist ein solches Verständnis von der Präsenz des Heiligen Geistes für ein klareres Verständnis der realen Lebenswirklichkeiten bedeutsam: Zwar stellt der öffentliche Raum des Politischen in theologischem Sinn den weltlichen Bereich dar. Gleichwohl bildet dieser aber keine abgeschottete, eigengesetzliche Sphäre. Sondern unter einer pneumatologischen Prämisse kommt diesem öffentlichen Raum eigene Dignität zu. Gemeint ist dabei aber nicht – und damit auch nicht für den Bereich öffentlicher Bildungsräume – irgendeine Art substanzontologischer gefasster, unantastbarer Heiligkeit. Sondern vielmehr lassen sich diese Bildungsräume als Schöpfungswirklichkeit deuten, deren Qualität gerade in der Ermöglichung humaner Imagination liegt. Eine solche pneumatologische Bezugnahme befreit inmitten der Weltwirklichkeit zu konkretem, eben auch politisch relevantem Wirken: „Der Herr aber, das ist der Geist; und wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.“ (2 Kor 3,17)
In seiner zeitbezogenen Dimension umfasst die theologische Denk- und Redefigur des Heiligen Geistes die Lebensdimensionen von Vergangenheit, Gegenwart und verheißener Zukunft. Dieser dreifache Zeitzusammenhang ermöglicht es, den umfassenden Horizont des mitmenschlichen Gottesverhältnisses durchzubuchstabieren sowie die ganze Fülle und auch das Utopische des Lebens öffentlich zum Ausdruck zu bringen (Arens, 2010, S. 118–119). Ein solch theologisches Verständnis der Dynamik und Imaginationskraft des Heiligen Geistes ist jedenfalls etwas völlig anderes als dasjenige, was ich am Anfang als Ausdrucksformen medialer Erregungen bezeichnet habe.
Eine interessante, sozusagen säkulare Variante geistvoller Imagination führt Volker Gerhardt vor, indem er aktuell vom Geist der Humanität und dessen öffentlicher Wirksamkeit in allen Lebensbezügen spricht. Dieser scheine vornehmlich in solchen vernünftigen Haltungen und Leistungen auf, „in denen ein Individuum eine Einsicht exemplarisch macht, die für die Weltbewältigung des Menschen von Bedeutung ist.“ (Gerhardt, 2012, S. 481) Dieser Geist der Humanität wird in seinem überindividuellen Charakter also als das vorgestellt, „was viele Menschen in ihrer besten Verfassung verbindet, und somit als Bestand von Einsichten, an dem man, ohne es zu erzwingen oder auch nur berechnen zu können, teilhat.“ (Gerhardt, 2012, S. 491) Oder geradezu pathetisch formuliert: „Erst durch die in Technik, Sprache und Recht, in Religion, Kunst und Wissenschaft sowie in den symbolischen Formen der Politik anwesende Präsenz des Geistes erhält die Gemeinschaft der Menschen ihre Stabilität.“ (Gerhardt, 2012, S. 491-492) Dezidiert trinitätstheologische Bezüge zwischen Öffentlichkeit und Gottesgedanke stellt Gerhardt interessanterweise an anderer Stelle ausführlicher her, wenn er die christliche Rede vom Heiligen Geist als „geschichtlich gewordene Kraft der Hoffnung, der Liebe und des Glaubens“ (Gerhardt, 2014, S. 292) in sachliche Nähe zum Geist als institutionalisierter, historisch, kulturell und sozial verkörperter Vernunft bringt. Insofern ist vom Christentum in Hinsicht auf die Entwicklung kulturprägend-verbindender Bilder und Sprache „durch die Verkündigung der Menschwerdung Gottes, durch die Vorrangstellung der Liebe und das Bekenntnis zur Toleranz“ ein theologischer „Humanisierungsschub“ (Gerhardt, 2019, S. 78) ausgegangen.
Anhand dieses Gedankens geistvoller Imaginationen kann dann die oben angesprochene agonale Struktur des macht- und interessenbesetzten Feldes des Politischen nochmals neu in den Blick genommen werden. Nämlich so, dass in der Rede vom Heiligen Geistes die einzelnen Felder selbst und deren Zusammenhang immer wieder neu geprüft, kritisiert, aber auch neu gestaltet werden können. Christian Danz formuliert es in seiner jüngst erschienenen Pneumatologie so: „Die Gabe der christlichen Überlieferung ist nichts fertig Vorliegendes, das bloß aufgenommen werden müsste, sondern sie ist als christliche Religion selbst schon ein komplexer Interpretationsprozess. Eben das stellt die christliche Religion in ihr selbst mit dem Heiligen Geist dar.“ (Danz, 2019, S. 206) Diese Dynamik manifestiert sich wiederum in einer Trias des Geistes als Geber der Erinnerung an Jesus Christus, als symbolisch-zeichenhafte Gabe religiösen Heils und als Aneignung dieser Gabe im Akt des Glaubens. Und gerade diese Dynamik drängt auf immer wieder fortlaufende Neubeschreibung (Danz, 2019, S. 314–315) und Neudeutung. (Danz, 2019, S. 328)
4 Ein vorläufiges religionspädagogisches Fazit
Geht man von dieser pneumatologischen Grundfigur des Geistes Gottes als Geber, Gabe und Aneignung aus, stellt sich die Frage, was sich daraus für die konkret anstehenden religionspädagogischen Aufgabenbestimmungen ableitet: Was als lebensdienliche Perspektive religiöser, politisch dimensionierter Bildung in der Perspektive des Heiligen Geistes behauptet wird, unterliegt, wie gesagt, der ständigen Neudeutung und muss sich damit immer wieder neu dem Relevanztest aussetzen.
Wenn aktuell bekanntermaßen intensiv über Resonanzräume und deren pädagogische Implikationen nachgedacht wird, so lässt sich für die Imaginationen humaner sozialer Praxis durchaus an diese Denkfigur anknüpfen. Tatsächlich leben gelingende Bildungsprozesse von einem Resonanzgeschehen, das erst und nur durch die Anerkennung des Gegenübers als gleichermaßen würdevollem Subjekt seinen tieferen Sinn erfährt. Politisch gesprochen besteht die prophetische Sprengkraft solcher Imagination in der humanen Wahrnehmung des Angesichts des jeweiligen menschlichen Gegenübers. Man kann dies durchaus als bildungstheoretisches Plädoyer für eine theologische Bewusstseins-Bildung verstehen, die materialiter beispielsweise in Hinsicht auf die Menschenrechtsbildung im Sinn eines Menschenrechtsbewusstseins (Suhner, 2020) gerade durch die gemeinsame Imagination der Geschichte Jesus Christi manifest wird.
Insofern lässt sich durchaus eine gewisse Analogie zwischen dem Geist des Grundgesetzes und einem theologisch verstandenen Geistbegriff denken (Schlag, 2019a). Dass gerade angesichts eines solchen theologischen Sprachspiels die Frage pädagogischer Anschlussfähigkeit mit im Raum steht, sollte das eigene theologische Selbstbewusstsein nicht verstören oder erschrecken. Die Religionspädagogik sollte sich aber auch, und dies wollte meine Felderöffnung deutlich machen, mehr denn je intensiv dem intratheologischen Gespräch und Austausch widmen.
Als Aufgaben für die religionsbezogene Schul- und Unterrichtspraxis bedeutet dies zusammenfassend:
Der Religionsunterricht wie auch die Schule als Ganze sind als soziale Räume der Ermöglichung individueller und kollektiver Imaginationen im Angesicht des je Anderen zu verstehen. Dafür ist im Sinn einer humanen und geistvollen Bildung Raum zu schaffen, in dem die individuelle und kollektive Fähigkeit zum Blick auf den Anderen ausgebildet, eingeübt und gepflegt wird.
Eine sachgemäße Kommunikations- und Deutungspraxis innerhalb von Bildungsprozessen und damit die allgemeinbildende Aufgabe des Religionsunterrichts besteht gerade in der Schaffung und Ermöglichung solcher Räume, in denen Diskursives und Agonales Platz haben muss. Dass hier Bescheidenheit im Blick auf die möglichen Wirkungen anzeigt ist, muss ebenfalls betont werden. Es gilt wohl auch für das Feld des Politischen, was Marshall McLuhan bereits 1967 konstatierte: „The electronic environment makes an information level outside the schoolroom that is far higher than the information level inside the schoolroom. In the ninetheenth century the knowledge inside the schoolroom was higher than knowledge outside the schoolroom. Today it is reversed. The child knows that in going to school he is in a sense interrupting his education.” (Selwyn, 2017, S. 148)
Dass jedenfalls für eine solche imaginative religiöse Bildung die Haltung der Lehrenden selbst von entscheidender Bedeutung ist, muss eigentlich kaum noch eigens betont werden. Wichtig ist hier, sich im agonal-machtkritischen Sinn bewusst zu machen, inwiefern Lehrkräfte aufgrund ihrer Positionierung selbst RepräsentantInnen eines bestimmten Herrschaftsfeldes sind oder mindestens als Eliten wahrgenommen werden. Und selbst wenn solche Zuschreibungen politisch als höchst verdächtig und indoktrinär einzuschätzen sind, können sie nicht einfach mit Verweis auf Unlauterkeit ignoriert werden. Beispielhaft gesprochen: Die jüngst von der AfD artikulierte Kritik an den Kirchen, diese würden stets im Bündnis mit dem Zeitgeist und den Mächtigen stehen und hätten sich in besonderem Maße einem linksgrünen Doktrinarismus verschrieben, muss intensiv wahrgenommen werden, um ihr dann auch eine plausible Argumentation entgegenstellen zu können (Lohmann, 2019). Eine solche aufklärerische, so sachlich wie profilierte Deutungsarbeit an Fragen des Politischen, seinen verbindenden Grundlagen und seinen exkludierenden Dynamiken wird auch zukünftig eine der vornehmsten und wichtigsten Aufgaben religiöser Bildung darstellen.
Im Übrigen sollten diese Prämissen auch die zukünftige Schwerpunktsetzung und Ausrichtung religionspädagogischer Feldforschung bestimmen: Diese ist selbst, egal zu welchem Thema sie arbeitet, niemals unpolitisch – genauso wenig wie religionspädagogisch Forschende politisch gesehen unbeschriebene Blätter sind. Jedes Thema hat seinen politischen Bezug und die entsprechenden politischen Implikationen, weil diese immer auch auf konkrete kontextuelle politische Rahmenbedingungen bezogen sind, von denen schlechterdings nicht abgesehen werden kann. Insofern sind religionspädagogische Forschungsvorhaben und -projekte immer auch darauf hin zu prüfen, inwiefern sich ihnen das Politische als Querschnittsthema und existentieller Bezug tatsächlich schon ausreichend mitabbildet. Vermutlich stehen hier gegenwärtig gerade die vielfältigen empirischen Arbeiten in besonderer Weise vor der Herausforderung einer solchen Abklärung und Selbstklärung.
Und schließlich stellt sich in all dem die grundsätzliche Frage nach den medialen Gestaltungsformen und Dynamiken solch humaner und geistvoller Bildungsprozesse. Vielleicht, dies wäre zu überprüfen, sind es eben nicht nur die klassischen Texte und Argumentationsstrukturen, sondern viel weiterreichende Kommunikationsweisen, die hier den entscheidenden utopischen Unterschied machen. Phänomene der zunehmend bildhaft gestalteten digitalen „Informationskultur“ stellen jedenfalls für die Kommunikations- und Deutungspraxis im Religionsunterricht eine erhebliche Herausforderung dar. Und schließlich lohnt es sich nicht zuletzt in Fragen des Politischen, auch vermeintlich säkulare Imaginationen mitten hinein in das religionsunterrichtliche Geschehen zu integrieren. Um dafür abschließend ein Beispiel zu geben, sei deshalb mit einem Brief an einen Jugendlichen geendet: Der Brief selbst ist ziemlich genau 90 Jahre alt und stammt vom 18. April 1929 – und sein imaginatives Aktualisierungspotenzial mehr als erkennbar:
„Die Menschen von unserer Art sind in der Tat in dieser Zeit übel dran. Inmitten der Autos und Kinos, der Boxkämpfe und alles dessen, was sich heute Kultur nennt, sind wir zum Ersticken verurteilt. Es gibt zwei Wege aus dem Elend, der eine (es ist der meine) ist der des Künstlers: er stemmt sich gegen die Zeit, indem er ihr Wert und Wichtigkeit abspricht, indem er in seinen Büchern seiner Not und Verzweiflung auszusprechen sucht, indem er seine Träume und heimlichen Seelenfreuden behütet und pflegt.
Der zweite Weg führt direkt ins Leben. Er kann überall und zu jeder Stunde da, wo zwei oder drei junge gutgewillte Menschen zusammenkommen, eine Revolte gegen den Schlendrian der „Wirklichkeit“ begonnen werden. Die Organisationen, Jugendbünde etc. sind für die Vielen, für jene Menschen, denen nicht das Schicksal einer starken Individuation auferlegt ist. Die anderen, die Einzelnen, haben es schwerer, aber auch sie können gegen die Trägheit und Lieblosigkeit der Welt etwas tun; in jedem noch so engen Kreis kann ein wenig Seele gepflegt, ein wenig Liebe geübt, kann ein Ideal aufgestellt werden. Inmitten einer rohen und seelenarmen Zeit mit der Verantwortlichkeit der Beseelten zu leben versuchen, jeden Tag wieder, trotz allen Rückfällen, trotz aller (scheinbaren) Nutzlosigkeit – das ist es, was Ihr junge Menschen tun könnt. Zehn oder zwanzig Menschen in einer Stadt, die so leben, die an sich und ihr Leben hohe Anforderungen stellen, bedeuten mehr als 100 000 andere Einwohner. Sie sind das, was Jesus seine Jünger nannte: das Salz der Erde. Ich kann nicht mehr sagen. Ich bin selber ebenso oft hoffnungslos wie mutig, ich muß auch immer wieder von vorn anfangen. Aber es gibt keinen anderen Weg.“ (Hesse, 2018, S.139–140).
Literaturverzeichnis
Arens, E. (2010). Der „eigene Gott“ und die öffentliche Religion. Rolle und Relevanz christlicher Tradition in moderner Gesellschaft. In N. Baumann & F. Neuberth(Hrsg.), Religionspolitik – Öffentlichkeit – Wissenschaft. Studien zur Neuformierung von Religion in der Gegenwart (S. 105–126). Zürich: Theologischer Verlag Zürich.
Biess, F. (2019). Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Bourdieu, P. (2001). Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft. Konstanz: UVK.
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Prof. Dr. Thomas Schlag,
evangelischer Theologe und Professor für Praktische Theologie mit den Schwerpunkten Religionspädagogik, Kirchentheorie und Pastoraltheologie an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich