Auch in der Geschichte der Religionspädagogik haben politische Konstellationen immer wieder eine erhebliche Rolle gespielt. Dies betrifft etwa die Evangelische Unterweisung, die nach dem Zweiten Weltkrieg einen neuen Impetus durch ihr Gegenüber zum Staat erhielt. Ende der sechziger und in den siebziger Jahren veränderte die politische Dimension das Selbstverständnis des Religionsunterrichts grundlegend. Politisch-ethische Debatten prägten auch die achtziger Jahre u.a. im Zuge des Konziliaren Prozesses für „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“, der in Ost- und Westdeutschland auf große Resonanz in Gemeinden, aber auch bei Kirchendistanzierten stieß. Heute wirkt „Fridays for Future“ bis in das schulische Geschehen hinein.
Ein anderer, systematisch-theologischer Faden des Diskurses betrifft die Zuordnung von Theologie und Öffentlichkeit, für den die Begriffe „Öffentliche Theologie“ (Wolfgang Huber, Heinrich Bedford-Strohm), „christliche Politik“ (Eilert Herms) oder „kritische Zeitgenossenschaft“ (Eberhard Schockenhoff; vgl. die Übersicht bei Schließer, 2019) stehen. In den letzten Jahren war dieser Diskurs besonders präsent.
Für die Religionspädagogik ist in diesem Rahmen u.a. relevant, wie man sich dem facettenreichen Verhältnis von religiöser Bildung und Politik nähern kann: Strukturelle und substantielle Zugänge stehen dabei bislang im Vordergrund. Einschlägig ist bei diesen eine Unterscheidung, wie sie in der angloamerikanischen political science seit langem üblich ist: Die Unterscheidung in die Policy-, die Polity- und die Politics-Dimension. Damit kommt über Struktur (Polity) und inhaltliche Substanz (Policy) auch die Politics-Dimension in den Blick, die auf den Prozess der Durchsetzung politischer Handlungsoptionen verweist.
Strukturell ist die Beziehung zwischen Politik und Religion(en) eine Schlüsselfrage der modernen Staatstheorie. Hierbei geht es um Rahmenbedingungen, welche die Politik für religiöse Bildung in Deutschland gestaltet. Diese reichen von der Implementierung theologischer Fakultäten und Seminare an öffentlichen Universitäten, über die Rechtsstellung christlicher bzw. religiöser Privatschulen und Kindergärten, bis hin zur Einsetzung eines (konfessionellen) Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen. Hierzu sei in diesem Band zum einen auf den Beitrag des Kirchenrechtlers Heinrich de Wall verwiesen, zum anderen auf die Zusammenstellung der Positionen der Parteien zum Religionsunterricht von Karlo Meyer. De Wall macht deutlich, dass ohne verfassungs- und staatskirchenrechtliches Wissen die Frage nach dem Verhältnis von Politik und Religion nicht sachangemessen diskutiert werden kann. Als Inhaber des Lehrstuhls für Kirchenrecht, Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Erlangen-Nürnberg kann er in diesem Zusammenhang auf eine umfangreiche Expertise verweisen, die er in seinen Stellungnahmen zum Verfassungsstreit um den Religionsunterricht in Brandenburg in den 1990er Jahren oder zum islamischen Religionsunterrichts in den 2000er Jahren erworben hat.
Die Podiumsdiskussion, auf der die Zusammenstellung von Karlo Meyer basiert, bekam durch die Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen Anfang September eine besondere Aktualität: Der Wahl-O-Mat-These „Der konfessionelle Religionsunterricht an öffentlichen Schulen in Sachsen soll abgeschafft werden“ stimmte unter den Parteien, die es in den neuen Landtag in Dresden schafften, allein DIE LINKE zu, während alle anderen Parteien, einschließlich der AfD, die These ablehnten. Zur Begründung schreibt DIE LINKE in ihrem Wahlprogramm: „Religion ist Privatsache. Wir sind für einen konfessionsübergreifenden Unterricht (Ethik) für alle Schülerinnen und Schüler, in dem natürlich gemeinsam auch Religionen als Thema behandelt werden. Auch Atheismus und Religionskritik sollten in diesem Unterricht eine Rolle spielen.“ Und bei der AfD ist zu lesen: Die Abschaffung „ist mit Artikel 7 GG nicht vereinbar. Der Religionsunterricht erfüllt eine wichtige Bildungsaufgabe, selbst wenn die nicht konfessionsspezifisch erfolgt.”[1]
Die Wahlprogramme machen deutlich: Die im vorliegenden Themenheft diskutierte Frage nach dem strukturellen Verhältnis von Politik und Religion im öffentlichen Raum der Schule wird die Religionspädagogik auch in den kommenden Jahren beschäftigen.
Eine zweite Fragerichtung betrifft die Substanz des Verhältnisses von Religion und Politik. Im Fall religiöser Bildung meint das die politischen Inhalte und Implikationen „religiöser Bildung“ selbst. So wie sich Religionen durch ihre Repräsentantinnen und Repräsentanten in zivilgesellschaftlichen Prozessen engagieren, so muss religiöse Bildung als Teil der Allgemeinbildung die Individuen befähigen, an zivilgesellschaftlichen Prozessen konstruktiv (von einem religiösen Ausgangspunkt aus) teilnehmen zu können. Genau in diese Richtung argumentierte z.B. die EKD-Aktion im Jahr 2018 „Dein Glaube – Deine Demokratie“. Sie beschreibt in sieben Thesen für Jugendliche, warum sich evangelische Christen aus ihrem Glauben heraus für Demokratie einsetzen sollten.
In diesem Feld geht es auch um die religionspädagogische Positionierung zu politischen Fragen nach dem Umgang mit Flüchtlingen, nach Gerechtigkeit, Frieden, Natur- und Tierschutz, dem Umgang mit Geld, die alle religiöse Implikationen mit sich bringen, siehe den Beitrag von Thomas Heller. Zrinka Štimac untersucht am Beispiel Bosnien-Herzegowinas den Habitus von konfessionellen Schulbüchern und zeigt in ihrem Beitrag Spannungen zum übergreifenden „nomos“ der Gesellschaft, also zentrale Deutungsregeln des sozialen Feldes auf. Auch das verweist auf die Substanz, aber auch auf strukturelle Gemengelagen des Verhältnisses von Religion und Politik.
Als Teil des öffentlichen Lebens ist die Religionspädagogik so immer auch mit politisch-inhaltlichen Positionierungen befasst. Ganz gleich, ob als Zieldimension formuliert wird „Mitsein mit der pluralistischen Gesellschaft“ (Martin Stallmann), „Freiheit zum Widerspruch“ (Hans Bernhard Kaufmann), „politisches Engagement und Wachsamkeit“ (Peter Biehl), „Wertevermittlung“, „pragmatistische Demokratiepädagogik“ (vgl. jeweils Schlag, 2010, S. 7–13) oder „Pluralitätsfähigkeit“ wie in der EKD-Denkschrift „Religiöse Orientierung gewinnen“ – stets zeigen sich unterschiedliche (historische) Perspektiven und Wertungen, die in verschiedenen Beiträgen entsprechend aufgegriffen und diskutiert werden.
Henrik Simojoki stellt der vertrauten, an nationale Kontexte gekoppelten Pfadabhängigkeit religiöser Bildung im öffentlichen Raum den Ansatz der World Polity Theorie gegenüber, eine seit langem bewährte erziehungswissenschaftliche Perspektive auf weltweite Entwicklungen im Bildungssektor. Mit Verweis auf aktuelle religionspolitische und religionspädagogische Richtungsentscheidungen, über die auf europäischer Ebene verhandelt wird, ruft er die deutschsprachige Religionspädagogik dazu auf, sich über nationalstaatliche Gremien hinaus in die Wissenschaftskommunikation einzuschalten.
Schaut man auf Studien, in denen Religionslehrkräfte nach ihren Zielvorstellungen für den Religionsunterricht gefragt werden, so zeigt z.B. die aktuellste von Pirner und Wamser aus Bayern von 2019, dass die politische Bildung auf Rang 10 von 16, also im unteren Mittelfeld liegt. Ein ähnliches Ergebnis findet sich schon in der Studie von Feige und Tzscheetzsch von 2005 aus Baden-Württemberg in Bezug auf die Zieldimension: „meinen Schüler/innen die gesellschaftlich-politische Dimension von Religion nahezubringen“ (Feige & Tzscheetzsch, 2005, S. 25). In beiden Studien wird deutlich: Die politische Dimension des Religionsunterrichts schwingt zwar mit, hat aber in der Einschätzung der Lehrkräfte für die Inhalte ihres Religionsunterrichts keine zentrale Bedeutung.
Um derartige theoretische und empirische Befunde mit der Praxis in Relation zu setzen, wurde die GwR-Tagung vom 6.-9.9.2019, auf der die Beiträge für dieses Themenheft diskutiert wurden, in Kooperation mit der Evangelischen Akademie Frankfurt am Main, dem hessischen LOEWE-Verbundforschungsprojekt Religiöse Positionierung: Modalitäten und Konstellationen in jüdischen, christlichen und islamischen Kontexten (www.relpos.de) und dem Religionspädagogischen Institut der EKHN und EKKW (RPI) durchgeführt, die jeweils Möglichkeiten mit sich brachten, die Tagungsthemen öffentlich sichtbar zu machen. Darüber hinaus fand am zweiten Konferenztag eine Reihe von Workshops mit Frankfurter Institutionen statt, darunter das Anne-Frank-Bildungszentrum, das Zentrum für Salafismusprävention im „Violence Prevention Network“ Frankfurt und die Hessische Stiftung für Frieden und Konfliktforschung. Publiziert wird in dieser Zeitschrift nur der Beitrag „Verschiedenheit achten – Gemeinschaft stärken". Hierbei handelt es sich um ein interreligiös-dialogisches Projekt aus Offenbach, das im Jahre 2003 an der dortigen Theodor-Heuss-Schule, einem Berufsschulzentrum mit ca. 2000 Schülerinnen und Schülern aus rund 70 Nationen, entwickelt und umgesetzt wurde.
Nach Jahren, in denen Schülerinnen und Schülern eher politisches Desinteresse nachgesagt wurde, scheint mit Fragen um den Klimawandel, Debatten um Migration und mit der religiösen Pluralisierung ein neues politisches Interesse bei Jugendlichen greifbar. In vorangehenden Jahrzehnten hatten entsprechende Entwicklungen stets Auswirkungen auf die Religionspädagogik. Es bleibt abzuwarten, was sich diesmal inhaltlich wie strukturell bewegen wird.
Literaturverzeichnis
EKD (2014). Religiöse Orientierung gewinnen. Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.
Feige, A. & Tzscheetzsch, W. (2005). Christlicher Religionsunterricht im religionsneutralen Staat? Stuttgart: Kohlhammer Verlag.
Schlag, Th. (2010). Horizonte demokratischer Bildung: Evangelische Religionspädagogik in politischer Perspektive (Religionspädagogik in pluraler Gesellschaft). Freiburg: Herder Verlag.
Schließer, Chr. (2019). Theologie im öffentlichen Ethikdiskurs: Studien zur Rolle der Theologie in den nationalen Ethikgremien Deutschlands und der Schweiz (Öffentliche Theologie). Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt.
Pirner, M. & Wamser, D. (2019). Religionslehrende in Bayern (ReliBa) Eine repräsentative empirische Erhebung zu ihrer Religiosität und Professionalität. URL: http://www.rupre.uni-erlangen.org/pdfs/praesentation-reliba-2017-sw.pdf
Moritz Emmelmann
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Praktische Theologie mit den Schwerpunkten Religionspädagogik und Bildungsforschung, Georg-August-Universität Göttingen.
Dr. David Käbisch
Professor für Religionspädagogik und Didaktik des evangelischen Religionsunterrichts,
Goethe Universität Frankfurt am Main.
Dr. Karlo Meyer
Professor für Religionspädagogik an der Universität des Saarlandes, Saarbrücken.
Dr. Mirjam Zimmermann
Professorin für Religionspädagogik/Fachdidaktik, Universität Siegen.
Ausgewählte Zitate siehe www.wahl-o-mat.de/sachsen2019/ Die Haltung der AFD in Sachsen unterscheidet sich damit von der in Hessen, die bei der letzten Landtagswahl im Jahr 2018 schrieb: „Grundsätzlich sollte der konfessionelle (und v.a. islamische) Religionsunterricht in [hessischen] Schulen abgeschafft werden, hierzu bedürfte es jedoch einer Grundgesetzänderung.“ (https://archiv.wahl-o-mat.de/hessen2018/) In Brandenburg wiederum, in dem bekanntlich das Fach LER unterrichtet wird, findet sich keine vergleichbare These im Wahl-O-Mat, doch das komplexe Verhältnis von Politik, Religion und Bildung klingt bei anderen politischen Themen an, z.B. „Das Tanzverbot an stillen Tagen (z.B. Karfreitag, Volkstrauertag) soll abgeschafft werden", vgl. www.wahl-o-mat.de/brandenburg2019. Als Antwort schreibt DIE LINKE in Brandenburg: „DIE LINKE möchte Tanzverbote an Feiertagen, wie Karfreitag, abschaffen. Wir stehen für eine freie und offene Kultur für alle. Menschen sollten selbst entscheiden dürfen, ob sie an Feiertagen tanzen gehen möchten.” Bei der AFD ist wiederum zu lesen: „Das Tanzverbot an bestimmten Tagen resultiert aus der Geschichte und Kultur unseres Landes. Die Tanzverbote an Karfreitag und Heiligabend sind mit den höchsten christlichen Feiertagen verbunden, ohne die unsere abendländische Kultur nicht denkbar ist.“