Einleitung

In dieser Arbeit geht es, ganz allgemein formuliert, um die Frage, wie Jugendliche mit dem plötzlichen Tod eines Mitschülers umgehen. Dieses Mit-dem-Tod-Umgehen hat verschiedene Facetten. Zunächst: Wie drücken die Jugendlichen ihre eigene Trauer aus? Kommen dabei auch die Hinterbliebenen in den Blick oder bleiben sie bei sich selbst? Inwiefern ist der Tote selbst Adressat von Äußerungen? Sind Jugendliche eigentlich in der Lage angemessen Beileid zu bekunden? Woran kann man eine angemessene Beileidsbekundung überhaupt festmachen? Diesen Fragen soll auf den Grund gegangen werden. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob sich im Gedenkbuch Ansätze zu einer Trauerbewältigung finden lassen: Wie gehen Jugendliche damit um, dass der Tod auch in ihr Leben einbrechen kann, und was sind ihre Bewältigungsstrategien?

Als Forschungsgrundlage dient die Kopie eines Gedenkbuchs, welches nach dem tragischen Unfalltod eines 15-jährigen Schülers in einem eigens geschaffenen „Raum der Stille“ in der Schule ausgelegt worden war. Die Schulgemeinschaft konnte etwas in dieses Buch hineinschreiben. Auf einem beigelegten Blatt stand, das Buch werde anschließend den Angehörigen des verstorbenen Schülers übergeben.[1]

Zu Beginn wird in zwei Theorieabschnitten betrachtet, was Beileidsbekundungen und Trauerbewältigung auszeichnet bzw. was darunter verstanden wird, um in der Analyse zu sehen, an welchen Deutungsmustern sich die Schülerinnen und Schüler orientieren. In der Inhaltsanalyse des Gedenkbuches wird als erstes betrachtet, wie die jungen Menschen Beileid bekunden und an wen sie ihr „Kondolenzschreiben“ adressieren. Welcher Formen des Trostes bedienen sich die Schülerinnen und Schüler und kann die Beileidsbekundung im Endeffekt wirklich tröstlich für die Hinterbliebenen sein? Im zweiten Schritt wird dann analysiert, mit welchen Strategien die Schülerinnen und Schüler versuchen, ihre Trauer zu bewältigen. Liegen hier religiöse Bewältigungsstrategien vor, oder bedienen sich die jungen Menschen aus dem breiten Spektrum an nicht-religiösen Angeboten?

Die wichtigsten Erkenntnisse aus der Analyse des Gedenkbuchs dienen schließlich als Grundlage für die Entwicklung von Perspektiven in Bezug auf den religionspädagogischen Umgang mit Tod, Trauer und Ewigkeit. Diese christlichen Perspektiven, welche sich mit dem Himmel, der Auferstehung und dem Leben als Fragment beschäftigen, werden im Abschnitt 4 mit den Ergebnissen der Analyse verknüpft. Welche Deutungsmuster kann der Religionsunterricht den Schülerinnen und Schülern anbieten, um ihre Kompetenzen im Umgang mit Tod und Trauer zu stärken?

1 Beileidsbekundung als Kompetenz

Es fällt vielen Menschen schwer über den Tod zu sprechen. Ein Todesfall im Verwandten-, Freundes- und Kollegenkreis oder in der Nachbarschaft stellt Menschen vor große Herausforderungen (EKHN, 2016). Sie wissen nicht, was sie den trauernden Hinterbliebenen sagen sollen und wie sie ihnen am besten Trost spenden können. Es gibt in der wissenschaftlichen Literatur kaum Antwort auf die Frage, wie man einen trauernden Menschen gut unterstützt.

Im Internet dagegen finden sich vielfältige Ratgeber für Beileidsbekundungen in Form von Kondolenzschreiben. Bei genauerer Recherche bekommt man auch Hinweise, wie man mit den hinterbliebenen Menschen umgehen und sie unterstützen kann. Auch Berufsgruppen wie Pfarrerinnen/Pfarrer und Bestatterinnen/Bestatter, welche häufig mit trauernden Menschen konfrontiert sind, geben auf Homepages konkrete Ratschläge zur Beileidsbekundung.

Viele der Internet-Seiten erläutern, dass ein Kondolenzschreiben dem Empfänger das Gefühl vermitteln soll, mit dem Verlust nicht alleine zu sein und damit Trost zu spenden (Bestattungsinstitut Korom, 2016). Es wichtig, den/die Empfänger/in wissen zu lassen, was der verstorbene Mensch einem bedeutet hat und dass man diesen auch vermisst. Dabei sollte man sich überlegt haben, was man den trauernden Menschen für die Zukunft wünscht. Dies kann Kraft, Zuversicht oder das Wiederfinden der verlorenen Freude sein. Das Wichtigste dabei ist, dass die kondolierende Person ehrlich ist und in einfachen Worten schreibt, was sie wirklich fühlt. Es kann bei Beileidsbekundungen auch hilfreich sein, über die eigenen Gefühle zu sprechen, um den Angehörigen zu zeigen, welche Beziehung man zu der verstorbenen Person hatte (Bestattungsinstitut Müller, 2016).

Bei der Verwendung von Zitaten sollte darauf geachtet werden, dass diese zu dem Verstorbenen passen und es nicht irgendwelche unpersönlichen „Floskeln“ (Bestattungsinstitut Korom, 2016) sind. Gleiches gilt für Bibelzitate, denn diese sind nur hilfreich und tröstend für die Hinterbliebenen, wenn sie gläubig sind – oder der verstorbene Mensch gläubig war.

Was ebenfalls fast alle Bestattungsunternehmen betonen, ist, dass es einen Unterschied macht, in welchem Verhältnis man zu der verstorbenen Person und ihren Hinterbliebenen steht. Es gibt sehr viele Beispieltexte und Vorschläge dafür, wie man Kondolenztexte angemessen formuliert. Auffallend dabei ist, dass es eine Art Baukastensystem für Kondolenzschreiben gibt und diese in zwei Kategorien unterteilt sind. So kann man auswählen, ob man den Hinterbliebenen einer eher nahe stehenden Person schreibt oder den Hinterbliebenen eines/r Kollegen/in.

Am Beispiel der Homepage des Bestattungsinstituts Korom (2016), wird gezeigt, wie so ein Baukastensystem aufgebaut ist. Grundsätzlich folgen die meisten vorformulierten Beileidsschreiben einem spezifischen Aufbau:

Tabelle 1: Vorschlag zum formalen Aufbau von Beileidsbekundungen (Bestattungsinstitut Korom, 2016)

Die Angebote der Bestattungsinstitute stützen die Eingangsthese, dass ein Todesfall eine besondere Herausforderung für Menschen ist. Sie brauchen Unterstützung, wenn sie trauernde Menschen ansprechen oder ihnen schreiben. Selbst bei Personen, welche ihnen nahe stehen, wissen sie in dieser besonderen Situation nicht, wie sie sich adäquat verhalten sollen.

Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau veröffentlicht auf ihrer Homepage unter dem Titel „Angemessen mit Trauernden umgehen“ ebenfalls eine Hilfestellung für den Umgang mit trauernden Menschen (EKHN, 2016). Hierbei handelt es sich um eine Zusammenfassung aus den Erfahrungen eines Pfarrers, eines Hospizseelsorgers und von Mitgliedern des Vereins der Bestatter. Sie erörtern neben den schriftlichen Beileidsbekundungen auch die zwischenmenschliche Dimension zwischen der trauernden Person und dem/der Beileidspendenden.

Dort wird benannt, dass das Angebot zum Gespräch für viele trauernde Menschen sehr hilfreich ist. Sie verarbeiten ihre Gefühle, wenn sie erzählen können, wie alles geschah und wie es ihnen jetzt geht. Während des Gespräches sollte man vor allem zuhören. Erinnerungen und Befürchtungen des trauernden Menschen sollte man versuchen zu verstehen und Ratschläge vermeiden, auch wenn diese gut gemeint sind. Neben den Gesprächen wird geraten, sich aktiv um das Wohlbefinden des trauernden Menschen zu kümmern. Viele Trauernde vergessen zu essen oder haben keine Kraft zum Kochen. Dies kann ein Anlass sein, dem Trauernden anzubieten, für ihn zu kochen.

Wer auf einen trauernden Menschen zugeht und diesem sagt, dass man weiß, wie er/sie sich fühlt, hilft der trauernden Person damit nicht, sondern nimmt ihr das Gefühl, eine ganz individuelle, einmalige und persönliche Trauer zu erleben, wie sie in dieser Kombination noch niemand vorher erlebt hat (Wilkening, 1997, S. 105). Der Respekt vor dieser Einmaligkeit verbietet es auch, andere Vergleiche anzustellen, wie etwa:

„Die Zeit heilt alle Wunden. Es muss weitergehen. Du musst jetzt stark sein. Er/Sie hätte nicht gewollt, dass Du so traurig bist. Wenigstens hat er/sie nicht gelitten. Es war Gottes Wille.“  (EKHN, 2016)

Den größten Fehler, den man allerdings machen kann, ist die trauernde Person erst gar nicht auf den Todesfall anzusprechen (EKHN, 2016). Viele Trauernde werden mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht anrufen und um Hilfe nachfragen, da sie keine Belastung sein wollen. Man sollte ihnen eher direkt praktische Hilfe anbieten, als ein Angebot für irgendwann zu formulieren.

Festzuhalten ist, dass es keine richtige Form der Beileidsbekundung gibt. Auch das Fehlen von Literatur und Forschung zeigt, dass es keine wirkliche „Verordnung“ zum Kondolieren geben kann. Jeder Mensch trauert anders und hat ein Recht auf seine individuelle Trauer. Orientieren kann man sich jedoch an den dargestellten Hinweisen und Tipps aus der Praxis. Diese Menschen haben Erfahrung mit trauernden Personen und bieten im Internet ihre Hilfestellung zum Umgang mit Trauernden an. Offen bleibt jedoch die Frage, ob Menschen in den Situationen von Überforderung und Trauer Ratschläge im Internet suchen. Hier könnte es sich als sinnvoll erweisen, das Bekunden von Beileid als Kompetenz zu erlernen. Der Gedanke, ob es sinnvoll ist, diese Kompetenzen schon in der Schule zu erwerben, wird im Diskussionsteil dieser Arbeit – nach der Auswertung des Gedenkbuches – erneut aufgenommen.

2 Trauerbewältigung als Kompetenz

In diesem Abschnitt soll es um die Formen von Trauerbewältigung gehen. Es gibt eine kaum noch überschaubare Vielzahl an Büchern zum Thema Trauer, Trost, Trauerbegleitung; dies betrifft zum einen Seelsorge-Fachbücher (exemplarisch Ziemer, 2000, Kap. 9.3 „Seelsorge im Trauerfall“), zum anderen die Literatur, die im Rahmen der Ausbildungen zum Trauerbegleiter/zur Trauerbegleiterin entstanden ist (exemplarisch Müller, Brathuhn & Schnegg, 2014). Seit 2012 gibt es sogar eine eigene Zeitschrift: „Leidfaden. Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer“. Hinzu kommen all die Veröffentlichungen in Aufsatzform, die es in Seelsorge-Zeitschriften wie „Wege zum Menschen“ gibt. Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, all dies systematisch zu sichten und im Hinblick auf „Trauerbewältigung als Kompetenz“ zu befragen. Es ist ohnehin fraglich, ob die Trauer nicht als ein natürlicher Prozess gesehen werden muss, der durchlebt, aber nicht „bewältigt“ wird. Hier sind mit „Trauerbewältigung“ eher die Strategien gemeint, deren sich die Jugendlichen bedienen, um mit dem erlebten Verlust umzugehen. Die oftmals beschriebenen Trauerphasen nach Verena Kast (2001), die in der Literatur als eines der wichtigsten Grundlagenmodelle für das Verständnis von Trauerprozessen gelten (Dossow, 2007, S. 56), sind jedoch für diese Arbeit nicht bedeutsam, da die Beiträge des Gedenkbuches allesamt in einer sehr frühen Phase nach dem Tod des Mitschülers entstanden sind, also zur Phase des Nicht-wahrhaben-Wollens gehören.

Auch werden nicht alle Schülerinnen und Schüler die Trauerphasen überhaupt durchlebt haben, da viele von ihnen – wie aus den Beiträgen hervorgeht – den Verstorbenen nicht persönlich gekannt haben. Bei der Betrachtung des Gedenkbuches wird jedoch klar, dass fast alle Mitschülerinnen und Mitschüler, die in das Gedenkbuch hineingeschrieben haben, auch mitgetrauert haben.

Das Mittrauern der Schülerinnen und Schüler ist zunächst einmal nichts Verwunderliches, denn Trauer ist zu Beginn eine natürliche Reaktion auf ein Verlusterlebnis (Wilkening, 1997, S. 83). Nach Wilkening (1997) ist etwas verloren gegangen – in unserem Fall auf dramatische und plötzliche Weise ein Mitschüler – und es folgt der schmerzliche Umgewöhnungsprozess; vereinfacht gesagt: der zurückgebliebene Teil fühlt sich beraubt und möchte den verlorenen Teil wiederhaben. Es wird dabei nur schwer akzeptiert, dass dies nicht mehr möglich sein wird (ebd., S. 84). Immer wieder laufen Gewohnheiten ins Leere. „Diese vielen kleinen schmerzvollen Abschiede vom bisher Vertrauten werden ‚Trauerarbeit‘ genannt.“ (ebd.)

Die individuelle Trauerarbeit ist allerdings auch an die gesellschaftlichen Bedingungen angepasst. Die Bedingungen von Sterben, Tod und Trauer haben sich, wie Lammer (2010, S. 39) dokumentiert, in unserer modernen Gesellschaft stark verändert. Da wären an äußerlichen Bedingungen zum Beispiel die demographische Veränderung, medizinische Fortschritte oder die Verlagerung des Sterbeortes in das Krankenhaus. So gehört Sterben und Tod nicht mehr wie früher zum Alltag, sondern lediglich alle 15 bis 20 Jahre tritt ein Todesfall im engeren familiären Umfeld auf (ebd., S. 40). Dadurch treten Tod, Sterben und Trauer im allgemeinen Erleben und Bewusstsein immer mehr in den Hintergrund und die Bewältigung wird immer weniger eingeübt (ebd.).

Hinzu kommt nach Lammer noch der Rückgang sozialer Riten und Trauergebräuche, darunter speziell der Rückgang der kirchlichen Bestattungen (ebd.). Durch das Schwinden des öffentlich sichtbaren Umgangs mit Trauer, Tod und Sterben wird die soziale Gemeinschaft im Umgang damit zunehmend ungeübt und verunsichert. Was die Soziologie auch für viele andere Lebensbereiche feststellt, trifft insbesondere auf den Bereich Sterben, Tod und Trauer zu: „Privatisierung und Individualisierung von Lebenslagen“ (ebd., S. 44).

In den verschiedenen Stadien der Trauerarbeit und bei Menschen mit unterschiedlichen Biographien können nach Wilkening (1997, S. 106) oft unterschiedliche Dinge ein Trost oder eine Hilfe sein. So können einige Menschen Trost schöpfen, indem sie an ein Wiedersehen im Jenseits glauben, während andere den überraschenden Unfalltod als Strafe sehen könnten und dadurch verbittern (ebd, S. 83).

Nach Ulrich Pfeifer-Schaupp (2008, S. 43) sind Trauer und Leiden, Krankheit und Schmerzen Probleme, die bewältigt werden müssen. Trauer muss durch Trauerarbeit überwunden werden. Diese Perspektive hat wertvolle Erkenntnisse über Coping-Strategien, Bewältigungsmechanismen hilfreicher und nicht hilfreicher Art beschert.

Im Allgemeinen kann man Stress als eine Alarmreaktion des Körpers verstehen. Gefahr oder Bedrohung löst zahlreiche körperliche Reaktionen aus, darunter die Ausschüttung der Stresshormone Adrenalin, Noradrenalin, Dopamin und Cortisol (Satow, 2012, S. 5). Bei genauer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass Stress mehr ist als eine einfache Reaktion auf eine Bedrohung. Was den einen Menschen in Stress versetzt, lässt einen anderen völlig kalt (ebd.). Offenbar entscheiden sowohl die Einschätzung von Situationen als auch der Umgang mit Stress darüber, wie Stress erlebt wird und wie er sich auswirkt.

„Bereits im Alltag kann man beobachten, dass Menschen unterschiedlich mit Stress umgehen. Während einige Menschen in Panik und Aktionismus verfallen, greifen andere zu Alkohol- und Zigaretten. Wieder andere stecken den Kopf in den Sand. Einige Menschen analysieren aber auch in aller Ruhe das Problem und versuchen, die Stressquellen systematisch zu beseitigen. Die unterschiedlichen Verhaltensweisen im Umgang mit Stress werden auch als Coping bezeichnet.“ (ebd.)

Coping steht für Stressbewältigungs-Strategien. Das Stress- und Coping-Inventar (SCI) wurde mit dem Ziel entwickelt, die aktuelle Belastung durch Stress, die psychischen und körperlichen Folgeerscheinungen (Stresssymptome) sowie den Umgang mit Stress (Coping) zuverlässig zu messen. Dazu umfasst das SCI folgende psychometrische Skalen: (1) Stress durch Unsicherheit; (2) Stress durch Überforderung; (3) Stress durch Verlust und tatsächlich eingetretene negative Ereignisse; (4) körperliche und psychische Stresssymptome (Satow, 2012, S. 3).

Ein weiterer bekannter Fragebogen zur Messung der Stressbewältigung (Coping) ist der „Brief COPE“ von Carver (1997). In diesem Fragenbogen unterscheidet man insgesamt 14 unterschiedliche Arten mit Stress umzugehen. Faktorenanalysen konnten diese Struktur jedoch nie bestätigen (Satow, 2012, S. 5). Tatsächlich können Menschen in der Regel nur wenige grundlegende Coping-Strategien unterscheiden. Die meisten Faktorenanalysen lassen auf drei bis fünf solcher Strategien schließen: (1) positives Denken; (2) aktive Stressbewältigung; (3) soziale Unterstützung; (4) Halt im Glauben; (5) Alkohol- und Zigarettenkonsum (ebd.).

Für diese Arbeit sind die Durchführung und die Methode dieser Messungen nicht weiter relevant, sondern wir bedienen uns lediglich der inhaltlichen Systematik der Skalen. Die Trauer der Mitschülerinnen und Mitschüler kann nämlich mit „Stress“ insofern gleich gesetzt werden, als die Punkte „Stress durch Unsicherheit“, „Stress durch Überforderung“ und „Stress durch Verlust“ sowie tatsächlich eingetretene negative Ereignisse die tatsächliche Situation der Schülerinnen und Schüler zum Zeitpunkt des Schreibens abbilden. Dabei dienen die vier Punkte, welche zum Umgang mit dem Stress gehören, als kategorische Einordnung. Der Punkt Alkohol- und Zigarettenkonsum wird dabei ignoriert, da er im analysierten Gedenkbuch keine Anhaltspunkte hat.

3 Analyse des Gedenkbuchs

In diesem Abschnitt geht es um die Analyse des Gedenkbuches. Als erstes wird die Methode beschrieben, mit welcher die Beiträge in dem Gedenkbuch ausgewertet wurden. Im Jahr 2009 war ein 15-jähriger Schüler auf dem Weg zur Schule tödlich verunglückt. Da sich der Unfall nur wenige Meter von der Schule entfernt ereignete und etliche Schülerinnen und Schüler diesen auch sahen, können sie sowohl von dem Verlust wie von dem Unfallereignis selbst betroffen sein.

Das Gedenkbuch, das zwei Wochen auslag, bot den Jugendlichen in dieser Situation die Möglichkeit, ihren Gefühlen Ausdruck zu geben. Wer das beigelegte Blatt wahrgenommen hat, konnte wissen, dass das Gedenkbuch später der Familie des Verstorbenen übergeben würde. Von der folgenden Analyse der Einträge erhoffen wir uns weiterführende Erkenntnisse für die Gestaltung von Lern- und Lehrprozessen bezogen auf das Thema Tod und Trauer.

3.1 Methode

Das Gedenkbuch wird mit der Methode der qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet. Dabei besteht das Grundkonzept der qualitativen Inhaltsanalyse nach Ramsenthaler (2013, S. 23) darin, Texte systematisch zu analysieren, indem das Material schrittweise mit theoriegeleitet am Material entwickelten Kategoriensystemen bearbeitet wird. Dabei geht es um eine Zusammenfassung des Textes und den darin enthaltenen Sinn in Kategorien darzustellen. „Das Kategoriensystem mit Kategorien, Unterkategorien, Kategoriendefinitionen und Ankerbeispielen stellt den in den ausgewerteten Texten enthaltenen latenten Sinn dar.“ (ebd.)

So wird es auch bei dem Gedenkbuch gemacht. Zunächst wird der Inhalt des Buches gesichtet und alle Beiträge des Buches nummeriert, sowie Seitenzahlen vergeben. Dies dient später zu einer sicheren Zuordnung der Beiträge. Dann werden in einem ersten Durchgang mit dem Theoriebezug die Einträge durchgesehen. Dabei wurden die Beiträge in verschiedene Adressaten-Gruppen sortiert. Der Befund ist in Tabelle 2 dargestellt. Im Anschluss daran werden einige Beiträge beispielhaft für die jeweilige Kategorie ausgewählt und interpretiert. Neben den eindeutigen Adressaten-Gruppen, gibt es auch Überschneidungen und Mischgruppen, was ebenfalls in Tabelle 2 zu sehen ist.

Es haben sich auch zwei Kategorien gebildet, welche nicht analysiert wurden. Zum einen sind das Beiträge, welche aufgrund der schlechten Kopie oder der Schrift nicht lesbar waren. Zwei Beiträge gab es auch in einer fremden Sprache, welche ebenfalls nicht mit analysiert wurden, da sie nicht verstanden wurden. Zum anderen gab es drei Einträge von Erwachsenen (Sekretärinnen und Lehrkräfte). Diese werden ebenfalls außer Acht gelassen.

In einem zweiten Schritt wird das Gedenkbuch erneut durchgesehen und in jedem der Beiträge beobachtet, welche Strategie der Trauerbewältigung die Schülerinnen und Schüler für sich in Anspruch nehmen. Die Beiträge werden dort ebenfalls verschiedenen Kategorien zugeordnet (Tabelle 3). Im Anschluss daran werden einige Beiträge beispielhaft für die jeweilige Kategorie ausgewählt und interpretiert.

Für diese Arbeit wird der Vorname des verstorbenen Schülers in Markus und der Nachname in Muster geändert. Ebenso wird das Datum des Unfalltodes – wenn es in den Beiträgen erwähnt wurde – durch „XX.XX.XX“ unkenntlich gemacht. Aufgrund der zahlreichen Rechtschreibfehler in den Beiträgen wurden die Fehler in den Zitaten nicht markiert, da für diese Arbeit nur der Inhalt von Bedeutung ist.

3.2 Formen des Trauerausdrucks bei Jugendlichen

Das Gedenkbuch für Markus lag zwei Wochen in der Schule aus und die Schülerinnen und Schüler konnten (für die Eltern) ihre Gedanken und Erinnerungen an Markus dort niederschreiben. 149 Beiträge zählte das Gedenkbuch am Ende. Die Einträge der Kinder und Jugendlichen sind adressiert an die Angehörigen, an den Verstorbenen selbst oder zum Teil in Form eines selbstreflexiven Selbstgesprächs an ihre eigene Person. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick zu den verschiedenen Kategorien, sowie über die Aufteilung der Adressaten.

 

Tabelle 2: In den Beiträgen adressierte Personen

 

Wie man der Tabelle entnehmen kann, gibt es letzten Endes sieben Adressatengruppen bei den Einträgen im Gedenkbuch. Dies ist der Form einzelner Bekundungen geschuldet, da diese entweder plötzlich die angesprochenen Person(en) wechseln, oder ihre eigenen Fragen in den Mittelpunkt ihres Eintrags stellen. Welche Formen von Trost in den verschiedenen Kategorien existent sind, soll nun im Einzelnen beleuchtet werden.

3.2.1 Der Verstorbene als Adressat

Wie man anhand der Tabelle sehen kann, haben ca. 45 Prozent der Texte den Verstorbenen persönlich angesprochen. Nimmt man die anderen beiden Mischgruppen (Selbstadressiert + Verstorbenen/Angehörige + Verstorbenen) mit dazu, haben über die Hälfte der Schülerinnen und Schüler den gestorbenen Mitschüler persönlich angeredet, obwohl ihnen bewusst ist, dass dieser die „Briefe“ selbst nicht mehr lesen kann. Auf diese Form der Trauerbewältigung, wird im nächsten Abschnitt genauer eingegangen.

Geprägt sind diese Schreiben sehr oft von gemeinsamen Erlebnissen mit Markus. Beispielhaft dafür stehen die beiden folgenden Beiträge:

„Lieber Markus. Wir kennen uns seit dem Kindergarten und es ist traurig, dass wir unsere gemeinsame Zeit nicht weiterführen können. Du warst so ein netter, lustiger und verständnisvoller Junge gewesen. Ich weiß noch, wir beide im Französischunterricht, wir haben immer unsere Lehrerin geärgert und hatten so viel Spaß! Ich kann es einfach nicht glauben, dass ich dich niemals wiedersehen werde! Du fehlst mir schon jetzt und ich wünschte, ich hätte dich nur noch ein letztes Mal in den Arm nehmen können! Du wirst immer in meinem Herzen bleiben und ich werde immer an dich denken.“ (Gedenkbuch, Beitrag 100, S. 49)

„Lieber Markus, Du warst so ein toller Mensch. Mit Dir könnte man immer viel lachen und hatte auch jede Menge Spaß. Wir verstehen einfach nicht, wie so etwas passieren konnte. Wir sind immer noch total geschockt. Und wenn wir jeden Morgen in der Schule sitzen, denken wir, dass unser lieber Werderfan doch noch zur Tür rein kommt. Am Tag vor deinem tragischen Unfall haben wir uns mit dir gefreut, dass Du die Klasse geschafft hast und mit uns auf Klassenreise fahren kannst. Tanzen war auch immer sehr lustig mit Dir und McDonalds danach. Auch wenn du jetzt nicht mehr bei uns sein kannst, bleibt die Erinnerung an Dich für immer erhalten. Du lebst in unseren Herzen weiter. Wir vermissen Dich“ (Gedenkbuch, Beitrag 85, S. 40)

Auch wenn der Verstorbene die Nachrichten an ihn nicht mehr lesen kann, so können sie dennoch für die Angehörigen des Verstorbenen eine tröstende Wirkung haben. Durch diese an Markus adressierten Einträge lassen die Schülerinnen und Schüler indirekt die Eltern an Situationen aus Markus’ Leben teilhaben. Sie können als tröstende Gedanken mitnehmen, dass ihr Sohn ein allseits beliebter Mensch war, mit dem andere Menschen gerne ihre Zeit verbracht haben.

Daneben finden sich einige Bekundungen welche an den Verstorbenen adressiert sind, aber wenig bis gar keinen Trost für die Angehörigen bereit halten:

„Markus, du warst immer nett zu allen die du kanntest, du hast ihnen geholfen wenn du konntest, jetzt brauchtest du einmal Hilfe, aber leider kam sie zu spät. RIP“ (Gedenkbuch, Beitrag 70, S. 37)

„Lieber Markus, ich bin mir nicht sicher ob, du dich noch an mich erinnern konntest. Doch ich kann dir sagen dass wir durch den Kindergarten und der Grundschule gute Freunde wurden. Was ich früh merkte, was das du ein Herzens Guter Mensch warst. Du gingst immer fröhlich und mit einem Lächeln umher. Du warst immer guter Laune. Das Leben ist so kurz um es zu genießen und gerade bei den besten Menschen ist dies schade. Auch ich habe dich mit der Zeit vergessen, mir wurde erzählt, dass ein Markus einen Unfall hatte doch dies war anfangs nur ein Name, ein Name in einem leeren Raum. Doch als Nils mir ein Bild von dir zeigte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich fing an zu zittern und konnte es nicht glauben […] Es ist schrecklich, schrecklich was auch die Eltern für einen schlimmen Schmerz verspüren. Doch wir denken an dich, Ruhe in Frieden“ (Gedenkbuch, Beitrag 13, S. 7)

In diesen Einträgen bemühen sich die Schülerinnen und Schüler Markus als einen positiven und hilfsbereiten jungen Mann darzustellen. Allerdings wird damit ein Konflikt konstruiert. Denn dass Markus’ Leben nicht gerettet werden konnte, wirkt wie ein Vorwurf an die Mitmenschen: Obwohl er immer hilfsbereit war, hat ihm keiner geholfen. Diese Aussage ist für die trauernden Angehörigen wenig tröstlich und kann sich im schlimmsten Fall sogar auf sie selbst projizieren, indem sie sich fragen, wie sie den Unfall – an dem kein Mensch etwas ändern kann – möglicherweise hätten verhindern können.

Auch in dem zweiten Beispiel wird der Versuch, Markus als hilfsbereiten und liebevollen Menschen darzustellen, überschattet von der Aussage, dass er keine Chance hatte, sein kurzes Leben zu genießen. Er wurde bis zum Überbringen der Todesnachricht sogar vergessen und der/die schreibende Mitschüler/in hat sich nicht mehr an ihn erinnert. Dies ist für Angehörige ebenso wenig tröstlich, wie ihnen zu schreiben, dass sie einen „schlimmen Schmerz verspüren“ (ebd.), denn diesen spüren sie ebenfalls.

Nicht wenige Mitschülerinnen und Schüler haben Markus persönlich geschrieben, obwohl sie ihn nicht kannten und zu Lebzeiten keinen Kontakt zu ihm hatten:

„Ich kannte dich nicht aber du warst bestimmt total nett. Ohne dich ist alles doof. Die ganze Schule trauert und vermisst dich. RIP“ (Gedenkbuch, Beitrag 80, S. 37)

„Lieber Markus, ich kannte dich leider nicht aber bestimmt warst du ein netter und fröhlicher Mensch gewesen.“ (Gedenkbuch, Beitrag 104, S. 51)

„Lieber Markus, ich selbst kannte dich nicht, aber ich finde das geht uns alle etwas an. Viele von uns haben dich dort liegen gesehen […] Und nun trauern nicht nur deine Freunde oder deine Familie sondern 800 Schüler […] Vielleicht war es aber auch besser, dass du nun gestorben bist, denn wenn du noch am Leben würdest wäre dein Leben bestimmt eine Qual! Selbst ich habe geweint und ich glaube es ging vielen so wie ich […] Das ist einfach so schrecklich! Wir vergessen diesen Tag nie!“ (Gedenkbuch, Beitrag 62, S. 32)

Hier zeigt sich ebenfalls kein wirklicher Trost für die Angehörigen von Markus, denn die Aussage, dass ohne ihn alles doof ist, klingt wie eine Floskel, welche viele Menschen mit einem Schaf verbinden, was vor einigen Jahren Einzug in Kinderzimmern und auf Schulutensilien fand.[2]  Des Weiteren fällt hier auf, dass der Verstorbene als bestimmt fröhlich und nett dargestellt wird, obwohl die Schülerinnen und Schüler ihn gar nicht gekannt haben.

In dem dritten Zitat (Beitrag 62) findet sich neben dem fehlenden Trost eine eher provokative Aussage. „Vielleicht war es aber auch besser, dass du nun gestorben bist, denn wenn du noch am Leben würdest wäre dein Leben bestimmt eine Qual!“ Hier lässt sich vermuten, dass der Mitschüler/die Mitschülerin auf den Unfall des Verstorben anspielt und offenbar davon ausgeht, dass Markus nach dem Unfall ein Pflegefall geworden wäre. Über das Motiv der Aussage kann nur spekuliert und dem/der Schüler/in positiv unterstellt werden, dass er/sie den Tod als eine Erlösung sieht, welche besser ist als ein Leben mit Behinderungen oder/und Qualen.

Für Eltern und Angehörige wird dies vermutlich wenig tröstlich sein. Hier lässt sich sehr deutlich ablesen, dass die Jugendlichen vor allem sich selbst und ihre Ängste im Blick haben und nicht Markus’ Angehörige.

Texte an den Verstorbenen und die Angehörigen

Zwei der Einträge, welche an Markus adressiert sind, richten sich auch explizit an die Angehörigen:

„Lieber Markus, keiner weiß warum du von uns gehen musstest. Du hattest noch dein ganzes Leben vor dir. Auch wenn wir dich nicht kannten trauern wir mit deinen Freunden und deiner Familie. Du warst sicher ein guter Mensch und wir hoffen es geht dir dort oben gut. Pass auf Lara, deine Freunde und vor allem auf deine Familie auf. Wir wünschen allen Trauernden Kraft und Stärke. Zusammen sind wir stark und schaffen das. Ein Mensch ist nur dann tot, wenn man ihn vergisst und das werden wir nie. In unserem Herzen lebst du weiter. Ruhe in Frieden“ (Gedenkbuch, Beitrag 83, S. 38)

Hier werden die Einträge zunächst an den Verstorbenen adressiert, auch wenn dieser nicht persönlich bekannt war. Trotz der Fremdheit des Verstorbenen trauern sie um ihn. Sie richten ihr Beileid und ihr Mitgefühl an die Angehörigen von Markus, mit den Worten: „Zusammen sind wir stark und schaffen das“. Dann verläuft sich die Bekundung allerdings in Floskeln, denn es heißt weiter: „Ein Mensch ist nur dann tot, wenn man ihn vergisst und das werden wir nie. In unserem Herzen lebst du weiter.“ Hier kommt Zweifel auf, wie man einen Menschen für immer im Herzen tragen will/kann, wenn man ihn überhaupt nicht gekannt hat. Durchaus ist eine gute Absicht zu erkennen, allerdings ist diese – wenn man sie mit den Hinweisen der Bestattungsinstitute und der Kirche vergleicht – nicht besonders kompetent und tröstend.

Texte an den Verstorbenen und die eigene Person

Wie in der Tabelle sichtbar, gibt es sieben Einträge in dem Gedenkbuch, welche die Schülerinnen und Schüler an den Verstorbenen richten, allerdings dann ihre eigene Person und ihre Fragen in den Mittelpunkt des Schreibens stellen:

„Lieber Markus, als ich erfahren habe, dass du von uns gegangen bist, war ich schockiert. Ich wusste nicht wie ich damit umgehen sollte. Ich habe mir immer die Frage gestellt Wieso? Wieso du? Wieso musstest du so früh von uns gehen? Ich verstehe das einfach nicht. Du warst immer ein froher Mensch. Du warst zufrieden mit deinem Leben! Jeden Tag bin ich am Unfallort und trauer. Ich versuche mich abzulenken, doch ich schaffe es nicht. Ich fange jeden Mal an zu weinen. Ich hoffe, da oben geht es dir gut. Du wirst immer in meinem Herzen bleiben! Wir vermissen dich“ (Gedenkbuch, Beitrag 81, S. 37)

„Lieber Markus, seit du tot bist ist alles anders. Ich bin oft traurig, dass du nicht mehr da bist, aber ich kann trotzdem lachen. Das ist auch gut so, denn es geht ja weiter. Ich hoffe dir geht es auch gut und wir werden uns irgendwann wieder sehen.“ (Gedenkbuch, Beitrag 98, S. 48)

In dieser Kategorie finden sich auch nur wenig tröstende Worte für die Angehörigen. Die Schülerinnen und Schüler fragen nach dem Warum und beschreiben in einem Selbstgespräch ihren Ausdruck von Trauer. Angehörige stellen sich in der Regel dieselben Fragen und finden auch durch das Wiederholen der Schülerinnen und Schüler keine Antworten darauf.

Der zweite Beitrag Nr. 98 wirkt wie eine Rechtfertigung, welcher sich hinter einer Floskel „…denn es geht ja weiter“ versteckt. Sicher stehen die meisten der Mitschüler/innen dem Verstorbenen nicht so nah wie Eltern und andere Angehörige und es ist deshalb legitim, dass ihr Leben nicht so lange von dem Todesfall überschattet wird und sie schneller in die Alltäglichkeit zurückfinden. Dies ist jedoch kein Trost für Menschen, welche in ihrem Trauerprozess noch nicht so weit sind.

In dieser Kategorie scheint es so, als ob die Schülerinnen und Schüler Antworten oder eine Bestätigung für ihre Fragen und ihr Handeln bräuchten. Im Vergleich zu den anderen Beiträgen, welche auch an Markus adressiert sind, wird hier weniger Rücksicht auf die Angehörigen genommen und die eigene Trauerbewältigung in den Mittelpunkt gerückt. Die Briefe an Markus sind so formuliert, dass sie Antworten von dem Verstorbenen erwarteten. Als würde Markus sagen, dass es okay ist, wieder zu lachen und sie nicht wegen ihm traurig sein sollen. Als Trost für die Hinterbliebenen ist diese Form allerdings äußerst ungeeignet.

Texte an den Verstorbenen – Resümee

Einträge in Form eines persönlichen Briefes an den Verstorbenen sind kritisch zu betrachteten. Zum einen gibt es zwar einige wenige tröstende Elemente für die Angehörigen, durch welche sie intime Einblicke in das Leben ihres verstorbenen Kindes bekommen. So können sie sehen, welche schönen Erlebnisse mit ihm geteilt wurden. Sie bekommen Gewissheit darüber, dass ihr Sohn viele Freunde hatte und bei vielen Menschen für seine freundliche und herzliche Art geschätzt wurde. Dies können durchaus sehr tröstende Elemente für Eltern sein.

Zum anderen dienen allerdings die meisten Beiträge wohl eher zur eigenen Trauerbewältigung der Schülerinnen und Schüler. Diese erinnern sich zwar an das Leben mit Markus zurück, nutzen den Raum für ihre eigenen Fragen und rechtfertigen ihr eigenes Denken und Handeln in Bezug auf den Tod ihres Mitschülers.

3.2.2. Die Angehörigen als Adressaten

Bei der zweitgrößten Gruppe der Texte im Gedenkbuch sind die Angehörigen die Adressaten der Briefe. 39 Mal wurde direkt an die Angehörigen geschrieben und ihnen Beileid ausgesprochen. Zusammen mit der Nebenkategorie (Angehörigen/eigene Person) sind es 45 Beiträge.

„Mein Beileid an alle Freunde und Angehörigen von Markus.“ (Gedenkbuch, Beitrag 2, S. 1)

Bei der direkten Ansprache der Angehörigen finden sich ebenfalls viele Formen der Beileidsbekundungen. Zum einen gibt es da die kurze und klassische Form, in der einfach nur Beileid ausgesprochen wird. Es wird nicht auf die Angehörigen oder den Verstorbenen eingegangen. Das einfache Aussprechen von Beileid ist eine Form der Anteilnahme, mit der sich jede/r schützend bedecken kann. Es ist ein Satz, ähnlich wie der Glückwunsch zum Geburtstag. Es wird nicht in Frage gestellt, wie ernst oder abwertend es ausgesprochen wird. Durch diese ritualisierte Form der Beileidsbekundung können die Schülerinnen und Schüler den Angehörigen ihr Beileid ausdrücken ohne größere Fehler zu begehen, ehrlicher Trost allerdings wird hier ausbleiben.

Legt man den eingangs zitierten Text auf der Homepage der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) als Maßstab an, ist beispielsweise die folgende Form der Beileidsbekundung unbedingt zu vermeiden: „Mein herzliches Beileid! Ich weiß wie schwer es ist, Abschied zu nehmen, also ‚Rest in Peace‘“ (Gedenkbuch, Beitrag 145, S. 10)[3]

Es mag sein, dass die Person, welche diesen Beitrag geschrieben hat, auch schon einen nahestehenden Menschen verloren hat, allerdings kann sie nicht wissen, wie schwer es ist, den eigenen Sohn zu verlieren. Diese Floskel kann unter Umständen auch Wut bei den trauernden Menschen auslösen, da sie es als Provokation verstehen können, dass jemand behauptet, ihren Schmerz nachempfinden zu können.

Viele der Beileidsschreiben an die Eltern beschreiben den besonderen Charakter des Verstorbenen und die Verfasserinnen und Verfasser bedanken sich für die Zeit, welche sie mit ihm verbringen durften.

„Ich wünsche ihnen, dass sie ihren Sohn als den großartigen und wundervollen Menschen im Gedächtnis behalten der er war. Sehen sie in sich nicht traurig zurück, sondern erinnern sie sich an die wundervollsten Momente mit ihm. Lassen sie ihn in ihren Herzen weiterleben. Er war der fröhlichste und offenste Mensch den ich je kennengelernt habe. Ich bin dankbar, dass ich ihn kennenlernen durfte.“ (Gedenkbuch, Beitrag 21, S. 12)

Hier wird den Angehörigen dafür gedankt, dass es Markus gab und was er für ein wundervoller Mensch gewesen ist. Es wird ermutigt, sich nicht mit dem Blick der Trauer an Markus zu erinnern, sondern dankbar zurück zu schauen und sich über die gemeinsamen und wertvollen Momente, welche man mit ihm erleben durfte, zu freuen. Diese Form der Beileidsbekundung kann für die Angehörigen durchaus tröstliche Elemente besitzen, da man dazu aufgefordert wird, sich an die schönen Momente zu erinnern und auch hier Gewissheit bekommt, dass der verstorbene Sohn eine geschätzte und beliebte Persönlichkeit war.

In einigen Beileidsschreiben wird versucht, den Verstorbenen unsterblich zu machen und eine Sinnstiftung zu konstruieren.

„Ruhe in Frieden. Markus ist von uns gegangen. Er ist jetzt in einer anderen unbekannten Welt. Ihr habt einen neuen Beschützer. Einen Engel der auf euch aufpasst und euch beschützt. Markus wird immer in unseren Herzen bleiben. Seid stark und haltet zusammen.“ (Gedenkbuch, Beitrag 22, S. 13)

Dadurch, dass Markus in Beitrag 22 als Engel bezeichnet wird, welcher immer auf die Angehörigen aufpasst, diese beschützt und immer in den Herzen bleibt, wird er gewissermaßen unsterblich gemacht. Er ist zwar nicht mehr real spürbar und sein Körper anwesend, aber als Engel immer noch ganz nah bei den Menschen auf der Welt. Dies soll den Eltern vermitteln, dass der Sohn nicht wirklich gegangen ist. Allerdings kann der Spruch „Seid stark und haltet zusammen“ wieder als eine unangemessene Aufforderung aufgefasst werden. Was bedeutet eigentlich „Stark-Sein“ in einem Trauerprozess? Darf man nicht trauern wie man möchte? Mit welchem Recht darf man trauernden Personen überhaupt Ratschläge (Rat-Schläge!) geben?

Neben dem Zeigen von Stärke wird auch dazu aufgefordert, zusammen zu halten. Hier stellen sich dieselben Fragen und es kann ebenfalls als Provokation aufgefasst werden, Ratschläge zu erhalten. Durch die ungeschickte Formulierung kann hier ein sicher liebevoll und herzlich gemeinter Satz seine tröstende Mission verfehlen.

Texte an die Angehörigen und die eigene Person

Ähnlich wie bei dem vorangegangen Abschnitt, gibt es auch bei dieser Form Schülerinnen und Schüler, die ihre Texte zwar an die Angehörigen adressieren, allerdings dann die eigenen Fragen und Bedürfnisse ins Zentrum rücken.

„Ich wollte etwas Einfallsreiches schreiben, aber mir ist klar geworden das nicht darauf ankommt. Ich möchte etwas Ermutigendes schreiben, aber ich kannte Markus nicht und sie kenne ich auch nicht und deswegen fällt es mir schwer.

Ich kann sagen, dass die ganze Schule trauert, Alle versuchen sich in ihre Lage zu versetzten, aber dies kann man nur, wenn man jemanden so wertvolles verloren hat. Ich weiß das kein Wort von mir ihren Sohn zurück holen wird – traurig aber leider war!

Ich weiß nicht, was ich glauben soll, zum einen all die Gerüchte und zum anderen die Glaubensfragen. Ich glaube oder glaubte, dass es einen Gott gibt, aber in solchen Momenten frage ich mich, warum er solche guten Menschen von uns nimmt!

Ich gebe die Hoffnung an eine gute Welt nicht auf und dies sollten sie auch! Ich hoffe sie können irgendwann ein annähernd normales Leben leben! Markus, nie werde ich dich vergessen! R.I.P“ (Gedenkbuch, Beitrag 12, S. 6)

Diese Bekundung fängt erstaunlich ehrlich an und klärt die Angehörigen über das Verhältnis zu dem Verstorbenen auf. Es wird ehrlich gesagt, dass man nicht weiß, wie man etwas Ermutigendes in so einer Situation schreiben soll. Die besondere Lage der Eltern wird hervorgehoben und bestärkt, dass ihre Trauer aktuell niemand nachvollziehen kann. Etwas Tröstendes wird hinzugefügt, nämlich das die komplette Schule gemeinsam um den verstorbenen Sohn trauert.

Anschließend kippt die Beileidsbekundung und die persönlichen Probleme und Glaubensfragen rücken in den Fokus. Wo am Anfang noch klar gesagt wird, dass man sich gegenseitig nicht kennt, müssen die Angehörigen jetzt die Glaubensvorstellungen, das Zweifeln an Gott und die kurz verlorene Hoffnung an eine gute Welt lesen. Dies ist wenig bis gar nicht tröstend für die Angehörigen und zeigt lediglich die Auseinandersetzung mit der eigenen Trauer.

Floskelhaft wirken auch hier die Aussagen, dass ein solch guter Mensch von uns gegangen ist und das er/sie Markus nie vergessen wird – floskelhaft deshalb, da er/sie einige Zeilen vorher beschreibt, den Verstorbenen nicht gekannt zu haben. Dieses Phänomen, dass der verstorbene Schüler auch von fremden Mitschülerinnen und Mitschülern als ganz besonders gut benannt wird und trotz der Fremde immer unvergessen bleiben wird, zieht sich nahezu durch das komplette Gedenkbuch. Darauf wird später in dieser Arbeit noch genauer eingegangen.

„Liebe Angehörigen,

Ich kannte Markus nicht sehr gut. Ich kannte ihn vom sehen und von Lara. Doch trotzdem bin ich sehr betroffen über das, was geschehen ist, denn er ist einer von uns.

Ich bin mir sicher, dass er all das, was wir nun für ihn machen sieht und hört. Und ich glaube daran, dass es ihn freut, wie sehr wir doch alle an ihn denken, jeder von uns.

Niemand hätte gedacht, dass so etwas auch einmal uns betreffen könnte. Und nun weiß ich auch, mit welcher Angst mein Vater mich auf dem Roller losfahren lässt, mit den Worten ‚Fahr Vorsichtig!‘ Markus soll in Frieden unter den Engeln ruhen…

Mein Beileid an Familie und Angehörige, Freunde“ (Gedenkbuch, Beitrag 16, S. 8)

Auch in Beitrag 16 wird ein guter Einstieg gewählt und den Angehörigen erklärt, in welchem Verhältnis man zu dem Verstorbenen steht. Es wird das Verbindende herausgestellt und erklärt, warum man trotzdem trauert, auch wenn man Markus nicht kannte. Die Tatsache, dass beide auf derselben Schule waren verbindet sie. „Er war einer von uns“ schreibt er/sie in dem Kondolenzschreiben. Dann wird über das eigene Leben erzählt, darüber das man durch den Tod von Markus die eigenen Eltern und ihre Sorgen besser verstehen kann. Dies zeigt auch wieder eine Form der eigenen Trauerbewältigung, allerdings bietet es den Angehörigen von Markus keinen Trost. Lediglich der Zusammenhalt in der Schule und die Identifizierung mit Markus können tröstlich sein.

Texte an die Angehörigen – Resümee

Auch bei der direkten Beileidsbekundung an die Angehörigen fehlt es den Schülerinnen und Schüler an Kompetenz. Zwar beherrschen einige von ihnen die gesellschaftliche Form der klassischen Beileidsbekundung ohne besonderen Trost und ohne etwas Unangemessenes zu schreiben. Allerdings verlieren einige das Nähe-Distanz-Verhältnis zu den Angehörigen aus den Augen. Sie machen ihnen Vorschläge, wie sie mit ihrer Trauer umgehen sollen, obwohl sie die trauernden Personen überhaupt nicht kennen. Man identifiziert sich und unterstellt, dass man genau wisse, wie sich die Angehörigen jetzt fühlen. Daneben rückt auch die eigene Trauerbewältigung in den Fokus und lässt damit das Tröstliche weichen.

Einige Schülerinnen und Schüler beherrschen jedoch auch die Kompetenz, den Angehörigen ihr Mitgefühl auszusprechen, zu beschreiben, was für ein besonderer Mensch der Verstorbene war und die Dankbarkeit für die gemeinsame Zeit zu betonen. Diese werden allerdings oft mit Floskeln untermalt.

3.2.3 Die eigene Person als Adressat

Neun der Beiträge sind – neben den schon beschriebenen in den anderen Kategorien – weder an Markus noch an die Angehörigen adressiert, sondern einzig und allein an die schreibende Person selbst.

„Es ist wie ein Traum. Immer noch denke ich, ich wache gleich auf und nichts ist passiert, ich kanns immer noch nicht begreifen. Nur der große Zusammenhalt der Schule gab uns bzw. mir die Kraft, alles zu verarbeiten.

Ich frage mich ständig: Warum?

Ich weiß, niemand kann diese Frage beantworten, aber: Warum bloß?

Markus wird IMMER in meinem Herzen bleiben, ich werde ich nie vergessen. Markus, ruhe in Frieden“ (Gedenkbuch, Beitrag 135, S. 66)

Hier wird auffallend häufig der Gebrauch von Ich-Botschaften verwendet. Die Schreibenden wollen Antworten auf das Warum und erwähnen immer wieder, dass sie nicht glauben können, was passiert ist. Es wird der Wunsch geäußert, die Zeit zurück zu drehen und alles ungeschehen zu machen.

„Ich kann es einfach nicht glauben, was passiert ist, ist so schrecklich. Wieso er??? Er war sehr fröhlich du ein Netter freundlicher Mensch. Wir hatten zwar nicht viel miteinander zu tun, aber ich vermisse ihn. Früher waren wir alle zusammen draußen und haben zusammen gespielt. Auf Markus Geburtstagen war ich meistens das einzige Mädchen, doch er war immer nett zu mir obwohl ich ihn die meiste Zeit zugetextet habe. Ich weiß nicht ob es ihn gestört hat, wenn ja hat er sich nichts anmerken lassen. Ich finde das alles so traurig. Ich wünschte das alles wäre nicht passiert. Ich wünschte man könnte die Zeit zurück drehen und ihn aufhalten, aber es geht nicht. Ich wünsche Markus Familie viel Kraft für die nächste Zeit und hoffe, dass so etwas nie wieder passiert.“ (Gedenkbuch, Beitrag 141, S. 71)

Es werden zwar auch gemeinsame Situationen mit Markus wiederholt, allerdings dienen diese der eigenen Trauerbewältigung und der Rechtfertigung, dass ihn das, was passiert ist, hoffentlich nicht gestört hatte. Obwohl den Angehörigen viel Kraft für die nächste Zeit gewünscht wird, bleiben auch diese Beileidsbekundungen wenig tröstlich. Der Wunsch, dass es nie mehr Unfälle geben möge, wird sich nicht erfüllen und bringt den Angehörigen im Nachhinein auch ihren Sohn nicht mehr zurück.

3.2.4 Unpersönliche Texte

Ein Zehntel der verwendeten Beiträge finden sich in der Kategorie der unpersönlichen Texte wieder. Diese sind zum einen dadurch geprägt, dass es keinen Adressaten gibt, welcher angesprochen wird, und zum anderen handelt es sich um abgeschriebene Sprüche und Zitate.

„Es tut mir leid was passiert ist. Ich war auch traurig obwohl ich ihn nicht gut kannte“ (Gedenkbuch, Beitrag 148, S. 62)

„Wir alle bedauern sehr, dass so ein freundlicher und hilfsbereiter Mensch so früh von uns gehen musste“ (Gedenkbuch, Beitrag 3, S. 1)

„Er war sehr nett! Und hat allen geholfen“ (Dabei ein gekritzelter Ottifant) (Gedenkbuch, Beitrag 123, S. 61)[4]

Diese Beiträge sind weder adressiert noch beschreiben sie das Verhältnis, in welchem die Schreibenden zu dem Verstorbenen gestanden haben. In den ersten beiden Beiträgen befindet sich allerdings eine Form der Anteilnahme und es wird bedauert, was passiert ist. In den anderen beiden Beiträgen wird der Verstorbene wieder als nett, freundlich und hilfsbereit dargestellt. Auch wenn das dritte Beispiel keinen Trost und keine Beileidswünsche enthält, vermittelt es dennoch ein positives Bild des Verstorbenen.

„Das Leben ist eine Brücke, gehe hinüber aber baue kein Haus darauf, denn was vom Leben bleibt, ist im Tode wertlos. (Graffiti an einer indischen Stadtmauer)“ (Gedenkbuch, Beitrag 43, S. 25)

Dieses und einige ähnliche Zitate befinden sich in dem Gedenkbuch. Hier stellt sich allerdings die Frage, welchen tröstenden Gedanken die Angehörigen dadurch vermittelt bekommen sollen? Das Zitat gibt ja eher eine Anweisung für das Leben, denn es sagt, dass man sich nicht zu sehr an irdischen Dingen festhalten soll, da sie mit dem Tod wertlos werden. Da Markus schon gestorben ist, kann ihm diese Weisheit nichts mehr nützen.

Gerade die Momente, Situationen und besonderen Erlebnisse mit Markus zu Lebzeiten auf dieser Erde, können hier häufig als Trost wahrgenommen werden und diese Momente und Erlebnisse bleiben über den Tod hinaus bestehen und sind wertvoll für alle, die den Verstorbenen kannten. Hier wird die Hilflosigkeit bzw. Inkompetenz zur Beileidsbekundung besonders deutlich.

„Meine Eltern waren schockiert als ich ihnen erzählt habe, das ein Markus Muster vom Auto angefahren wurde und zwei Mal wiederbelebt werden musste. Mir ist bei dem Namen nichts aufgefallen, aber meinen Eltern sofort. Ich finde es doof, dass vor der Ampel immer noch 50km/h erlaubt sind.“ (Gedenkbuch, Beitrag 36, S. 22)

Auch in Beitrag 36 wird die mangelnde Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler, Empathie auszudrücken, deutlich. Allenfalls könnte man diesem Beitrag zugute halten, dass er besonders ehrlich ist und keine Gedanken und Beileidswünsche künstlich erzeugt wurden. Hier zeigt sich die Distanz, welche der/die Mitschüler/in zu Markus hatte. „Mir ist bei dem Namen nichts aufgefallen“, kann zum einen so gelesen werden, dass er den Verstorbenen wirklich nicht gekannt hatte, seinen Namen noch nie gehört hat und deshalb keine Empfindungen zu dem Tod verspürt, oder es meint eine Gleichgültigkeit zu dem Tod des Mitschülers.

Das Argument der Gleichgültigkeit kann allerdings durch den zweiten Satz widerlegt werden, wenn man davon ausgeht, dass die besagte Ampel jene ist, an der Markus seinen Unfall hatte. Dann könnte der Satz: „Ich finde es doof, dass vor der Ampel immer noch 50km/h erlaubt sind“ als Ausdruck seiner/ihrer Gedanken zu dem Unfall und Form der individuellen Trauerbewältigung gedeutet werden.

3.2.5 Formen des Trauerausdrucks – Eine Zusammenfassung

Festzuhalten bleibt, dass nur sehr wenige Schülerinnen und Schüler in der Lage sind, eine kompetente Beileidsbekundung zu verfassen. Dabei muss jedoch bedacht werden, dass es keine letztgültige Form von kompetenten Beileidsbekundungen gibt, sondern wie oben schon beschrieben, Hilfestellung und Hinweise von Menschen, welche sehr oft mit trauernden Menschen konfrontiert sind.

Ebenfalls gilt es festzuhalten, dass sich in vielen Beiträgen Elemente des Tröstens finden lassen, welche für die Angehörigen wirklich eine Unterstützung sein können – für die Zeit des Trauerns und darüber hinaus. Dies kann das Teilen der besonderen Momente mit Markus sein, welche die Eltern nun auch miterleben und sich darüber freuen können. Sie können sich freuen, dass ihr Sohn ein beliebter Mensch war, mit dem viele Menschen gerne Zeit verbracht haben, an welche sie sich gerne zurückerinnern. Ebenso können die direkten, kurzen und ganz klassischen Beileidsschreiben tröstend sein. Dass so viele Menschen an die Angehörigen denken und an sie schreiben kann als Unterstützung in der schweren Zeit dienen.

Auffallend häufig dient der Eintrag ins Gedenkbuch jedoch als eigene Bewältigungsstrategie und wird somit nutzlos für die Angehörigen, da es keinen Trost, sondern lediglich Zweifel und offene Fragen enthält. Die eigene Trauer um Markus zu verarbeiten und dabei zugleich die Angehörigen als Lesende der Texte im Blick zu behalten und ihnen Trost und Unterstützung zu spenden, ist vielen Schülerinnen und Schülern nicht möglich. Hier fehlen wichtige Kompetenzen.

3.3 Trauerbewältigung bei Jugendlichen

In vielen Einträgen des Gedenkbuches verarbeiten die Kinder und Jugendlichen eher ihre Trauer, als dass sie den Eltern und Angehörigen des Verstorbenen Trost spenden. Ihre Trauerbewältigungsstrategien lassen sich grob in vier Kategorien einteilen: „Positiv denken“, „Aktive Stressbewältigung“, „Soziale Unterstützung“ und „Halt im Glauben“.

Ebenso wie bei den Beileidsbekundungen lassen sich nicht alle Beiträge klar den vier Kategorien zuordnen. Die Kinder und Jugendlichen bedienen sich teilweise mehrerer Strategien, um die eigene Trauer zu bewältigen. Nach der Durchsicht der Einträge wurde eine weitere Kategorie für sinnvoll erachtet: Das „Ausdrücken von Emotionen“.

Zu beachten ist dabei auch, dass alle Beiträge, in denen die Schülerinnen und Schüler dem Verstorbenen persönlich schreiben, generell schon eine Form der Trauerbewältigung sind. Der persönliche Brief dient als Hilfe persönlich Abschied zu nehmen und Unausgesprochenes auf diesem Weg doch noch mitzuteilen (Platow & Böcher, 2010, S. 134). Auch werden in Todesanzeigen immer öfter die Toten angeredet oder es steht vor den Namen der Hinterbliebenen statt „In stiller Trauer“ „Deine xy“. Die Schüler nehmen hier also auf, was gesellschaftlich üblich ist.

Die nachfolgende Tabelle gibt einen Überblick über die Beiträge, in denen sich Trauerbewältigungsstrategien erkennen lassen und in welche Kategorien sie sich einordnen lassen.

Tabelle 3: Verwendete Bewältigungsformen

 

 

 3.3.1 Positives Denken als Bewältigungsstrategie

Die häufigste Strategie zur Trauerbewältigung bei Kindern und Jugendlichen ist das positive Denken. Es lassen sich 67 Einträge des Gedenkbuches in diese Kategorie einordnen. Dabei ist die häufigste Methode, dass der Verstorbene unsterblich gemacht wird. Dies wird zum einen bestätigt durch Sätze wie „Ein Mensch ist erst tot, wenn die Erinnerung an ihn verblasst. Er lebt weiter in unsren Herzen“ (Gedenkbuch, Beitrag 1, S. 1) oder „Aber du bist nicht weg, sondern lebst nur woanders!“ (Gedenkbuch, Beitrag 39, S. 24).

Diese Sätze sind meistens gepaart mit der Behauptung, dass man den Verstorbenen niemals vergessen werde und er immer im Herzen weiterleben wird. Dies erscheint fast schon floskelhaft, denn sehr häufig ist der Verstorbene überhaupt nicht mit der schreibenden Person bekannt gewesen.

„Lieber Markus, wir kannten dich zwar nicht persönlich […] Wir werden immer an dich denken und dich in unseren Herzen behalten.“ (Gedenkbuch, Beitrag 86, S. 40)

Es wird versucht sich damit zu trösten, dass der Verstorbene in den Herzen weiterlebt und deshalb nicht wirklich tot ist. Durch dieses Konstrukt trösten sich die Schülerinnen und Schüler selbst, denn sie müssen nicht wirklich von ihm Abschied nehmen.

Daneben gibt es auch positive Gedanken, welche den Tod als eine Erlösung sehen, dass man jetzt an einem Ort ist, wo es keine Ungerechtigkeit und keinen Egoismus gibt.

„Nun bist Du fort doch näher denn je zuvor. In meinem Kopf sehe ich dein Gesicht, höre deine Stimme und dein Lachen und denke mir: DU bist an einem besseren Ort. In einer Welt in der Gerechtigkeit herrscht, die nicht von Selbstsucht regiert wird. Ich werde dich nie vergessen.“ (Gedenkbuch, Beitrag 57, S. 29)

Hier wird neben dem „Nie-Vergessen“ des Verstorbenen davon ausgegangen – oder gehofft – dass es ihm jetzt besser geht und man sich damit tröstet, dass die Welt der lebendigen Menschen geprägt ist von Neid und Ungleichheit. Es wird sich dadurch getröstet, dass Markus gestorben ist, diese Welt verlassen hat und jetzt in der anderen Welt friedlich und glücklich weiterleben kann. Der Tod wird hier positiv und hoffnungsvoll gesehen. Dieser Beitrag ist ein Beispiel dafür, dass man die Einträge nicht homogen einordnen kann, denn neben den positiven Gedanken, wird hier auch die Kategorie „Halt im Glauben“ mit bedient.

„Es ist einfach schrecklich was passiert ist. So etwas sollte nie wieder passieren. Ich war selbst Zeuge davon und es ist zum Heulen. Ich kannte ihn zwar nicht aber es geht allen sehr ans Herz. Ich wünsche seiner Familie und seinen Freunden und allen anderen die nötige Kraft um diese schlimme Zeit zu überstehen. Vergessen wird man es und vor allem ihn nie. Er bleibt immer in euren Herzen. Er wird nie ganz von und gehen. Alle vermissen ihn sehr, er hatte noch so ein langes Leben vor sich… Wir denken an ihn, solange wir leben werden … Alle haben etwas daraus gelernt, doch muss immer erst etwas passieren, damit man etwas unternimmt? Das ist so schlimm und einfach nur unvergessbar.“ (Gedenkbuch, Beitrag 130, S. 64)

Der Tod des Mitschülers wird durch positives Denken als eine Warnung konstruiert. Alle haben etwas aus dem Tod gelernt und werden in Zukunft vielleicht vorsichtiger über die Straße gehen oder beim Fahrradfahren stärker wachsam sein. Auch Kraftwagenfahrer können daraus lernen und fahren in Zukunft behutsamer und aufmerksamer an Schulen oder Fußgängerübergängen vorbei. Markus‘ Tod war nicht umsonst, sondern hat Zeichen gesetzt für die Zukunft. Es wird als Bewältigungsstrategie ein Sinn des Todes gebildet, sodass der Unfall eine Warnung war und auf keinen Fall sinnlos oder überflüssig. Dadurch, dass man diese schlimme Situation nie vergessen wird, bleibt die Warnung ewiglich und Markus wird zu so etwas Ähnlichem wie einem Held, der sich geopfert hat, um anderen die Augen zu öffnen.

Positives Denken und soziale Unterstützung

Das Bewältigen der Trauer durch soziale Unterstützung ist bei den Schülerinnen und Schüler eng verbunden mit positiven Gedanken und wird deshalb in einem gemeinsamen Abschnitt dargestellt. Es wird ein positiver Sinn der Gemeinschaft konstruiert.

„Lieber Markus,

Ich selbst kannte dich nicht, aber ich finde, das geht uns alle etwas an. Viele von uns haben dich dort liegen gesehen … Und nun trauern nicht nur deine Familie, sondern 800 Schüler …Vielleicht war es aber auch besser, dass du nun gestorben bist, denn wenn du noch leben würdest wär dein Leben bestimmt eine qual! Selbst ich habe geweint und ich glaube es ging vielen so wie ich … Das ist einfach so schrecklich! Wir vergessen diesen Tag nie!“ (Gedenkbuch, Beitrag 62, S. 32)

Wie in einigen Beiträgen schon zu lesen, ist Markus an den Folgen eines Unfalls gestorben. Ebenso wie der/die verfassende Schüler/in haben Markus viele andere auch durch die Luft fliegen sehen und mitbekommen, wie er mehrmals reanimiert wurde. Hier liegt die Vermutung nahe, dass der/die Schüler/in, welche diesen Beitrag verfasst hat, davon ausgeht, dass Markus kein normales Leben mehr führen könnte. Hinter dem Wort „Qual“ lassen sich Szenarien wie ein lebenslanger Pflegefall oder Wachkoma vermuten. Der Tod wird hier ebenfalls als eine Erlösung konstruiert, denn dem Verstorbenen bleiben Schmerzen, Qualen und eventuelle lebenslange Folgeschäden erspart. So wird sich mit positiven Gedanken über die Trauer hinweg getröstet.

Dieser Beitrag ist auch Beispiel für die Überschneidung bzw. dem Bedienen mehrerer Strategien zur Trauerbewältigung. Die soziale Unterstützung wird hier ebenfalls zum Thema und man sieht sich als Teil einer großen trauernden Gemeinschaft. Das Leid wird geteilt und man konstruiert sich die tröstende Situation, dass man nicht alleine mit dem geschehen ist, denn allen anderen 799 Schülerinnen und Schülern geht es ebenso wie einem selbst.

„Markus, ich habe dich leider erst vor ca. einem halbem Jahr richtig kennengelernt. Doch was ich von dir gekannt habe, war einfach etwas Besonderes. Du warst so ein liebenswerter Mensch und warst immer für alle da. Dein Tod hat die ganze Schule zusammengebracht und wir haben erkannt, dass wir zusammenhalten müssen für Dich! Die Zeit die ich mit dir erlebt hab, kann man nicht mehr als wunderbar beschreiben. Noch vor zwei Wochen kam ich zu dir und erzählte dir, dass wir eventuell Nachbarn werden … und jetzt. Bleibst du mein Nachbar im Herzen. Du bist mein Vorbild, denn du bist Glücklich gestorben, glücklich mit Familie, Freunden und Freundin. Was kann man sich mehr wünschen. Vielleicht, dass der Unfall nie passiert wäre, doch sowas kann man leider nie verhindern … Ich vermisse dich, doch werde dich nie vergessen.“ (Gedenkbuch, Beitrag 135, S. 66)

In Beitrag 135 wird der Zeitpunkt des Todes von Markus als sehr positiv dargestellt, denn obwohl er noch sehr jung war, sei er sehr glücklich gestorben. Er hatte Familie, viele Freunde und eine Freundin. Er war zu Lebzeiten ein glücklicher und zufriedener Junge und ist gestorben, bevor er unglücklich sein konnte. Markus war ein Vorbild: Was sollte man sich mehr wünschen, als so glücklich von dieser Erde zu gehen? Durch die Tatsache, dass man den Tod und den Unfall nicht hätte verhindern können, wird hier das Positive gesehen, denn wenn man ohnehin sterben muss, dann sollte man so glücklich und zufrieden sterben wie Markus.

Des Weiteren wird durch den Tod von Markus ein Zusammenhalt gesehen. Der Tod war nicht sinnlos, denn er hat die ganze Schule zusammengebracht. Die Schülerinnen und Schüler sind sich durch den Tod ihres Mitschülers näher gekommen und sie haben durch ihn die wichtige Erkenntnis gewonnen, dass sie zusammenhalten müssen. Auch hier teilt man nicht alleine die Trauer um Markus, sondern ist verbunden in einer großen Gruppe von Trauernden, die jetzt zusammenhalten und sich gegenseitig unterstützen können.

Neben dem Zusammenhalt in der Schule, wo gemeinsam um einen Mitschüler getrauert wird, werden auch Zusammenhänge zu globalen Geschehnissen konstruiert.

„Als am 11. September das Unglück geschah, haben auch viele Menschen geweint und dieses eine bestimme Lied erinnert noch heute daran. Auch für dich gibt es ein Lied, das alle an dich unser Leben lang erinnern wird. Es ist dieses Lied von Bushido: Dieser Wunsch. Jedes Mal wenn ich es höre muss ich weinen und an dich denken. Ich hoffe für euch drei, dass ihr jetzt alle stark zusammen haltet und somit gemeinsam den Tod verarbeiten könnt. Ich finde es wichtig, dass nun alle zusammenhalten und sich gegenseitig trösten können.“ (Gedenkbuch, Beitrag 91, S. 45)

So wie bei den Terroranschlägen am 11. September 2001 viele Menschen in einer globalen Gemeinschaft trauerten, sieht es der/die Verfasser/in von Beitrag 91 auch jetzt für Markus. Damals war das Lied „Only Time“ der irischen New-Age-Musikerin Enya zur inoffiziellen Trauerhymne für die Opfer der Terroranschläge erhoben worden (Phleps, 2004, S. 58). Nachdem der Nachrichtensender CNN Szenen des einstürzenden World Trade Centers mit „Only Time“ unterlegt hatte, wurde es in den USA bekannt und beliebt und wird heute auch gerne zu Beerdigungen und Gedenkveranstaltungen gespielt (Ramona K., 2013).

Es drückt neben trauriger Schönheit auch den Wunsch nach Akzeptanz des Geschehens aus. Der Song widmet sich den im Leben unbeantworteten Fragen: „Who can say where the road goes, where the day flows, only time“ (Ramona K., 2013). Seit dem 11. September 2001 ist „Only Time“ untrennbar mit diesem Ereignis verbunden und wird zu jedem Jahrestag wieder gespielt (ebd.).

So konstruiert es sich auch der/die Verfasser/in für Markus mit dem Lied von Bushido. Dieses Lied soll ein Leben lang an Markus erinnern und ihn damit unvergesslich werden lassen. Diese Gemeinschaft ist wichtig für den/die Schüler/in, denn wenn alle an Markus denken und zusammenhalten, dann können sie sich gegenseitig trösten und sich durch die schwere Zeit tragen.

Positives Denken und das Ausdrücken von Emotionen

Ähnlich wie bei der sozialen Unterstützung ist es auch bei dem Ausdrücken der eigenen Emotionen der Schülerinnen und Schüler. Diese sind ebenfalls zum größten Teil in den Beiträgen zu finden, welche in die Kategorie des positiven Denkens eingeordnet sind. Neben dem Bekunden, dass Markus für immer in ihren Herzen weiterleben wird, stellen sie sich viele Fragen, die ihnen allerdings niemand beantworten kann.

„Jeden Tag und Nacht, jede Sekunde denke ich an dich und es kommt immer wieder diese Frage; 'Warum?'. Ich möchte mich an die schönen Erinnerungen mit dir erinnern. Denn so tief die Trauer auch sitzt das ist das einzige was bleibt. […] Ich hoffe, dass du uns von da oben sehen kannst und merkst, wie sehr wir dich alle vermissen. Ich habe einen sehr wichtigen Freund verloren das wir mir jetzt klar. Du wirst ewig in meinem Herzen weiterleben. Ich bin fassungslos, es ist unbegreiflich. P.S. Vielleicht werden wir uns wiedersehen.“ (Gedenkbuch, Beitrag 84, S. 41)

Hier wird die Frage nach dem Warum gestellt. Warum musste ausgerechnet Markus sterben? Der/die Schüler/in schreibt, dass er/sie pausenlos an den Verstorbenen denkt und will sich die schönen Erinnerungen in das Gedächtnis rufen. Erst jetzt wird klar, wie wertvoll dieser Freund gewesen ist und es wird darauf gehofft, dass man sich eines Tages wieder sieht. Auch hier wird der Verstorbene unsterblich gemacht, weil er für ewig in ihrem Herzen weiterleben wird.

„Ich wünschte man könnte diesen Tag rückgängig machen. Jedes Mal, wenn ich an der Ampel oder an der Gedenkstelle langfahre, muss ich an Dich denken und könnte weinen. Auch wenn wir nicht mehr so viel Kontakt hatten, trifft es mich sehr. […]. Alles was uns noch bleibt, sind die Erinnerungen an Dich! Du wirst immer in unseren Herzen bleiben und weiterleben.“ (Gedenkbuch, Beitrag 90, S. 43)

Hier wird der Wunsch geäußert, das Geschehene rückgängig zu machen und es wird beschrieben, wie stark die Emotionen mit der Unfallstelle zusammenhängen. Jedes Mal, wenn die Person an der Unglücksstelle vorbeifährt, erlebt sie starke Emotionen.

3.3.2 Halt im Glauben als Bewältigungsstrategie

Bei ungefähr 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler finden sich Glaubensaussagen, welche sich als Bewältigungsstrategie deuten lassen. Diese sind meistens geprägt von christlichen Glaubensvorstellungen. Dies wird deutlich durch die häufige Verwendung des Himmels als Markus‘ neues Zuhause.

„Markus. Die 2 Jahre die wir zusammen in der 5. und 6. Klasse waren sind auch schon etwas her, aber ich erinner mich gerne an diese Zeit zurück. Du warst immer so fröhlich, zu jedem nett. Ich kann einfach nicht glauben, dass das passiert ist. Du warst so glücklich und dann sowas. Aber du weißt, niemand wird dich vergessen. In unseren Herzen lebst du weiter! Und oben im Himmel, ich hoffe es geht dir da oben gut und ich denke auch, dass du uns von da aus siehst. Pass gut aus deine Familie. Freunde und deine Freundin auf. Du bist der beste Engel da oben“ (Gedenkbuch, Beitrag 7, S. 4)

Hier wird die Vorstellung formuliert, dass Markus nach seinem Tod im Himmel ist. Durch die Erwähnung des Himmels und die Konstruktion, dass Markus jetzt der beste Engel im Himmel ist, lässt sich dies mit christlichen Glaubensmotiven in Verbindung bringen. Dass Markus im Himmel ist, ist für den/der Schüler/in allerdings nicht tröstlich genug, sodass auch hier Markus unsterblich gemacht wird, da er in den Herzen weiterlebt. Die Zuschreibung des besten Engels ist eine weitere Absicherung dafür, dass es Markus jetzt gut geht und man seine eigene Trauer überwinden kann. Hier wird sich aus einem Pool vieler Möglichkeiten bedient und daraus eine Bewältigungsstrategie kreiert.

„Lieber Markus, Ich weiß ich kannte dich nicht richtig ich habe dich öfters in der Schule gesehen und wir waren zusammen in einer Gruppe auf dem Hamburger Dom. Doch das reicht, um dich zu vermissen und um dich zu trauern sehr viele Menschen vermissen dich doch ich hoffe es geht dir auch dort oben, im Himmel gut. Wir werden uns im nächsten Leben wiedersehen Da bin ich mir sicher. Ruhe in Frieden, ich werde dich niemals vergessen.“ (Gedenkbuch, Beitrag 61, S. 31)

In diesem Beispiel wird ebenfalls davon ausgegangen, dass Markus nach seinem Tod im Himmel ist. Es wird die Hoffnung formuliert, dass es ihm dort gut gehe und man sich im nächsten Leben wiedersehe. Vermutlich beschreibt das die Vorstellung, dass alle Menschen nach dem Tod an denselben Ort kommen und es dort ein Wiedersehen mit den verstorbenen Menschen gibt. Dies beschreibt auch der Ausschnitt eines weiteren Beitrages:

„Aber du würdest von uns nicht wollen das wir um dich trauern, oh vielleicht am Anfang, aber das Leben geht weiter. Ich denke mal, das du oben im Himmel schon auf uns wartest für eine neue Partie Poker. Wir werden kommen, wenn nicht jetzt, dann aber später. Wir sehen uns. Ich werde dich nie vergessen.“ (Gedenkbuch, Beitrag 96, S. 47)

Hier wird ganz deutlich formuliert, dass die Menschen alle an denselben Ort kommen, wenn sie sterben und es dann wirklich ein Wiedersehen gibt. Durch die Aussage über die Poker-Partie, wird der Tod von Markus als eine Art Unterbrechung des gemeinsamen Lebens gesehen. Es besteht hier die Vorstellung, dass im Himmel die gemeinsame Zeit auf ähnliche Art und Weise fortgeführt wird wie auf der Erde.

Andere Mitschülerinnen und Mitschüler glauben ebenfalls, dass Markus an einem anderen Ort weiterlebt, betiteln dies jedoch nicht explizit als Himmel.

„Markus, wir alle vermissen dich. Auch wenn wir dich nicht richtig kannten. Wir fühlen mit deiner Familie und deinen Freunden! Aber du bist nicht weg, sondern lebst nur woanders! Alle trauern und denken an dich, immer.“ (Gedenkbuch, Beitrag 39, S. 24)

„Lieber Markus!

Ich war 4 Jahre lang mit dir in einer Klasse. Du warst ein toller Mensch. Ich glaube, du es auch in der nächsten Welt gut wirst. Alle hier wünschen deinen Angehörigen viel Kraft und nun haben sie einen Schutzengel. Wir alle werden uns wiedersehen“ (Gedenkbuch, Beitrag 149, S. 39)

In diesen Beispielen wird Markus ebenfalls unsterblich gemacht, da er in einer anderen Welt – an einem anderen Ort – lebt. Hier ist nicht mit Sicherheit klar, woher dieses Denken stammt. Zum einen könnte der christliche Himmel gemeint sein, da die Schülerinnen und Schüler in einem von christlichen Vorstellungen geprägten Land leben, oder sie bedienen sich aus anderen Religionen, wie beispielsweise Vorstellungen von Wiedergeburt im Buddhismus. Es ist jedoch auch nicht auszuschließen, dass eine eigene neue Welt kreiert wird, die je nach Schüler/in ganz individuell aussehen kann.

In dem zweiten Beispiel wird Markus als Schutzengel dargestellt, dies ist wiederum keine Seltenheit bei den Schülerinnen und Schüler. Viele sind der Meinung, dass Markus jetzt ein Engel ist und auf die noch lebenden Menschen auf der Erde aufpasst.

„[…] Aber wir alle trauern um dich und werden dich niemals vergessen. Es bleibt die schöne Erinnerung…..dem Himmel zu, denn jetzt bist du ein Engel. Unser Schutzengel, der auf uns aufpasst.“ (Gedenkbuch, Beitrag 71, S. 35)

„[…] Und es bleibt diese eine Frage nach dem 'Warum?' … Es war zu früh, doch man kann nichts machen, um das Schicksal aufzuhalten. Es ist schrecklich und mein Beileid geht vor allem an die Familie und seien Freundin Lara. Ich glaube wir alle werden dich niemals vergessen und immer als einen liebenswerten, besonderen und einzigartigen Menschen in Erinnerung halten. Wenn ich mich zurück erinnere denke ich an deine Augen. Sie waren von mir aus gesehen das so besondere an dir […] Ich kann das alles nicht in Worte fassen … aber nun wache als Engel über uns und pass auf die Leute auf, die dich in deinem Leben begleiten. Ich hoffe nur, dass es dir nun dort wo du bist besser geht und ich bin mir sicher, dass du uns von dort oben sehen kannst!“ (Gedenkbuch, Beitrag 58, S. 30)

In dieser Konstruktion ist Markus ein Engel, welcher über die Menschen wachen soll, die ihn in seinem Leben begleitet haben. Der/die Schüler/in benutzt das Synonym „oben“ und hofft nur darauf, dass es Markus an dem Ort, wo er jetzt ist, besser geht. Ob mit diesem Ort der Himmel – welcher bei der Engelsvorstellung nahe liegen würden – gemeint ist, weiß man nicht. Es lassen sich nur Vermutungen anstellen, ob von der Person bewusst der Ausdruck „Himmel“ vermieden wurde, oder diese Aussage ohne tieferen Sinn niedergeschrieben wurde.

„Wir hoffen, dass es ihm gut geht, dort wo er jetzt ist. Eines Tages werden wir ihn dort wiedersehen.

Gott schickte uns einen Engel, doch so wie wir wollte auch er nicht mehr ohne diesen Engel leben. Er bekam ihn am XX.XX.XX durch einen schrecklichen Unfall zurück. Doch wir verloren unseren Engel an diesem Tag für immer.“ (Gedenkbuch, Beitrag 147, S. 45)

In dieser Konstruktion der Trauerbewältigung wird Markus als ein besonderer Engel dargestellt, der so liebevoll ist, dass selbst Gott nicht mehr ohne ihn leben möchte und ihn zu sich holt. Auffallend an dieser Bewältigungsstrategie ist, dass der Unfall dennoch so negativ betitelt wird und fehlende Engel auf Erden explizit erwähnt werden. Des Weiteren findet sich auch hier die Frage, ob es ihm wirklich gut geht an dem Ort, wo er jetzt ist.

„…Seit Freitag ist hier bei uns eine Lücke entstanden, doch der Sternenhimmel hat einen wunderschönen Stern dazu bekommen. Alles was uns noch bleibt, sind die Erinnerungen an Dich! Du wirst immer in unseren Herzen bleiben und weiterleben.“ (Gedenkbuch, Beitrag 90, S. 44)

Hier wird Markus als ein Stern am Himmel konstruiert. Diese Vorstellung kann als Bewältigung dienen, um die Lücke zu füllen, die sein Tod hinterlässt. Dieses Konstrukt lässt Markus auch immer bei den Menschen bleiben, denn die Sterne lassen sich bei wolkenfreier Nacht von der Erde aus sehen. So leuchtet Markus für den/die Schüler/in jede Nacht am Himmel und wenn er/sie hochschaut, ist es gewissermaßen wie bei einem Grab, ein Symbol, welches an den Verstorbenen erinnert.

3.3.3 Aktive Bewältigungsstrategien

Einige wenige Schülerinnen und Schüler gehen aktiv mit ihrer Trauer um und suchen beispielsweise bewusst den Ort auf, an dem sie mit Markus‘ Tod direkt konfrontiert werden. Gegenüber dem tatsächlichen Unfallort, der direkt auf der Fahrradtrasse liegt, die zu Schulbeginn und nach Schulende sehr stark befahren ist und deshalb nicht in Frage kam, wurde sehr rasch nach dem Unfall – ob von den Mitschülern oder der Familie ist nicht bekannt – eine Art Gedenkort eingerichtet. Nach nur wenigen Tagen standen dort zwei Kreuze mit dem Vornamen des Schülers, etliche Grablichte, in der ersten Zeit Massen an Blumen: von einzelnen Rosen bis zu bepflanzten Blumenschalen.

„Lieber Markus, wir vermissen dich alle soo derbe sehr ich war letztens mit Sophia – Tamara an deinem Denkmal und es hat im Herzen weh getan ich hoffe du findest Frieden da wo du jetzt bist alles Liebe.“ (Gedenkbuch, Beitrag 40, S. 24)

„Lieber Markus, als ich erfahren habe, dass du von uns gegangen bist, war ich schockiert. Ich habe mir immer die Frage gestellt Wieso? Wieso du? Wieso musstest du so früh von uns gehen? Ich verstehe das einfach nicht. Du warst immer ein froher Mensch. Du warst zufrieden mit deinem Leben! Jeden Tag bin ich am Unfallort und trauer. Ich versuche mich abzulenken, doch ich schaffe es nicht. Ich fange jedes Mal an zu weinen. Ich hoffe, da oben geht es dir gut. Du wirst immer in meinem Herzen bleiben! Wir vermissen dich.“ (Gedenkbuch, Beitrag 81, S. 37)

Die Konfrontation mit diesem Ort bewirkt bei den Schülerinnen und Schüler starke Emotionen, „…ich fange jedes Mal an zu weinen“ (Gedenkbuch, Beitrag 81, S. 37). Das Weinen ist wohl die bekannteste Reaktion auf einen Verlust. Es ist Ausdruck für Trauer und auch Schmerz und dient zum Ablassen von angestauter Erregung (Jerneizig, Langenmayr & Schubert, 1991, S. 79). Weinen hat zudem mehrere Aufgaben: Zum einen regt es das Immunsystem an und zum anderen wird Mitleid erregt, was meist zu Hilfe und Unterstützung durch die Umwelt führt (Jerneizig u.a., 1991, S. 79). Weinen ist auch ein normiertes Verhalten: Trauernde haben das Gefühl, es würde ein bestimmtes Weinverhalten von ihnen gefordert, so als gäbe es Normen darüber, wie viel und in welcher Weise Trauernde zu weinen haben (ebd.). Entgegen vieler Meinungen hilft heftiges Weinen allerdings nicht, um Trauer zu überwinden (ebd.).

Durch das Ablassen der angestauten Erregung, kann die aktive Bewältigung und Konfrontation mit dem Ort davor schützen, dass man sich einsam zu Hause zurückzieht und in eine Art Depression verfällt. Man setzt sich vielmehr stetig und aktiv mit dem Tod auseinander. Hier finden sich zusätzlich noch positive Hoffnungsgedanken sowie Glaubensvorstellungen als zusätzliche Bewältigung. Man hofft darauf, dass es Markus „da oben“ gut geht und er wird wieder einmal dadurch unsterblich gemacht, dass er für immer im Herzen weiterleben wird.

„Lieber Markus. Ich würde dir gerne so viel sagen, wozu ich keine Chance mehr habe. Mir fällt jetzt erst auf, wie wir sowas als selbstverständlich ansehen. Du warst ein wunderbarer Mensch und immer freundlich und offen. Im Französischunterricht haben wir so oft gelacht. Ich hoffe du weißt, dass ich dich lieb habe und du hier bei uns fehlst. Ich hoffe auch, dass du siehst wie viele Blumen, Briefe und Kerzen wir hier dir widmen. Schenk deinen Eltern kraft und ich hoffe du hast es da gut wo du jetzt bist.“ (Gedenkbuch, Beitrag 82, S. 38)

Hier werden aktiv Rituale – wie Blumen und Kerzen – in der Hoffnung darauf benutzt, dass Markus dies sieht und sich daran erfreuen kann. Auch in diesem Beitrag finden sich verschiedene Bewältigungsstrategien, wie der soziale Zusammenhalt, positives Denken und Glaubensvorstellungen. Markus soll es da, wo er jetzt ist, gut gehen und er soll seinen Eltern auf der Erde Kraft schenken. Dies kann mit der Schutzengelvorstellung verglichen werden, denn es wird sich dadurch getröstet, dass Markus gestorben ist und jetzt den Lebenden auf der Erde beisteht und ihnen Kraft spendet.

3.3.4 Trauerbewältigung – Eine Zusammenfassung

In diesem Abschnitt wurde deutlich, dass die Schülerinnen und Schüler mit positiven Gedanken versuchen, den Tod des Mitschülers zu rechtfertigen. Es wird versucht dem Tod einen Sinn zu entlocken, sodass Markus auf keinen Fall sinnlos von dieser Welt gehen musste. Entweder wird der Tod als Warnung oder als ein zukunftweisendes Ereignis gesehen, aus denen die Hinterbliebenen lernen können. Dies geht soweit, dass durch den Tod von Markus sogar die elterliche Sorge nachempfunden werden kann. Andere rechtfertigen den Tod durch die dadurch entstandene und sinnstiftende Gemeinschaft in der Schule unter allen Mitschülerinnen und Mitschülern. Hier bleibt die Frage, ob die Schülerinnen und Schüler Markus und seinen Tod überhaupt rechtfertigen müssen?

Ein fast durchgängiges Muster ist der Versuch, den Verstorbenen unsterblich zu machen. Er soll für immer im Herzen weiterleben und ist erst wirklich tot, wenn nicht mehr an ihn gedacht wird. Hier stellt sich die Frage, wie weit die Schülerinnen und Schüler dieses Versprechen einhalten können und was mit ihnen passiert, wenn sie merken, dass Markus irgendwann keinen präsenten Platz im Herzen hat.

Bei den Glaubensvorstellungen bedienen sich die Schülerinnen und Schüler aus einem breiten Repertoire an Möglichkeiten. Es ist jedoch auffallend, dass fast alle Szenarien von christlichen Glaubensvorstellungen beeinflusst sind. Die Schülerinnen und Schüler bedienen sich der Himmelsvorstellung und glauben daran, dass Markus jetzt ein Engel ist, welcher sie beschützt und begleitet. Dabei können sie allerdings nicht zweifellos daran glauben, dass es Markus dort gut geht. Sie stellen sehr häufig die Frage, ob es ihm dort gut geht. Hier lohnt es sich noch einmal genauer hinzuschauen, wie in der christlichen Religion der Himmel gedeutet wird und wo diese Vorstellungen mit denen der Schülerinnen und Schüler nicht identisch sind.

3. 4 Weitere Beobachtungen

In fast allen Beiträgen kann man lesen, was für ein sympathischer, netter, lieber, toller oder zuvorkommender Mensch Markus war. Er wurde von allen Schülerinnen und Schüler gelobt und als ein ganz besonderer Mensch beschrieben. Hier zeigt sich ein begrenztes Denkmuster der Schülerinnen und Schüler, denn alle scheinen dem Grundsatz zu folgen, dass man nicht schlecht über tote Menschen spricht. Dies scheint generell auch respektvoll und richtig, allerdings ist es etwas erstaunlich, dass alle Mitschülerinnen und Mitschüler an der Schule einen Menschen als etwas ganz Besonderes sehen. Es sind keine Ansätze erkennbar, sich mit den nicht ausgetragenen Konflikten und negativen Gedanken über den Verstorbenen auseinanderzusetzen, zu reflektieren und evtl. zu vergeben. Einschränkend muss jedoch auch gesagt werden, dass ein in der Schulöffentlichkeit einsehbares Gedenkbuch dafür der falsche Ort ist. Unglaubwürdig wirkt es dagegen, wenn in Beiträgen erwähnt wird, dass Markus bestimmt ein ganz toller und netter Mensch war, der/die Schreibende ihn aber nicht persönlich gekannt hatte:

„Ich kannte dich zwar nicht, aber du warst bestimmt ein guter Kumpel. Mein bester Freund kannte dich, ihn hat es ziemlich mitgenommen! Seit ich es erfahren habe, geht es mir schlecht“ (Gedenkbuch, Beitrag 79, S. 37)

„Ich kannte dich nicht aber du warst bestimmt total nett. Ohne dich ist alles doof. Die ganze Schule trauert und vermisst dich.“ (Gedenkbuch, Beitrag 80, S. 37)

Diese Beispiele zeigen noch eine andere Auffälligkeit, denn sie stehen direkt hintereinander. Es zeigt sich, dass die Schreibenden sich mit der Anrede und dem Schreibstil des Öfteren an den vorangegangen Beiträgen orientieren. Dies wird teilweise bereits an der Tabelle 2 ersichtlich und sei hier beispielhaft in Tabelle 4 noch einmal pointiert dargestellt.

Tabelle 4: Orientierung der Form an den Vorgängerbeiträgen

 

Auch dies kann ein Ausdruck von Überforderung sein: selber nicht zu wissen, wie der eigene und persönliche Eintrag beginnen und was der Inhalt sein soll.

4 Thematisierung im Religionsunterricht

Die Themen Tod und Sterben sowie das Weiterleben nach dem Tod sind mit der Endlichkeit des Menschen gesetzt und dadurch omnipräsent. Trotzdem kann eine von allen Menschen geteilte Semantik zur bildlichen Beschreibung des Unvorstellbaren, wie sie in den Religionen institutionalisiert ist, nicht mehr vorausgesetzt werden (Roose, Brieden & Heidemann, 2016).

Bei einer Studie von Feige und Gennerich (2008, S. 95) kam heraus, dass Jugendliche am häufigsten bei allen vorgelegten Fragen zu ihren Ansichten über den Zustand nach dem Tod die Negation ankreuzten. Neben dem Indiz dafür, dass sich Jugendliche mit der Thematik nicht befassen, kann es allerdings auch Signal für eine mögliche Thematisierbarkeit sein. Bei den Studien von Kuld, Rendle und Sauter (2000) und von Thiede (1991) kam heraus, dass die Behandlung des Themas fast für die Hälfte der Schülerinnen und Schüler nicht ausreicht.

„Selbst mehr als ein Viertel der an den absoluten Tod Glaubenden wollen das Thema im Religionsunterricht ‚ausführlicher als bisher‘ behandeln; nur insgesamt 3,6 Prozent lehnen es ab“ (Roose u.a., 2016).

Diese Ergebnisse entsprechen den Beobachtungen aus der Praxis. Trotzdem scheinen viele Lehrkräfte die Themen zu meiden, vielleicht auch deshalb, weil sie sich selbst unsicher fühlen (Roose u.a., 2016). Nicht selten kommt das Thema, welches sich mit Todes- und Trauervorstellung beschäftigt, aus Zeitgründen zu kurz. Lehrplananalysen stellen ein Defizit im Blick auf eschatologische Themen fest (Roose u.a., 2016). Dabei kommt das Thema Tod und Sterben in der Lebenswelt heutiger Kinder und Jugendlicher vermehrt und vielfältig vor, denn sie werden mit Fernsehnachrichten konfrontiert, vom Tod wird in Märchen und anderen Erzählungen erzählt und hat nicht zuletzt seinen Platz in Trickfilmen und Computerspielen (Jakobs, 2016). Es ist aber natürlich etwas anderes, ob ein Mitschüler stirbt oder ob eine Figur in einem Computerspiel stirbt.

In den nachfolgenden Abschnitten soll es um mögliche theologische Ansätze zur Behandlung des Themas im Religionsunterricht geben. Dabei liegt die Themenauswahl und Schwerpunktsetzung auf den Ergebnissen der Gedenkbuchanalyse.

4.1 Leben als Fragment

Viele der Schülerinnen und Schüler versuchen den Tod von Markus durch positives Denken zu rechtfertigen und stellen immer wieder die Frage, warum ein so junger Mensch, der sein ganzes Leben noch vor sich hatte, „gehen“ musste. In diesem Abschnitt soll es um eine mögliche christliche Perspektive zur Trauerbewältigung der Schülerinnen und Schüler gehen.

Henning Luther (1992) stellt in seinem Kapitel „Identität und Fragment“ Überlegungen zur Unabschließbarkeit von Bildungsprozessen an. Er richtet seinen Fokus dabei auf eine bestimme Version des Identitätsbegriffs, wonach es um die Ausbildung und Bewahrung einer vollständigen, ganzen und integrierten Identität zu gehen scheint (ebd., S. 160). Luther sieht dagegen das Leben als Fragment. Dabei stellt er zu Beginn des Kapitels den Text „Wer bin ich?“ von Dietrich Bonhoeffer voran.

„Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen, oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß? Wer bin ich, der oder jener? Bin ich denn heute dieser oder morgen ein anderer? Bin ich beides zugleich? Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“ (Bonhoeffer, zit. n. Luther, 1992, S. 160)

Der Begriff des Fragments kommt eigentlich aus dem ästhetischen Vorstellungsrahmen und beschreibt generell ein unvollendetes Kunstwerk. Er lässt sich jedoch in unsere Thematik übertragen, da Sozialisations- und Personalisationsvorgänge häufig wie ein künstlerischer Gestaltungsprozess verstanden werden, da ähnlich wie in der Kunst nach bestimmten Kriterien bemessen wird, ob etwas gelungen ist oder nicht (Luther, 1992, S. 167).

In der Kunst steht der Begriff des Fragmentes für etwas Unfertiges und ist damit negativ besetzt, für nicht gelungene, unvollständig gebliebene oder zerstörte Werke. Dabei gilt es nach Henning Luther, mindestens zwei Bedeutungen des Fragments zu unterscheiden. Zum einen gibt es da die Fragmente als Überreste, die Ruinen aus der Vergangenheit, welche mal ein fertiges Werk waren und nun zerstört zurück bleiben. Zum anderen sind da die unvollendet gebliebenen Werke, die ihre endgültige Gestaltungsform nicht oder noch nicht gefunden haben, also die Fragmente aus der Zukunft (ebd., S. 167). Fragmente weisen über sich hinaus. Sie leben und wirken in Spannung zu jener Ganzheit, die sie nicht sind und nicht darstellen, auf die hin aber der Betrachter sie zu ergänzen trachtet. Fragmente lassen Ganzheit suchen, die sie selber aber nicht bieten und finden lassen (Luther, 1992, S. 167).

Nach Luther ist das menschliche Leben ein Fragment durch die nicht vorhersehbare und planbare Endlichkeit des Lebens. Zwar ist der Tod insofern eine natürliche Gegebenheit, als unser Lebensende biologisch vorprogrammiert ist, doch lässt er das Leben immer zum Bruchstück werden. Der Tod nimmt generell die Möglichkeit einer in sich runden, ganzheitlichen Gestaltung des Gesamtlebens (ebd.).

„Menschliches Leben ist wesensmäßig fragmentarisch, weil selbst dann, wenn ein Mensch nach einem langen und erfüllten Leben stirbt, Möglichkeiten ungenutzt, Schuld ungesühnt geblieben ist. Jedes Leben, ob kurz oder lang, ist nicht nur möglicherweise reich an Erfahrungen des Gelingens, sondern auch an solchen des Scheiterns und des Verlustes. Insofern vollendet der Tod nicht das unvollständig gebliebene Leben, sondern verendgültigt dessen Unvollkommenheit.“ (Körtner, 2007, S. 5)

Allerdings ist nicht nur der Tod ein Teil des Menschseins, sondern auch die Tatsache, dass wir geboren werden. Die Endlichkeit des Lebens wird nicht nur durch den Tod unterbrochen, sondern beginnt auch mit der Geburt. Menschen haben zwar die Macht ihr eigenes Ende selbst und bestimmt herbeizuführen, aber niemals können sie Einfluss nehmen auf den Beginn des Lebens (ebd., S. 6). Daher ist es problematisch, wenn der Tod von manchen Philosophen und Theologen als Tat des Menschen interpretiert wird, in welcher der Mensch sich selbst vollende. Es mag uns gelingen, unser Sterben und das Leiden anzunehmen, doch nicht jeder stirbt bei vollem Bewusstsein und auch dann gelingt es uns allenfalls partiell, das Leiden wirklich in das eigene Leben zu integrieren (ebd.). So kann der Tod schnell als Inbegriff der Sinnlosigkeit verstanden werden.

Der christliche Glaube bezeichnet die Fragmenthaftigkeit des menschlichen Lebens im Lichte der Beziehung zwischen Gott und Mensch. In diesem Blickwinkel erscheint die Fragmenthaftigkeit einerseits als Gericht über den Menschen. Andererseits steht sie unter der Verheißung einer von uns selbst nicht zu leistenden Vollendung (ebd., S. 7). Die Vollendung unseres wesenhaft fragmentarischen Lebens ist der Inhalt der christlichen Hoffnung im Angesicht des Todes und ihren Grund in der christlichen Gewissheit der Auferweckung Jesu von Nazareth hat (ebd., S. 8).

Unter diesem Ansatz können – und sollten – die existentiellen Fragen neu gestellt werden. Anstelle der Frage, was nach dem Tod kommt, ist die christliche Hoffnung im Hier und Jetzt, also im Angesicht unseres eigenen bevorstehenden Todes sowie angesichts des Todes der anderen zu fragen, die vor und neben uns sterben (ebd., S. 18). So ist der Auferstehungsglaube letztlich nichts anderes als die Form des christlichen Gottesbegriffs, demzufolge Gott seinem Wesen nach Liebe ist. So besteht sein existentieller Sinn in der Gewissheit, dass nichts von der Liebe Gottes scheiden kann, nicht einmal der Tod (ebd.).

Angesichts des Analysebefundes, dass die Schülerinnen und Schüler versuchen den Tod von Markus durch positives Denken zu rechtfertigen und sehr häufig die Frage stellen, warum so ein junger Mensch sterben musste, bietet die Metapher des Fragments hilfreiche Denkperspektiven. Denn es ist sicherlich eine Tatsache, dass Markus jung gestorben ist und noch viel erleben, leisten und lieben hätte können. Diese Chance hatte er auf der Erde nicht mehr, denn sein Leben wurde schmerzhaft abgebrochen. Hier kann die Theorie von Henning Luther eine tröstende Perspektive sein, denn sieht man das Leben als Fragment, dann ist es nicht entscheidend, in welchem Alter ein Mensch stirbt. Denn selbst dann, wenn ein Mensch nach einem langen und erfüllten Leben stirbt, bleibt Schuld ungesühnt und Lebensmöglichkeiten sind ungenutzt verstrichen. Kein Leben in keinem Alter ist also fertig auf der Erde; und durch den Tod – die Auferstehung in das ewige Leben – wird Markus’ Unvollkommenheit vollendet.

4.2 Himmel – Eine christliche Perspektive

In diesem Abschnitt soll einmal darauf geschaut werden, was das Christentum unter dem Himmel und dem ewigen Leben versteht. Denn wie aus den Beiträgen hervorging, sind fast alle Bewältigungsstrategien der Kinder und Jugendlichen von christlichen Glaubensvorstellungen geprägt und beeinflusst. Sie glauben und hoffen, dass Markus nach seinem Tod im Himmel oder einer anderen Welt wohnt.

Knapp die Hälfte der deutschen Bevölkerung glaubt in unterschiedlicher Weise an die Weiterexistenz der Menschen über den Tod hinaus (Roose u.a., 2016). Obwohl im Osten Deutschlands zwei Drittel der Menschen den Tod für ihr absolutes Lebensende halten, hofft mehr als die Hälfte von ihnen auf eine Wiederbegegnung mit Verstorbenen im Jenseits. Diese Hoffnung wird im Westen von knapp zwei Drittel der Menschen geteilt (ebd.). Es ist ein sehr verbreitetes Phänomen, dass Menschen bei der Frage nach einem Weiterleben über den Tod hinaus etwas anderes hoffen als das, was sie für wahrscheinlich halten (Streib & Gennerich, 2011, S. 143–164). Die damit gegebenen Inkonsistenzen in den persönlichen Konstruktionen zeigen, dass die Befragten kein abgeschlossenes Gedankensystem zum Thema Tod haben und eine entsprechende Offenheit für Bildungsprozesse angenommen werden kann.

Spannend ist, dass in Deutschland eher die jüngeren Menschen unter 30 Jahren vermehrt und stärker an ein Weiterleben nach dem Tod glauben, als dies ältere Menschen tun (Roose u.a., 2016). Dieser Befund deckt sich mit den Ergebnissen des Gedenkbuches, denn fast alle Schülerinnen und Schüler glauben daran, dass Markus nach seinem Tod in einer anderen Welt, im Himmel oder in ihren Herzen weiterlebt. Mit der konstruierten Unsterblichkeit für Markus trösten sich die Schülerinnen und Schüler über den Verlust hinweg. Dabei ist allerdings auffallend, dass sie nicht zu 100 Prozent sicher sind, dass es ihm dort auch gut geht. Die Frage sowie die Hoffnung darauf, dass es ihm gut geht, sind in den meisten Einträgen des Gedenkbuches zu finden.

Im apostolischen Glaubensbekenntnis beten die Christinnen und Christen weltweit: „Ich glaube an […] Auferstehung der Toten und das ewige Leben“ (Luther, 1996, S. 7). Die biblische Vorstellung von Auferstehung ist, dass Körper und Geist, Leib und Seele in irgendeiner Form nach dem Tod miteinander verbunden bleiben. Diese Untrennbarkeit ist in der Schöpfung begründet: Gott hat den Menschen erschaffen als sein Ebenbild, mit seinem Leib, mit seiner Seele und mit seinem Geist. Die Hoffnung der christlichen Auferstehung ist, dass diese Beziehungen auch über den Tod hinaus eine Zukunft haben. So wie auch bei dem auferstandenen Christus, welcher als „Erstling der Entschlafenen“ (1 Kor 15,20) den Tod überwunden und von seinen Jüngerinnen und Jüngern an seinen Gemeinschaft stiftenden Taten identifiziert wurde, hoffen Christgläubige auf eine Vollendung ihrer Identität über den Tod hinaus (Roose u.a., 2016).

Jesus, Gottes Sohn, ist laut biblischer Überlieferung nach seinem Tod zu seinem Vater in den Himmel aufgefahren und lebt dort mit den Engeln und anderen Verstorbenen weiter. Dabei bleibt für viele Menschen die Frage, wo sich eigentlich der Himmel befindet. Schaut man sich in alten Kirchen um, dann kann man viele Bilder davon betrachten, wie Menschen sich das Jenseits vorstellten. Sie malten sich den Himmel als einen glücklich machenden, paradiesisch schönen Ort aus, an dem sie ganz nahe bei Gott sind und welcher sich über der Erde befindet (Neyster & Schmitt, 1993, S. 154). Auch heute verbindet unsere Redensart noch großes Glück, absolute Vollkommenheit und grenzenlose Freude mit dem Bild des Himmels.[5] Der Himmel ist allerdings nach Neyster und Schmitt (1993) in einer theologischen Perspektive kein Ort, sondern ein Zustand. Es ist die endgültige Gemeinschaft mit Gott (S. 154). Sie führen die folgenden biblischen Belegstellen dafür auf:

„Wir wissen, daß wir ihm ähnlich sein werden, wenn er offenbar wird; denn wir werden ihn sehen, wie er ist “ (1 Kor 15,20)

„Jetzt schauen wir in den Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht“ (1 Kor 13,12)

„Er wird in ihrer Mitte wohnen und sie werden sein Volk sein; und er; Gott wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen; der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, kein Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen. Er, der auf dem Thron saß, sprach: Seht, ich mache alles neu.“ (Off 21,3-5)

Der Himmel ist verheißen für alle Menschen, auch wenn wir nicht wissen, wo er ist und wie es dort aussieht. Gott hat allen Menschen zugesichert, dass ihre Sehnsüchte nach dem wahren Frieden, nach endgültiger Gerechtigkeit und nach einem Leben in liebender Gemeinschaft in Erfüllung gehen werden (S. 154).

Angewendet auf unsere Analysebefunde könnten die Schülerinnen und Schüler im Unterricht nun erfahren, was die christliche Botschaft des Himmels und des Reichs Gottes ist, nämlich ein Zustand, in dem die Menschen mit Gott leben und er allen zugesichert hat, dass ihre Sehnsüchte nach dem wahren Frieden, nach endgültiger Gerechtigkeit und nach einem Leben in liebender Gemeinschaft in Erfüllung gehen werden. Dieses Deutungsangebot könnten die Schülerinnen und Schüler für sich prüfen und ggf. ihre Zweifel und Fragen loslassen, ob es dem Verstorbenen im Himmel denn gut gehe. Darüber hinaus könnten sie das traditionell-christliche Deutungsangebot als Alternative prüfen. Denn Jugendliche deuten den Himmel überwiegend innerweltlich-präsentisch (Gennerich, 2015, S. 126), was sich im Gedenkbuch darin spiegelt, dass sie Markus erinnernd im Herzen behalten wollen. Von dieser Vorstellung könnten sie sich frei machen oder sie zumindest relativieren. So, dass sie Markus nicht in ihrem Herzen am Leben halten müssen, um nicht für seinen endgültigen Tod verantwortlich zu sein. Denn es ist nur allzu wahrscheinlich, dass Markus irgendwann nicht mehr in ihren Herzen präsent ist. Hier kann die christliche Deutung die Schülerinnen und Schüler trösten, dass er bei Gott ist und es ihm gut geht und sie für sein Leben in Ewigkeit keine Sorge tragen müssen.

4.3 Was sind Engel?

Aufgrund der häufigen Betitelung von Markus als Engel oder Schutzengel, soll auch dieses Thema näher betrachtet werden. Was sind in der christlichen Theologie Engel und welchen Zweck erfüllen sie?

Wie Berger (2006) zusammenfasst, werden in der Bibel Engel als unsichtbare Mächte beschrieben, welche Gott, Jesus Christus, dem einzelnen Menschen oder sogar dem Teufel dienen. Die Engel, welche im Auftrag Gottes stehen, sind Ausdruck seiner Herrlichkeit und verkünden sein Wort auf Erden (ebd., S. 7). Sie beschützen und behüten die Menschen und preisen Gott. Er waltet durch sie in der Welt und sie sind eine Brücke von den Menschen zu Gott. Einen Engel wahrzunehmen, bedeutet eine Gotteserfahrung im Alltag zu machen (ebd., S. 47). Sie gehören zu Gott als sein Hofstaat, sie stehen nicht in Konkurrenz oder gar im Gegensatz zu ihm. Engel sind Ausdruck von Gottes Macht (ebd., S. 7).

Gottes Engel, die Jesus Christus begleiten, den einzelnen Menschen oder die des Satans, sind immer Helfer, Boten oder Abgesandte gegenüber Dritten. Engel sind daher Repräsentanten, Ausdruck von Macht – die Engel des Satans ebenso wie Gottes Engel– und zugleich Vermittler gegenüber anderen. Im Folgenden ist immer von Gottes Engeln die Rede. Für Luther waren die Engel Gottes sein verlängerter Arm in die Welt. Christen glauben an den dreieinigen Gott und sollten Engel deshalb nicht als etwas Separates sehen. Sie gehören zu Gott, sie sind Teil seiner Grundausstattung, weshalb auch im Schöpfungsbericht kein Tag genannt wird, an dem sie hätten erschaffen worden sein können (ebd., S. 8).

Sie können als Personen gedacht werden, denn sie erfüllen eine Rolle. Sie können hören, sprechen, haben Macht und Sprache. Dabei kann man Engel nicht anfassen, wie beispielsweise den Briefträger, wenn er die Post bringt, da sie nicht wie wir Menschen Wesen von dieser Welt sind (ebd., S. 12). Allerdings sind sie wirklich, da sie sich vernehmbar machen und können deshalb im Sinne des urchristlichen Personenbegriffs auch für Personen gehalten werden (ebd., S. 48).

Das Wort Engel kommt aus dem Griechischen und sowohl das griechische als auch das hebräische Wort bedeutet Bote oder Gesandter. Boten oder Gesandte werden von Dritten geschickt, deren Aufträge sie erfüllen sollen. Es wird von einem Boten nicht erwartet, dass er die Botschaften kommentiert oder bewertet, sondern nur der Person treu ist, welche ihn sendet (ebd., S. 9).

Für die Schutzengel-Vorstellung nimmt Klaus Berger Matthäus 18,10-11 und Psalm 91 in Anspruch:

„Hütet euch davor, gegen eines dieser Christenkinder überheblich zu sein. Ich erkläre euch: Sie haben eine sehr gute Beziehung zum Himmel, denn ihre Patrone sind Engel, die meinem himmlischen Vater allzeit direkt ins Gesicht sehen.“ (Mt 18,10–11, zit. n. Berger, 2006, S. 18)

„Seinen Engeln hat er ja zu deinem Schutz befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass du mit deinem Fuß nicht stößt an einem Stein“ (Ps 92, zit. n. Berger, 2006, S. 18)

Bei Matthäus liegt die Betonung darauf, dass der Engel des einzelnen Christen ein Angesichtsengel ist, welcher direkt vor Gott steht. Es soll bedacht werden, dass Christen einen sehr kurzen Draht zu Gott haben in einer direkten Verbindung zu ihm stehen. So schützen die Engel nicht direkt, sondern stellen sicher, dass Gott für den bedrohten Menschen Partei ergreifen wird. In Ps 91 wird von den Engeln im Plural geredet. So kann man sich für die Anschauung, dass jeder einzelne Mensch einen Engel hat, auf Mt 18,10 stützen und für den Schutz vor allem Bösen auf Ps 91.

Ulrich Luz (1997) schreibt zu Mt 18,10:

„Es ist klar, daß die Vorstellung individueller Schutzengel durch Mt 18,10 biblisch bezeugt ist. Ebenso klar ist für mich, daß sie in einem vergangenen Weltbild wurzelt. Ich denke, daß eine heutige Interpretation von Mt 18,10 nur versuchen kann, das in der damaligen Sprache ausgedrückte sachliche [Hervorhebung im Original] Anliegen ernst zu nehmen, nämlich die besondere Nähe Gottes zu den ‚Kleinen’, Niedrigen und Verachteten, aber auf die konkrete Schutzengelvorstellung verzichten muß, weil diese heute nicht mehr selbstverständlich ist.“ (ebd., S. 31–32)

Dieser Auffassung widerspricht Berger, da für ihn die Frage nach den Engeln nicht in Abhängigkeit von einem Weltbild beantwortet werden dürfe. Es sei vielmehr eine Frage des Gottesbildes, eine Frage nach dem Verhältnis zwischen Gott und Mensch und eine Frage danach, ob und wie Gottes Wirken in der Welt Spuren hinterlasse (ebd., S. 19).

Mit Blick auf unsere Analysebefunde lässt sich dann Folgendes sagen: Es wäre wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler Wissen zum Thema Engel dergestalt erwerben, dass sie die biblischen Befunde ebenso kennen wie die kontroverse Interpretation dieser Befunde. Denn ihre Vorstellungen, dass Markus jetzt ein Engel ist, der auf sie aufpasst, stehen nicht nur in Spannung zu dem, was die biblische und theologische Bedeutung von Engeln ist: Engel unterstützen Gottes Handeln und realisieren es. Es ist darüber hinaus auch deshalb problematisch, den Verstorbenen als Engel zu bezeichnen, weil ihm dadurch seine bleibende Individualität „vorenthalten“ wird. Angesichts der starken Bildhaftigkeit einer Verwandlung der Toten in Schutzengel käme es dann darauf an, mit den Schülerinnen und Schülern alternative Bilder zu entwickeln. Denn bloße Aufklärung würde der emotionalen Bedürfnislage der Schülerinnen und Schüler nicht gerecht.

5 Fazit

Was wären die Kompetenzen, die, wenn die Schüler sie erworben hätten, zu weniger Irritationen, zu „besseren“ Texten im Gedenkbuch geführt hätten?

Zunächst einmal: Tod und Sterben müssten nicht nur im Jahrgang 9/10 thematisiert werden, wie das in nahezu allen Bundesländern sowohl im Religions- als auch im Ethikunterricht der Fall ist, sondern der Umgang mit eigener Trauer, die Antizipation und Gegenwart des Todes, der Umgang mit Trauernden – all dies gehört in alle Jahrgangsstufen. Wie praktisch, wie theoretisch der Unterricht jeweils ausfällt, lässt sich dabei nicht vorhersagen. Möglicherweise vollzieht sich die Unterrichtssteuerung viel stärker durch Schulbücher als durch Kerncurricula. Der Umgang der Lehrkraft mit dem Thema spielt eine wesentliche Rolle. Todesfälle passieren immer – in jeder Klassenstufe. Elternteile sterben, Lehrerinnen und Lehrer sterben, Mitschülerinnen und Mitschüler sterben. Religionslehrerinnen und -lehrer sind oft nicht die ersten Ansprechpartner, sondern eher die Klassenlehrkräfte. Und hier spiegelt sich, was gesamtgesellschaftlich gilt: Nicht nur den Kindern und Jugendlichen fehlt es an Kompetenzen zum Verfassen angemessener Kondolenzschreiben. Nicht nur sie greifen auf kindliche Vorstellungen oder Floskeln oder vorgefertigte Formulierungen zurück, um das Unbegreifliche handhabbar zu machen. Auch die Homepages der Bestattungsunternehmen zeigen auf, dass es generell eine große Unsicherheit beim Umgang mit einem Todesfall und beim Bekunden von Beileid gibt.

Dennoch: Auch, wenn jede Trauer anders ist, so lassen sich doch im Religionsunterricht, auch schon in Klasse 5, leicht „Zehn Regeln zum Schreiben von Beileidsbriefen“ entwickeln. Schülerinnen und Schüler haben ein gutes Gespür dafür, was stimmig ist und was nicht, wenn es sie selbst betrifft. Man könnte Beispiele von Formulierungen vorgeben und diskutieren: Wie empfändest du das, wenn jemand dir dies schreiben würde? Was wäre besser? Warum? Was täte dir gut? Aus diesen Ergebnissen ließen sich dann in einem zweiten Schritt Regeln für das Schreiben von Kondolenzbriefen entwickeln.[6]

In den Beiträgen des Gedenkbuches ist auffällig, dass viele Schülerinnen und Schüler nur auf Floskeln zurückgreifen können und in ihrer Sprach- und Ausdrucksfähigkeit sehr eingeschränkt sind. Hier wird deutlich, dass in solchen Situationen „irgendwas“ gesagt und gebraucht werden muss. Deutungsangebote aus der christlichen Tradition hätten sehr wohl eine Chance, verstanden und angenommen zu werden. Genau an diesen Punkt muss der Religionsunterricht ansetzten; nicht nur, was das „Verstehen“ angeht, sondern auch im Hinblick darauf, was es bedeutet, so zu leben als ob es Gott gäbe. Die Trostlosigkeit einer Bestattung mit Grabredner („Wir verabschieden jetzt M.B. in die Auflösung“ – hieß es vor einiger Zeit in einem solchen Zusammenhang) kann nicht mehr empfunden werden, wenn man den Trost des Geborgenseins bei Gott gar nicht mehr kennt und nicht mehr hört, weil Kinder und Jugendliche von Beerdigungen ferngehalten werden und man ihnen den Tod, der zum Leben gehört, nicht mehr zumuten mag. Muss nicht also auch der Ablauf einer christlichen Bestattung im Religionsunterricht thematisiert werden (Husmann & Klie, 2005, S. 187–197)?

Dabei sind dem Religionsunterricht natürlich auch Grenzen gesetzt. In dem Gedenkbuch haben Schülerinnen und Schüler von der fünften bis zur zwölften Klasse Beiträge verfasst und sicherlich sind die aufgezeigten Deutungsangebote nicht in jeder Klassenstufe gleichermaßen nachvollziehbar. Des Weiteren werden nicht alle Kinder und Jugendlichen diese Deutungsmuster annehmen, denn wenn sie Religionen oder dem Christentum kritisch gegenüberstehen, dann werden sie diese Perspektiven wohl eher ablehnen. Allerdings haben sie durch einen entsprechenden Unterricht die Chance, die von ihnen bevorzugten Deutungsmöglichkeiten kritisch zu reflektieren und bewusster auszuwählen, was sie sagen und schreiben.

Literaturverzeichnis

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  1. Das Gedenkbuch entstammt der schulischen Praxis von Bärbel Husmann und wurde von Florian Burk unter der Betreuung von Carsten Gennerich in einer Masterarbeit analysiert. Die vorliegende Arbeit stellt eine von Carsten Gennerich und Bärbel Husmann überarbeitete und erweitere Fassung dieser Masterarbeit dar.

  2. Unter dem Markennamen Sheepworld werden unzählige Produkte mit dem Slogan: „Ohne dich ist alles doof“ produziert. Vgl. dazu: sheepworld.de/produktwelt/ohne-dich-ist-alles-doof

  3. Da bei der ersten Durchsicht einzelne Beiträge übersehen wurden, da zwei Beiträge beispielsweise eine ähnliche Schrift haben oder Beiträge, welche über mehrere Seiten gehen bei dem Kopieren vertauscht wurden, ist die Nummerierung der Beiträge nicht durchgängig chronologisch.

  4. Der Ottifant ist ein vom deutschen Komiker Otto Waalkes erdachter, im Comic-Stil gezeichneter Elefant. (URL: de.wikipedia.org/wiki/Ottifant [Zugriff: 03.07.2016])

  5. „Redensarten: Im siebten Himmel sein, Den Himmel aus Erden versprechen, Das ist himmlisch, Jemanden in den Himmel loben, Den Himmel offen sehen, Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen“ (Neyster & Schmitt, 1993, S. 154).

  6. Beispiel für zehn Regeln: 1. Falsche Versprechungen vermeiden („Es wird schon wieder gut“, Ankündigung von Besuchen, die man dann nicht macht usw.), 2. nicht von eigenen Situationen erzählen („Mein Opa ist auch...“), 3. keine Floskeln gebrauchen! („Kommt Zeit, kommt Rat.“), 4. keine schnellen Ratschläge verteilen! („Ich würde jetzt an deiner Stelle...“), 5. Einfühlung signalisieren! („Ich kann mir vorstellen, ...“), 6. die Trauer ernst nehmen und zum Ausdruck bringen, dass sie nicht schnell verschwinden wird, 7. eigene gute Erinnerungen an den Verstorbenen beschreiben, 8. Wünsche formulieren für etwas, was die Hinterbliebenen unterstützen könnte („Ich wünsche dir, dass du Menschen an deiner Seite hast, die...“), 9. auf das Gedicht oder den Psalm in der Todesanzeige Bezug nehmen, 10. ehrlich sein!