1 Flüchtende und Religion
Obwohl genaue statistische Angaben zu Asyl- und Flüchtlingsmigration nach Deutschland immer noch schwer zu ermitteln sind, ist sicher, dass aus Syrien, Irak und Afghanistan der größte Anteil der in den letzten drei Jahren Geflüchteten kommt. Somit ist die Dominanz islamisch geprägter Herkunftskontexte deutlich (BMF, 2015, S. 24 für 2015: 73,1 % Muslime; 13,8 % Christen; 4,2 % Jesiden; 1,4 % konfessionslos; 0,5 % Hinduisten).[1] Daneben kommen Menschen, die wegen ihrer Religion in den Herkunftsländern verfolgt werden (Christen aus dem Iran, Jesiden aus dem Irak etc.). Religion spielt für diese jungen Menschen eine weit wichtigere Rolle als für deutsche Vergleichsgruppen, und selbst deren Beurteilungsmaßstäbe der sozialen Welt werden „von religiös codierten Leitunterscheidungen wie ,erlaubt‘ und ,verboten‘ überlagert“ (Simojoki, 2015, S. 114).
Viele Studien der religionsbezogenen Migrationsforschung verweisen darauf, dass in den schwierigen Kontexten von Flucht und Migration die religiöse Identifikation zunimmt (Kazzazi, Treiber & Wätzold, 2016; Nagel, 2018, in Bezug auf das Phasenmodell religiöser Organisierung), weil Religion hier eine identitätsstiftende, gemeinschaftsbildende und auch eine im Sinne der ethischen Orientierung bedeutsame Funktion übernimmt. „In einer Situation, die durch ein enormes Maß an existentieller Unsicherheit gekennzeichnet wird, kann der Glaube eine große Ressource sein, ein Identitätsanker, der kulturelle Kontexte transzendiert und Kontinuität zwischen altem und neuem Leben stiften kann. Für viele Geflüchtete bildet er einen wichtigen Orientierungsrahmen, innerhalb derer (sic) sie die Brüche ihrer eigenen Biographie und traumatische Erfahrungen vor und während der Flucht deuten und verarbeiten können. Hinzu kommt: Anders als etwa nationalistische Ideologien bieten Religionen ihren Angehörigen einen globalen Orientierungsrahmen und transnationale Solidaritätsnetzwerke.“ (Simojoki, 2016, S. 113)
Gerade diese intensive Religiosität ist z.B. für viele Lehrkräfte hier ungewohnt, entspricht nicht ihrem Erfahrungshorizont und kann gewohnte Routinen durcheinanderbringen, was wiederum das Gegenüber als Unsicherheit mit seiner Religion wahrnimmt. Daraus könnte z.B. resultieren, dass für viele Geflüchtete in ihren neuen Kontexten Religion nicht nur zu einem noch wichtigeren, sondern eben auch zu einen konfliktträchtigen Erfahrungsfeld wird (Simojoki, 2016, S. 115).
Außerdem spielt Religion z.B. auch in den Asylunterkünften hier in Deutschland insofern eine Rolle, weil Spannungen, die u.U. aus religiös motivierten Konflikten in den Heimatländern herrühren, mit in die neue Umgebung gebracht werden. Deshalb wurde ja sogar der Vorschlag diskutiert, Geflüchtete nach ihren Nationalitäten bzw. ihrer Religionszugehörigkeit getrennt unterzubringen.
Ein weiteres Problem besteht darin, dass Flüchtlinge eine falsche Religionszugehörigkeit angeben, um dadurch eine Verfolgung im Ausland nachvollziehbarer und eine Anerkennung wahrscheinlicher zu machen.[2] Dies lässt sich natürlich nicht beweisen, denn dass die Zahlen der geflüchteten Menschen aus mehrheitlich muslimischen Ländern, die angeben, Christen zu sein, oder Christen sind, höher ist als der prozentuale Anteil der Christen in diesen Ländern, verweist natürlich eher auf deren schwierige Situation dort (BAMF, 2016, S. 25, Tabelle 1–7: Religionszugehörigkeit der zehn zugangsstärksten Herkunftsländer im Jahr 2015).
Das sind allerdings sicherlich nicht die einzigen Gründe, warum „Befürworter wie Gegner einer Willkommens- und Anerkennungskultur (…) auffällig oft auf Religion Bezug [nehmen], wenn es um die Legitimierung ihrer Ansichten geht.“(Simojoki, 2016, S. 111)
Religion spielt offensichtlich im Kontext von Flucht und im Leben der Geflüchteten eine bedeutsame Rolle. Fassen wir die dargestellten Aspekte noch einmal zusammen, lassen sich idealtypisch folgende Bereiche unterscheiden, in denen unterschiedliche Funktionen von Religion zum Tragen kommen.
Religion als Fluchtursache: Wenn die Benachteiligung aufgrund religiöser Zugehörigkeit zu stark ist, bzw. es zu lebensbedrohlichen Verfolgungen kommt, verlassen die Menschen ihre Heimat (separierende Funktion von Religion).
Religion in der Fluchterfahrung: Flucht ist eine existentielle, oft mit Lebensgefahr verbundene Erfahrung, bei der Menschen auf die unterstützende Funktion ihres Religionssystems zugreifen, was in Gebet, der Bedeutsamkeit von Gegenständen wie heiligen Schriften, Gebetskette etc. deutlich wird (psychische Funktion von Religion).
Religion im Asylverfahren: Für das Asylverfahren bringt es Vorteile, einer verfolgten Religion anzugehören, was auch zu Missbrauch führt (pragmatisch-verzweckte Funktion von Religion).
Religion im Integrationsprozess: Im neuen Lebensumfeld bildet Religion einen Identitätsanker, einen Orientierungsrahmen, und die religiöse Gemeinschaft in der neuen Heimat kann zum Solidaritätsnetzwerk werden (gesellschaftliche Funktion von Religion).
Vor diesem Hintergrund interessiert nun die Frage, ob und wie Religion in der jüngeren Kinder- und Jugendliteratur zum Thema Flucht vorkommt. Ziel ist es zu analysieren, wie Religion hier dargestellt wird und in welcher Form die oben genannten Bezüge thematisiert werden.
In einem weiteren Schritt soll dann gefragt werden, in welcher Art und Weise diese Literatur im Blick auf Religionsunterricht rezipiert wird, d.h. didaktisch in den religionspädagogischen Lernorten Religionsunterricht, Konfirmandenarbeit, Kindergartenarbeit u.a. Verwendung findet bzw. Verwendung finden könnte.
2 Religion in Kinder- und Jugendliteratur zum Thema Flucht
Obwohl die Menschheitsgeschichte schon immer durch das Phänomen Flucht begleitet wurde, ist das Thema in besonderer Intensität in den letzten drei Jahren wieder täglich mit aktuellen Meldungen präsent. Trotz aller Veränderungen der fluchtauslösenden Faktoren gibt es Konstanten bei jeder Fluchtbewegung: Flucht ist eine individuelle Katastrophe, bei der Flüchtende ihr Zuhause, Heimat, Familie, Immobilien, Sicherheit, kulturelle Bezüge, Ordnung und damit persönliche Orientierung verlieren. Dass solche existentiellen Phänomene immer auch literarisch be- und verarbeitet werden, versteht sich von selbst. So finden sich neben einer Vielzahl von neu erschienenen Bilder-, Kinder- und Jugendbüchern auch umfassende Forschungen zur aktuellen Fluchtliteratur in germanistisch fachwissenschaftlicher (Hardtke, Kleine & Payne, 2017; Nagel, 2014) und literaturdidaktischer Perspektive (Wrobel & Mikota, 2017). Hier geht es jeweils darum, für „eines der anspruchsvollsten und komplexesten Themen der Gegenwart“ (Wrobel & Mikota, 2017, S. 10) zu sensibilisieren und Perspektivübernahme im Sinne von „Wer liest, lebt doppelt“ anzuleiten: Fluchtliteratur bietet den Lesenden die Möglichkeit zur Immersion, also zum Eintauchen in eine andere, ihnen unbekannte Welt. Es wird aber ebenfalls Immersionsdistanz möglich, indem trotz emotionaler Beteiligung die Leserin bzw. der Leser eine gewisse Distanz zum Geschehen behält, die die Auseinandersetzung mit der Thematik unterstützt.
Zugleich ermöglicht Fluchtliteratur im Kontext inklusiven Lernens eine Verständigung zwischen Schülerinnen und Schülern mit und solchen ohne autobiographische Fluchterfahrungen, für die die Literatur einen Kommunikationsraum zur Verfügung stellt. Der Vorteil ist, dass hier von Fluchterfahrungen der Protagonisten gesprochen werden kann, ohne von sich selbst sprechen zu müssen (Distanzierungsfunktion gerade auch für Geflüchtete selbst).[3]
Betrachtet man die Themenhefte aktueller religionspädagogischer Zeitschriften wie „Religion 5-10“, „entwurf“, „Was & wie?“, „Loccumer Pelikan“ u.a. zum Themenbereich Flucht, finden sich überproportional häufig Unterrichtseinheiten, die auf Bilder-, Kinder- oder Jugendbücher Bezug nehmen. In didaktischer Intention der zu schulenden Wahrnehmungskompetenz in Bezug auf die Situation der Flüchtenden in unterschiedlichen Phasen der Flucht werden hier aber andere religiös relevante Aspekte unterrichtlich nicht literarisch aufgegriffen, sondern diese werden dann, wenn überhaupt, als Appendix mit biblischen Texten o.Ä. thematisiert.
Im folgenden Teil geht es nun darum, eine Auswahl an Bilder-, Kinder- und Jugendbüchern zum Thema Flucht vorzustellen und dabei jeweils nach der Bedeutung von Religion zu fragen, die in der Handlung, der Ausstattung der Protagonisten und der verwendeten Räume u.a. eine Rolle spielt.
Fragt man nach dem Religionsbegriff, der dieser Suche zu Grunde liegt, möchte ich zwischen einem substantiellen Religionsbegriff und einem funktionalen unterscheiden und beide in die Suche integrieren (Zimmermann, 2018; Zimmermann & Mikota, 2018). Implizite Religion, bei deren Suche nach allgemeinen Sinndeutungsmustern fast alles zur Religion werden kann, soll an dieser Stelle in den Hintergrund rücken. Die Frage ist hier,
welche Inhalte und Aspekte von Religion vorkommen: Geht es um das Thema Beten, um die Theodizeefrage, um Missionierung oder um Konflikte in theologischen Fragen, z.B. den Umgang mit Ungläubigen etc.?
in welcher Funktion die Inhalte und Aspekte von Religion Verwendung finden: Hat Religion im Roman auf Text- oder Rezipientenebene (hier ist unbedingt zu unterscheiden) eine psychische, eine weltanschauliche, eine ethische, eine gesellschaftliche oder sogar eine emanzipatorische Funktion? Um dies zu beurteilen, muss dem im Text verwendeten religiösen Motiv oder Element zumindest in basaler Hinsicht eine Bedeutung im Rahmen der Handlung und in Bezug auf die Personen zukommen. Wenn religiöse Elemente auf Bedeutungsebene keine Relevanz haben (z.B. der Protagonist läuft täglich an einer Kirche vorbei, ohne dass diese irgendwelche inhaltliche Bedeutung für ihn oder die Handlung hat), spreche ich von einer so genannten Requisitenfunktion.
2.1 Religion in Bilderbüchern zum Thema Flucht
Bei den durchgesehenen Bilderbüchern (vgl. Tab. 1) finden sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keine Bezüge zu Religion. Wenn überhaupt, zeigt sich Religion in Einzelfällen als Teil des sozialen Agierens der Personen (Beten im Alltag und in existentiellen Situationen) bzw. als Fluchtursache (Ruurs & Badr, 2017); in einem Fall wird eine Heiligenlegende aktualisiert, in dem sie in eine aktuelle Fluchterfahrung situiert wird (Janisch & Heiskel, 2016).
Nicht alle Bücher thematisieren die vier Phasen der Flucht:
Glückliches Leben in der Heimat,
Krieg/ Veränderung,
Flucht,
Ankunft/ Leben/ Probleme in der neuen Heimat (Ruurs & Badr, 2017).
Bei einigen wird nur die Situation in der neuen „Heimat“ dargestellt, oder es steht die Flucht selbst im Zentrum. Andere nehmen auch in Form von Rückblenden Bezug auf andere Phasen.
Hinsichtlich der weiteren thematischen Schwerpunktsetzung finden sich die Themen Freundschaft (Kobald & Blackwood, 2015), Bedeutung der Sprache/ des Spracherwerbs (Kobald & Blackwood, 2015; Redondo & Wimmer, 2016)[4], Ablehnung (Schami & Könnecke, 2003), Trauer (Boie & Birck, 2016), Heimat/ Fremdsein (Kobald & Blackwood, 2015), freundliche Aufnahme (Ruurs & Badr, 2017).
Hinsichtlich der Darstellung der Phasen 1–3 werden Fluchtursachen und Erfahrungen auf der Flucht literarisch und graphisch umgesetzt, nachdem zu Beginn meist zuerst die heile Kinderwelt in der Heimat beschrieben wird (teilweise auch retrospektiv ). Jeweils soll von beiden Typen (a) Bilderbücher vom Ankommen und Einleben nach der Flucht und (b) Bilderbücher von der Heimat und den Fluchterfahrungen exemplarisch je eines vorgestellt werden, bevor ich die beiden Bücher, in denen Religion eine Rolle spielt, näher betrachte.
Bilderbücher vom Einleben
Eine universelle Geschichte vom Fremdsein nach der Flucht erzählen die in Australien lebende Autorin Irena Kobald und die Illustratorin Freya Blackwood in ihrem Bilderbuch Zuhause kann überall sein. Das erste Bild lässt auf einen afrikanischen Kontext mit Hütten und grasenden Ziegen schließen, auf dem in warmen Farben ein Kind beim ausgelassenen Radschlagen zu sehen ist. Die gleichen Farben hat dann die Decke, in die das Kind sich einkuschelt, wenn es später einsam an die verlassene Heimat denkt. Die dazwischenliegende Flucht wird weder hinsichtlich der Räume, noch der Fluchtursachen oder Umstände thematisiert. Schon auf dem zweiten Bild wird das zentrale Thema, das im Titel selbst nicht wirklich eingeholt wird, nämlich das Empfinden von Fremdsein in Wort und Illustration, verdeutlicht: „Die Leute waren fremd. Das Essen war fremd. Die Tiere und Pflanzen waren fremd. Sogar der Wind fühlte sich fremd an. Niemand sprach so wie ich. Wenn ich auf die Straße ging, fühlte es sich an, als stünde ich unter einem Wasserfall aus fremden Wörtern. (…) Es war, als wäre ich nicht mehr ich.“(Kobald & Balckwood, 2015, S. 3–4) Wie Fremdes durch eine kleine Freundin, eine Fremdenführerin, vertraut werden kann, wird dann gezeigt, indem dem Mädchen über gemeinsame Erfahrungen (Schaukeln) und das Lehren von Wörtern aus der Welt unter der Decke in die neue Welt geholfen wird. Die Worte weben schließlich eine neue Decke, die „genauso weich und gemütlich [ist] wie meine alte“ (ebd., S. 27). Heimat bildet sich somit wie eine Patchworkdecke neu aus, konstituiert sich aber neben der Sprache auch über Elemente, die als Ausgangspunkt für die Suche nach impliziter Religion dienen können. Das Bilderbuch verdeutlicht so exemplarisch, welche Bedeutung die Sprachkompetenz der Geflüchteten in Bezug auf das Leben in einer fremden Gesellschaft hat. Besonders die „auktoriale Mitsicht“(Glotz & Schuler, 2017, S. 18), die Martínez und Scheffel als „interne Fokalisierung“ (Martínez & Scheffel, 2007, S. 117) bezeichnen, ermöglicht es, die Gefühle der Protagonistin intensiv mitzuerleben und gleichsam emphatisch motiviert wie ihre Freundin im Bilderbuch aktiv zu werden.
Bilderbücher von Krieg und Fluchterfahrungen
Thematisch einen anderen Schwerpunkt setzt das 2014 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis und mit dem katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis ausgezeichnete Buch von Claude K. Dubois, Akim rennt (2016, 6. Aufl.). Mit sehr sparsamem Text und mit Bildern in grauen, beklemmend wirkenden Bleistiftskizzen wird die Zerstörung des Dorfes beschrieben, in dem der kleine Akim wohnte, und bei der wohl auch ein Teil seiner Familie getötet wird. Eine fremde Frau kümmert sich um ihn, bis ihn Soldaten, für die er anschließend arbeiten muss, nach drei Tagen mitnehmen. Einen Angriff nutzt er zur Flucht und schließt sich einer Gruppe von Flüchtlingen an, die nach langen Wanderungen schließlich von einer Hilfsorganisation in ein Flüchtlingslager gebracht wird. Auch dort hat er furchtbar Heimweh und kann traumatisiert nicht mit den anderen Kindern spielen. Dann passiert ein Wunder: Er findet seine Mutter wieder. In diesem erzählenden Bilderbuch wird der Krieg in all seiner Grausamkeit dargestellt und die Schwierigkeiten, die ein Kind auf der Flucht hat, werden aufgegriffen. Die Erzählung folgt in schlichter vorwiegend parataktischer Syntax und fast ohne Affektmarkierungen, dennoch sprechen gerade die großflächigen düsteren Bilder, die an Käthe Kollwitz erinnern, emotional an und führen die Grauen des Krieges vor Augen. Vor allem die in den Bildern feinsinnig verwendete Handsymbolik bietet einen Ausgangspunkt zur Suche impliziter Religion.
Bilderbücher, in denen Religion eine Funktion hat
Bilder als Komposition aus Kieselsteinen – z.B. eine Mutter mit einem Baby, dahinter der Vater gebeugt unter einer schweren Last – Bilder, denen der Künstler Nizar Ali Badr Leben eingehaucht hat, visualisieren die harte graue Welt der Flucht. Dazu hat Margriet Ruurs für das Bilderbuch Ramas Flucht (2017) den Text geschrieben, und hier nun finden sich zumindest Spuren von Religion, die die oben genannten und eigentlich erwarteten Themen aufnehmen. Auch diese Handlung beginnt mit der heilen Welt von Rama: Der Hahn kräht, er liegt im warmen Bett und hört, wie das Frühstück gerichtet wird. Er spielt mit dem Bruder „frei wie Vögel“ (Ruurs & Badr, 2017, S. 4), der Vater erzählt nach der Feldarbeit Geschichten. „Damals ist damals. Und jetzt ist jetzt“ (ebd., S. 5) kündigt als Zäsur den Übergang zu Diktatur und Krieg an. Der Großvater fragt: „Wir dürfen nicht unsere Lieder singen, nicht unsere Tänze tanzen, nicht die Gebete sprechen, die wir gelernt haben. Sind wir also frei?“ (ebd., S. 10) Mit dieser rhetorischen Frage, an deren Ende als Klimax der Verweis auf Religion in einer Reihe von Kulturschätzen (Lieder, Tänze, Gebete) steht, deutet sich die Veränderung an. Im Bild sind verängstigte Menschen hinter Stacheldraht zu sehen. Dann kommt der Krieg mit Hunger, dem Exodus aus dem Dorf, Bomben und Tod. Auch die Familie von Rama entscheidet sich zu gehen. Die Mühen des Laufens werden beschrieben, und als sie am Meer ankommen, heißt es: „Voller Hoffnung stiegen wir in ein Boot. Alle beteten. Ich hatte große Angst, als hohe Wellen gegen unser kleines Boot schlugen. Nicht alle kamen sicher über das Wasser. Wir beteten für die, deren Reise im Meer zu Ende ging.“ (ebd., S. 25) Die Mutter streut, wieder an Land, Blumensamen als Erinnerung an die Menschen, die gestorben sind.
Zweimal wird in diesem Bilderbuch das Motiv des Betens aufgegriffen. Beten in seiner psychischen Funktion als Angstbewältigung, aber auch beim Gebet für die Gestorbenen als Ritual in seiner gesellschaftlichen Funktion hier für die kleine Gruppe, die alle in einem Boot sitzen. Am Ende scheint das Gebet geholfen zu haben: Neue Nachbarn begrüßen die Familie „mit offenen Armen“ (ebd., S. 34), sie lachen, teilen Kleidung und Essen – Rama hat „ein neues Zuhause“ (ebd., S. 36), „neue Hoffnungen und neue Träume“ (ebd., S. 38).
Religion im Motiv des Betens in seinen unterschiedlichen Formen (Alltagsritual, Bittgebet, Teil einer kleinen Beerdigungsliturgie) wird hier in unaufdringlicher Art und Weise als Teil der Realität der Flüchtenden integriert. In dieser Weise hätte man das ebenfalls in anderen Bilderbüchern erwartet, aber es ist in dieser Hinsicht die Ausnahme.
Bewusst stellt dagegen Heinz Janisch in Der rote Mantel. Die Geschichte des heiligen Martin (2016)schon im Titel religiöse Bezüge her. Er verortet seine Heiligenlegende in einem Flüchtlingsauffanglager („leere Schule“), wie es bis vor Kurzem so noch in vielen Städten zu finden war. Amir ist dort nach einer langen Lastwagenfahrt müde und kalt angekommen und hat von einem Fremden (Sabine Fuchts meint: „selbst einem Flüchtling“ [Fuchs, 2017, S. 31], was aber m.E. aus dem Text nicht hervorgeht) die Hälfte einer roten Decke bekommen. Eine Betreuerin, die den Jungen anspricht (mögliche Sprachschwierigkeiten werden nicht thematisiert), schlägt vor, den jungen Mann „Martin“ zu nennen, und nimmt das als Anlass, die Legende des Heiligen Martin von Tour zu erzählen (Mantelteilen; drei Tage warten vor dem Hof des Kaisers, um sich für Unschuldige einzusetzen; Brand des Thrones; Verrat der Gänse, damit Martin Bischof wird; Lichtermärsche am Todestag als Grundlage der Laternenfeste am Martinstag heute). Amir ist ein aufmerksamer Zuhörer und versteht es, seine Situation mit der erzählten Geschichte zu verbinden. Birgitta Heiksel intensiviert den Text durch raumgreifende Illustrationen als Bleistiftskizzen, in die bewusst rote, plane Flächen gesetzt werden, die das wärmende Mantelmotiv aufnehmen, mit ihrer Farbmotivik aber weit darüber hinausgehen und im Textzusammenhang auf Leidenschaft, Feuer, Krieg/ Blut verweisen. Einzelne zentrale Textpassagen sind ebenfalls in roten Buchstaben zu lesen.
Eingeleitet mit der Märchenformel („Es war einmal ein Mann“), wird hier die Legende des Martin von Tours (316–397) erzählt; allerdings findet sich in der Art und Weise der Darstellung eher die gesellschaftliche Funktion von Religion – bei der es darum geht, diese Legende als Kulturgut zu erzählen – als die ethische, die auf die Weitergabe einer christlichen Lebenshaltung zielen würde. Allein der Satz „Martin blieb ein Leben lang ein Mann, der auf Gott und das Gute im Leben vertraute“ (Janisch & Heiskel, 2016, S. 13) verweist auf eine christliche Lebensausrichtung, die durch seinen Einsatz für andere u.a. verdeutlicht wird. Der Text dagegen fokussiert auf humanistische Tugenden wie Empathie, Beharrlichkeit gegenüber den Machthabern, Bescheidenheit (Fuchs, 2017, S. 33). Appellcharakter erhält das beispielhafte Vorgehen Martins nicht über seine eigenen Taten als Christ, sondern über das selbstlose Teilen eines Unbekannten in einer aktuellen Notsituation, von dem wir nicht wissen, welchem Glauben er angehört. Auch die junge Frau, die Amir Essen gibt und ihm erzählt, wird keiner (christlichen) Organisation und keinem christlichen Umfeld zugewiesen.
Vielleicht will der Vergleich von Martins halbem Mantel mit einem „zerrupften Flügel“ (Janisch & Heiskel, 2016, S. 13), den er selbst auch als solchen betrachtet („Wie ein Flügel? Vielleicht ist es einer“ in roten Lettern; ebd., S. 33), das Schutzengelmotiv, das nicht nur im Christentum aktuell eine große Bedeutung hat, aufgreifen und mit der ethischen Aufforderung an den Leser bzw. die Leserin verbinden, auch zum Schutzengel zu werden.
Dieses Bilderbuch zur Flucht unterscheidet sich von allen anderen dadurch, dass Flucht als Motiv nur als Ausgangspunkt genommen wird und in Raum (Erstaufnahmelager) und Protagonisten (Amir als Geflüchteter, erschöpfter Vater, Flüchtlingshelferin, namenlose verschleierte traurige Frau) präsent bleibt. Ansonsten steht im Zentrum der Erzählung die Heiligenlegende des Martin von Tours, in der der sonst typische ethische Appellcharakter nur bedingt angelegt und literarisch und bildlich umgesetzt wird.
2.2 Religion im Kinder- und Jugendbuch zum Thema Flucht
Im Kinder- und Jugendbuch nehmen die Bezüge dann wahrscheinlich aufgrund des größeren textlichen Umfangs zu. Hier können auch nicht alle in den letzten Jahren erschienenen Werke berücksichtigt werden, sondern exemplarisch wird jeweils ein Werk vorgestellt, das für einen Typus im Umgang mit Religion steht. Auch im Kinder- und Jugendbuchbereich gibt es allerdings Erzählungen, in denen Religion, wenn überhaupt, nur in (seltener) Requisitenfunktion vorkommt (Marmon, 2015; Härtling, 2016).
Religion als Fluchtursache
Ingeborg Kingeland Haldthematisiert in Vielleicht dürfen wir bleiben (2015) Religion, bzw. religiös-nationales Auseinandersetzungen als Fluchtauslöser. Albin, der 11-jährige Ich-Erzähler aus Bosnien, lebt als Muslim mit Mutter und Schwester in einem Asylbewerberheim in Norwegen. Um die Ausweisung/ Abschiebung der Familie zu verhindern, läuft er weg und versteckt sich im Gartenhaus einer norwegischen Familie, ist also zum zweiten Mal in seinem kurzen Leben auf der Flucht. Als die beiden Kinder Amanda und Lisa ihn finden, erklärt er ihnen zwar nicht, dass sein Vater vor seinen Augen umgebracht wurde („Das schaffe ich nicht“: Kingeland Hald, 2015, S. 87), aber warum er nicht zurück nach Bosnien kann: „Ich kann nicht zurück, obwohl der Krieg vorbei ist. Nach dem Krieg leben kaum noch Muslime dort, wo wir gewohnt haben. Die meisten sind umgebracht worden oder geflohen. Es ist dort immer noch gefährlich für uns, sagt Mama. Wir können nicht zurück.“ (ebd., S. 88)
Auch in dem Roman von Adriana Stern Und frei bis du noch lange nicht … (2016) wird religiöse Diskriminierung in der Heimat als Fluchtursache ausgewiesen. Voller Hoffnung ist die dreizehnjährige Zippora gemeinsam mit ihrer jüdischen Familie aus Aserbaidschan nach Deutschland gekommen, weil das Leben als diskriminierte Minderheit dort nicht mehr erträglich ist: „Und wir hoffen, niemand wird dich diskriminieren oder Schlimmeres, nur weil du Jüdin bist“ (Stern, 2016, S. 14), sagt die Mutter, und Zippi selbst als Ich-Erzählerin erklärt in einer Art Leserkommentar: „Krasnaja Sloboda, auch als Rote Siedlung bezeichnet (…), ist wie eine winzige jüdische Insel mitten in einem muslimischen Meer und hat eine jahrhundertelange jüdische Geschichte. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts gab es hier dreizehn Synagogen, weshalb Krasnaja Sloboda als einzige jüdische Stadt außerhalb Israels galt. Heute gibt es nur noch vier Synagogen, in einer davon amtiert Shoshanas Vater [das ist Zippis Freundin, M.Z.], alle anderen stehen leer. Die meisten Juden haben das Land, genau wie meine Verwandten, längst verlassen. (…) Eigentlich bleiben fast nur die alten Menschen hier. In Krasnaja Sloboda gibt es sogar eine eigene Sprache, so wie das Jiddische, die Juhuri genannt wird.“ (ebd., S. 15)
Die Diskriminierungen setzten sich dann aber leider auch im Flüchtlingslager fort, die Asylbewerber werden sogar Opfer krimineller Machenschaften.
Auch in Anna Kuschnarowas Kinshasa Dreams (2012)gibt es religiöse Aspekte, die fluchtauslösend sind. Hier spielt nicht Diskriminierung als Minderheit durch die religiöse Mehrheit eine zentrale Rolle, sondern Magie und Aberglaube sind fluchtauslösende Faktoren. Erzählt wird, ausgehend von einem Interview vor einem wichtigen Boxkampf, die Geschichte des Kongolesen Jengo Longomba, der als „Hexenkind“ bei seiner eigenen Geburt unversorgt fast dem Tode überlassen wird. Als Adanna, seine Mutter, in den Wehen liegt, starrt „eine schwefelgelbe Wolkenschlange“ ins Zimmer, das „ist kein gutes Zeichen“. Der „Dämon in ihr verpasst ihr einen Tritt. Ihr ist, als ob er lacht. Sie und ihren Schmerz auslacht.“ Die Großmutter möchte nicht, dass solche „Hexendinge (…) in ihren Haus“ geschehen, und schließt sie in ihrem Zimmer ein. „Vielleicht bleibt der Fluch ja dann, wo er ist, bei Adanna und ihrem Bastard“ (Kuschnarowa, 2012, S. 8f.). Adanna schafft die Geburt zwar alleine, ist aber zu erschöpft, um sich um ihr Kind zu kümmern. „Der neue Mensch, der Dämon, der Hexensohn, also, um es kurz zu sagen, ich, schreit die ganze Nacht.“ (ebd., S. 11) Um die Dinge vielleicht noch zu wenden, soll eine Féticheur, ein Geisteraustreiber, ins Haus geholt werden, was der nach Hause kommende Großvater aber zu verhindern weiß, denn er verurteilt das Festhalten der Grandmère am magischen Denken. Die Zuschreibung „Hexenkind“, die es im Kongolesischen Verständnis quasi vogelfrei erklärt[5], macht es nach dem Tod des Großvaters und des Vaters und nach dem Verschwinden der Mutter notwendig zu fliehen; denn der Onkel, bei dem Jengo nun lebt, will ihm seine Dämonen jetzt ebenfalls durch einen Exorzismus austreiben lassen, einen Versuch, der tödlich enden kann, wie er weiß.
Diese Handlung bestimmt den ersten von vier Teilen des Romans. Im zweiten steht die Flucht vom Kongo über Ägypten und Libyen nach Europa im Zentrum, bei dem Religion als Verführung durch Islamisten ebenfalls eine wichtige Rolle spielt. Dass diese Religion nicht dem Leben dient, erkennt Jengo nach einer gewissen Zeit dort ebenso wie der Leser bzw. die Leserin und hat im Blick auf die emanzipatorische Funktion von Religion damit Wesentliches verstanden. Im dritten Teil wird dann das Ankommen in Europa und das Leben als Illegaler in Paris beschrieben, und erst der vierte schließt den Kreis zum Beginn und beschreibt, wie er nach der ersten Abschiebung eine Freundin findet und als Boxer berühmt wird. Alle Teile werden, ausgehend von den Fragen des Reporters, als Erinnerungen in einem fortwährenden inneren Monolog dargeboten, bei dem die Zeitebenen durch unterschiedliche Schrifttypen markiert werden. Dass Europäer Probleme haben, solche Fluchtursachen zu verstehen, wird ebenfalls geschickt im Text thematisiert.[6]
Zusammenfassend sei festgehalten, dass Religion als fluchtauslösender Faktor im Jugendbuch in verschiedener Perspektive in den Blick kommt, sei es im afrikanischen Kontext durch die Bedeutung von Magie und Verhexung, die die Fremdheit der kongolesischen Gesellschaft illustrieren, seien es Exodusphänomene wie in Armenien oder Folgen nationalistischer Auseinandersetzungen, bei denen religiöse Aspekte als Teil der Kultur immer auch eine Rolle spielen.
Religion als Bewältigungshilfe im Fluchtalltag (psychische und gesellschaftliche Funktion)
Wie man aus den soziologischen Studien (s.o. Abschnitt 1) hat annehmen können, spielt Religion im Leben der muslimischen, aber auch der christlichen Flüchtlinge mit höherer Glaubensaffinität und -bedeutung eine durchgängige Rolle bei der Lebensbewältigung. Dies wird allerdings in nur sehr wenigen Fluchtromanen der Kinder- und Jugendliteratur im Handeln der Protagonisten verdeutlicht. Exemplarisch im positiven Sinn sei hier auf Robert Klements 70 Meilen bis zum Paradies (2015) verwiesen. Literarisch umgesetzt wird hier aus einer realen Vorlage (siehe Vorwort) die Flucht von Shara und ihrem Vater Siad aus Somalia übers Mittelmeer nach Italien, nachdem ihre Schwester und ihre Mutter bei Gefechten getötet worden waren. Begleitet werden alle Stationen der Flucht durch religiöse Rituale, Gebet und religiöse Fragen, die nicht nur durch die Protagonisten selbst, sondern auch durch die Darstellung des auktorialen Erzählers Erwähnung finden. Da wird der Dank an Gott bei Aufbruch und Ankunft ausgesprochen (Klement, 2015, S. 30; S. 66), da erklingt ein „Halleluja“, als die Ankündigung der Abfahrt des Schiffes erfolgt (ebd., S. 30), da wird gebetet und im Koran gelesen (ebd., S. 31), und magische Rituale, um „eine Gottheit gütig zu stimmen“ (ebd., S. 32; S. 56), z.B. aus dem Voodoo-Kult werden erwähnt. An dem im Verlauf der Reise manövrierunfähig gewordenen Boot vorbeifahrende Schiffe wird ein „Allah strafe euch!“ nachgerufen (ebd., S. 57), und eine Möwe als Hoffnungszeichen weist als letzte Rettung den Weg, so dass die frommen Passagiere und selbst die, die davor schon gezweifelt hatten, am Ende der Reise bekennen „Ohne Gott [wären wir] ertrunken“ (ebd., S. 58). „Frommen“ Lügnern allerdings, die hoffen, mehr Chancen im Asylverfahren zu haben durch die Angabe, einer christlichen Minderheit anzugehören, werden Koranseiten zum Verhängnis (ebd., S. 74), die bei einer Razzia im Gepäck gefunden werden.
Die diakonische Seite der christlichen Religion wird am Beispiel des Franziskanerpaters Michele zentral, der eine Schule für Straßen- und Flüchtlingskinder begründet hat, die auch Shara als Musterschülerin besuchen darf (ebd., S. 111). Als politische Unterstützung der Flüchtlinge hat die Kirche allerdings keine Bedeutung.
Leitmotivisch spielt bei Klement auch die Paradiesmetapher eine bedeutsame Rolle, die in Bezug auf die Erwartungen an Europa völlig irrational aufgeladen wird: 70 Meilen sind es nur bis zum Paradies(„Europa, den Kontinent, den sie für das Paradies hielten“ [ebd., S. 22, und Buchtitel]); Lampedusa erscheint quasi als „Wartesaal zum Paradies“ (ebd., S. 77). Am Ende allerdings haben sich angesichts furchtbarer Erfahrungen im italienischen Auffanglager die Hoffnungen geschmälert und die Protagonisten erwarten von ihrer Weiterreise nach Kanada „nicht [mehr] das Paradies“ (ebd., S. 140).
Zusammenfassend lässt sich hier festhalten, dass Religion und Glaube in einer von existentieller Unsicherheit gekennzeichneten Situation der Flucht nur sehr selten in den rezipierten Kinder- und Jugendbüchern so thematisiert wird, dass sie, wie im soeben beschriebenen Roman, als Kontinuität im täglichen Leben als Ressource und Identitätsanker vorkommen und Kontinuität zwischen altem und neuem Leben stiften. Als Initiatoren und Organisatoren von humanitären-caritativen Hilfen waren religiöse Gemeinschaften auch nur in diesem Buch zu finden.
Religion als Negativfolie (Emanzipationsfunktion auf Rezipientenebene)
In verschiedenen Ausprägungen erhält Religion auf Rezipientenebene eine Emanzipationsfunktion als Distanzierung von einer falschen Religion. Exemplarisch sei an dieser Stelle Daniel Höras vielgerühmter Roman Das Schicksal der Sterne (2015) herangezogen. Literarisch sind hier zwei Fluchtschicksale nebeneinandergestellt und miteinander verwoben: das von Karl Riedberger, der – heute alt und gesundheitlich angeschlagen – als 15-jähriger Jugendlicher vor den Russen geflohen ist, und das des 15-jährigen Adib auf Afghanistan, der von dort fliehen musste, weil sein Vater als Kollaborateur der Deutschen, der Ungläubigen (Höra, 2015, S. 30), umgebracht worden war. Beide verbindet einerseits je eine Bewusstlosigkeit zu Beginn der Handlung, entscheidender aber die Liebe zu den Sternen. Sterne haben während der Flucht beiden den Weg gewiesen und Adib nennt sie „Gedanken Gottes“ (ebd., S. 53). Zu Anfang im Wechsel der Kapitel wird das Fluchtschicksal der beiden dargestellt, später dann auch im Austausch der ungleichen Freunde im Gespräch. In Bezug auf beide Schicksale wird auch auf das literarische Motiv des phantastischen Helfers zurückgegriffen, der jeweils in verzweifelten Situationen eingreift und dann, beide Schicksale verbindend, bei Karls Beerdigung präsent zu sein scheint.
Diese beiden Motive (Sterne, phantastischer Helfer) haben in gewisser Weise Transzendenzcharakter und thematisieren indirekt auch Religion, indem hier ganz besonders die psychische Funktion implizit verdeutlicht wird. Gerade für Karl ist das Universum auch ein Beispiel für den Kreislauf von Werden, Vergehen und Auferstehen.[7]
Explizit kommt Religion allerdings in der Darstellung des Antihelden, Herrn Waschek, vor, der als Familienvater der kleinen Flüchtlingsgruppe vorsteht, sich allerdings durchgehend egoistisch und asozial verhält. Er lügt, stiehlt und betrügt. Ausgerechnet dieser schlechte Charakter versteht sich als Christ und deutet seine Welt als „göttliche Fügung“ (ebd., S. 97). Er „wäre gern Pfarrer geworden“ und hatte hin und wieder „den Konfirmandenunterricht leiten dürfen“ (ebd., S. 97), was er allerdings ausnutzte, um „Unwissenheit mit Prügeln“(ebd., S. 97) zu bestrafen. Bei allen möglichen Anlässen zieht er das Gebetbuch aus der Tasche oder hält fromme Moralpredigten: „Herr Waschek kommentierte Hunger und Durst mit christlichen Durchhalteparolen: ,Gott wird für uns sorgen‘ oder ,In der Not wird der Mensch geprüft‘.“ (ebd., S. 99)
Während Karl und auch Adib sich ihrer aus der Not geborenen amoralischen Handlungen bewusst sind (Szenen sind hier fast als Antiszene zum barmherzigen Samariter konstruiert: „Am Straßenrand lagen […] Menschen, die bald tot sein würden. Sie hielten nicht an, um zu helfen, denn das konnte ihren eigenen Tod bedeuten“ [ebd., S. 4]; Karl bricht einer sterbenden Frau die Finger, um an deren Brot zu kommen u.a.), rechtfertigt Herr Waschek sich ständig und isst z.B. heimlich mit seiner Familie die letzten Vorräte, um dann von Karls Familie das Teilen der erbettelten Lebensmittel zu verlangen. Als Karl ihn zur Rede stellt, sagt er: „Verleumdung ist eine schwere Sünde, mein Junge. (…) Man muss das Böse im Keim ersticken, bevor es sich ausbreitet und ernsthaften Schaden anrichtet.“ (ebd., S. 105)
Waschek zitiert auch in unterschiedlichsten Situationen Bibelverse, die aber manchmal etwas anderes wiedergeben als die eigentliche Bedeutung (ebd., S. 155). Die Scheinheiligkeit seiner Existenz erreicht ihren Höhepunkt, als er und Karl Lebensmittel stehlen und dabei ertappt werden. Waschek weist alle Schuld von sich und beschuldigt ausschließlich Karl und versucht sich mit den Entdeckern zu solidarisieren: „Wir Männer sind doch ganz anders aufgewachsen. Wir haben unsere Väter geehrt, unsere Traditionen (…) Die Jugend heute kennt weder Gott noch Gesetz.“ (ebd., S. 158) Bei seiner weiteren Flucht opfert er Karl dann und muss davon ausgehen, dass der Junge nicht überlebt. Als sie sich dennoch wiedersehen, erschrickt er zwar, kontert aber sogleich mit einer Lüge: „Ich habe Gott auf den Knien angefleht, er möge dich retten. Nun sind meine Gebet erhört worden.“ (ebd., S. 190)
Waschek wird somit literarisch im Typus des Antihelden gezeichnet, verkörpert in dieser Rolle aber einen gewichtigen Teil des christlich Religiösen im Roman. Die Scheinheiligkeit eines veräußerlichten Glaubens, der keine ethische Entsprechung im Leben findet, kann an diesem Jugendbuch besonders gut illustriert werden. Ähnliche negative Darstellungen von Religion findet man in Bezug auf die Verführungsversuche von jugendlichen Flüchtlingen durch Salafisten (Kuschnarowa, 2012), die eben eine Entartung des Islam zeigen, der nicht dem guten Leben dient.
3 Ergebnis:Fluchtursache, Negativfolie, Orientierungsrahmen, Identitätsanker - Was heißt das für die Religionspädagogik?
Zusammenfassend kann man festhalten, dass Religion nur selten in einzelnen Romanen als Praxis, als Fluchtursache, als Negativfolie, als Orientierungsrahmen, als Identitätsanker oder als Hilfe durch diakonische Einrichtungen etc. eine Rolle spielt. Als das in der religionssoziologischen Literatur profilierte gewichtige Thema findet sie sich nicht.
Exemplarisch konnte gezeigt werden, dass in den ausgewählten Romanen Religion häufiger als Fluchtauslöser und in ihrer psychischen, ethischen und gesellschaftlichen Funktionen auf der Flucht selbst thematisiert wird. Wird sie als Negativfolie aufgegriffen, intendiert das eine Emanzipationsfunktion von falscher Religion für den Rezipienten.
Allerdings ist die umfassende Thematisierung religiöser Elemente eher die Ausnahme. Vor allem im Bilderbuch gibt es kaum explizit religiöse Aspekte und auch im Kinderbuch beschränken diese sich häufig auf Randaspekte, manchmal auf knappe Fluchtbegründungen[8] oder haben nur Requisitenfunktion (vgl. Tab. 2). Nicht bzw. nur implizit thematisiert wird die in der Religionssoziologie beschriebene Wirkung von Migrationserfahrungen und -kontexten auf religiöse Weltbilder und Praxisformen (vgl. Nagel, 2017), ebenso wenig Aspekte wie intensive transnationale Beziehungen zum Herkunftsland und zu anderen Diaspora-Gemeinden, starke Loyalitäten innerhalb der eigenen religiösen Bezugsgruppe, eine „identitätsbildende Bewirtschaftung der Differenz zur Aufnahmegesellschaft“ oder eine „Idealisierung der eigenen Herkunft“ (Nagel, 2018, Manuskript 2).
Weil Religion in den berücksichtigten Kinder- und Jugendbüchern mit der Ausnahme von Kuschnarowas Kinshasa Dreams (2012) eher ein Randthema ist, wird Fluchtliteratur deshalb für den Religionsunterricht weniger als explizit religiöse Literatur interessant, sondern als Literatur mit ethisch-existentieller Ebene (Motté, 2011), die eben dem Flüchtling, der medial meist in der Masse begegnet, ein Gesicht gibt (Zimmermann, 2016): „Erst die konkrete [bzw. eben auch die literarische, Anmerkung der Verfasserin] Begegnung und Identifikation setzt(!) jene moralische Energie frei, die tätig macht. Die abstrakte und entmenschlichte Bildersprache hingegen begünstigt eine kollektive Lethargie, die Absolution in der trügerischen Verfahrensgerechtigkeit der Asylbürokratie sucht.“ (Nagel, 2017, Manuskript 2) Hier kann gute Kinder- und Jugendliteratur in pädagogischen Zusammenhängen hilfreiche Wege weisen und ist insofern gerade für religionspädagogische Bildungsprozess als Lernchance der Erfahrungserweiterung und Wirklichkeitserschließung von Bedeutung (Langenhorst, 2011, S. 57–63, Kumlehn, 2017)). Ein Auswahlkriterium im Rahmen der vielen dafür geeigneten Bücher (siehe Tab. 1 und 2) könnte aber sein, ob Religion im Kontext Flucht überhaupt und dann in konstruktiver Weise vorkommt und somit Anknüpfungspunkte bietet, im Rahmen des Themas Flucht auch über verschiedene Facetten des Religiösen und ihre Funktionen zu sprechen. Dazu kann dieser Beitrag vielleicht eine Hilfestellung bieten.
Literaturverzeichnis
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Mirjam Zimmermann, geb. 1969, Professorin für Religionspädagogik und Fachdidaktik an der Universität Siegen, Forschungsschwerpunkte: Kinder- und Jugendtheologie, Bibeldidaktik, Ethik, Kinder- und Jugendliteratur.Anhang
Tab. I (Bilderbücher zum Thema Flucht)
Tab. II (Kinder- und Jugendbücher zum Thema Flucht)
[1] Auf etwas andere Zahlen verweist Nagel, 2018, Manuskript S. 6, der im Rahmen einer Studie, die die Religionszugehörigkeit aller Einwanderer in die EU erfasst, feststellt, dass „der überwiegende Teil der Zuwanderer einer christlichen Kirche angehört, während nur jeder Vierte einer muslimischen Gemeinschaft zugerechnet werden kann.“ (Bezug auf Datensammlung des US-amerikanischen Pew Research Center). Für die Zusammensetzung der Religion der Einwanderer in ausgewählte europäische Länder stellt er fest, dass man außer in Frankreich überall von einer muslimischen Minderheit der Zugewanderten sprechen kann. Dort wird auch umfassend die Problematik der Erfassung der Religionszugehörigkeit dargestellt.
[2] Vgl. Blog des Asylbewerbers Aras Bacho, o.J. Man findet im www aber viele ähnliche Hinweise und sogar Empfehlungen an andere Flüchtlinge.
[3] Weil ich mich in meiner Auswahl nur auf aktuellste Literatur beziehe und nur literarische Verarbeitungen aktueller Fluchterlebnisse berücksichtige, spielt das historische Lernen im Literaturunterricht an dieser Stelle keine Rolle, es sei nur der Vollständigkeit halber an dieser Stelle als ein literaturdidaktisches Ziel genannt (Wrobel & Mikota, 2017, S. 12f.),
[4] Auch hier steht das Thema Sprache im Vordergrund und es wird nicht nur die psychologische Bedeutung aufgegriffen, sondern „die beiden Freundinnen werden regelrecht zu Sprachforscherinnen“ (Schulz, 2017, S. 25).
[5] Im Roman wird z.B. beschrieben, dass solche Kinder totgeschlagen werden können bzw. oft auch ausgesetzt werden und dann am Straßenrand verhungern. Jengo nimmt eines dieser ausgesetzten Babys eines Tages mit, es wird aber von der Familie einfach wieder zurückgebracht (Kuschnarowa, 2012, S. 86-88).
[6] Vgl. Kuschnarowa, 2012, S. 153: „Was hat Sie denn letzten Endes nach Europa verschlagen? War es das Geld?“, fragt Weston [der Reporter, M.Z.]. „Ja, so seht ihr aus. Natürlich ist es immer nur das Geld, das uns nach Europa lockt. Wir sind gekommen, um euren erodierenden Sozialsystemen den Todesstoß zu versetzen. Einmal angenommen, ich würde ihm tatsächlich den Grund nennen, würde sagen: ,Lieber Herr Weston, ich weiß, Sie werden das nun nicht nachvollziehen können, aber meine Verwandtschaft glaubt, ich sei verhext, und das hat meine Überlebenschancen erheblich vermindert.‘ Wie würde er wohl reagieren? – Eben. Und deswegen behaupte ich, dass es mir um meine Karriere ging. Dabei war doch der wahre Grund, dass sich die Schlinge zuzog, mir jeglichen Halt weggebracht und ich eigentlich keine andere Wahl mehr hatte.“
[7] „Wusstest du, dass das Universum einen anderen Zustand annehmen möchte?“, fragte Karl. „Um da hinzukommen, entsteht irgendwo im Kosmos ein alternatives Universum, das sich dann ausdehnt und das alte zerstört. (…) So ist das auch im Leben“, sagte er weiter. „Es dehnt sich aus, dann stirb es, um woanders wiederaufzuerstehen.“ (Höra, 2015, S. 92) Auch seine tote Frau hofft er im Universum wiederzusehen „Ob sie wohl auf ihn warten würde, irgendwo da oben?“ (ebd., S. 119) Auch existentiell-religiöse Fragen werden für ihn in der Symbolsprache der Astronomie ausgedrückt: Ich habe Angst, dass „wir nur Zufälle sind, die wie Krill in der kosmischen Suppe schwimmen.“ (ebd., S. 146)
[8] Nagel, 2018, stellt fest: „Wie religiöse Weltbilder oder Zugehörigkeiten zum Anlass für Migrationsentscheidungen und Prozesse werden können bzw. diese strukturieren, wird in der gegenwartsorientierten Forschung kaum thematisiert.“ (lag als Manuskript vor, deshalb o.S.)