1 Einleitung
Vor etwa zwei Jahren, im Zuge der großen Zahl an Menschen, die über die so genannte „Balkanroute“ nach Deutschland kamen, hat das freiwillige Engagement für Geflüchtete[1] hierzulande deutlich zugenommen. Vielerorts haben sich spontane Initiativen gebildet, um die Menschen mit dem Nötigsten zu versorgen, aber auch viele etablierte wohltätige Organisationen haben ihre Arbeit für Geflüchtete erheblich ausgeweitet. Angesichts dieser großen zivilgesellschaftlichen Mobilisierung zur Unterstützung Geflüchteter war von einer „Willkommenskultur“ die Rede.
Kirchliche Einrichtungen und Initiativen auf Gemeindeebene gehören zu den wesentlichen Trägern dieses Engagements. Auf der einen Seite haben die in der Wohlfahrtspflege tätigen kirchlichen Sozialinstitute der Diakonie und der Caritas ein großes Knowhow im Umgang mit Menschen in Not, das sie auch in der Hilfe von Geflüchteten zur Verfügung stellen (Aumüller u.a., 2015, S. 88). Auf der anderen Seite spielen örtliche Gemeinden und kirchliche Verbände eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, freiwilliges Engagement zu koordinieren oder zu unterstützen (Daphi, 2016, S. 36; Institut für Demoskopie Allensbach, 2016). Religion in ihrer institutionalisierten Form ist somit ein wichtiges Element in der Flüchtlingshilfe.
Allerdings unterscheidet sich die Hilfe für Geflüchtete von anderen sozialen Engagements wesentlich dadurch, dass sie überproportional häufig von freiwillig Engagierten getragen wird. In einer ersten Bilanz schätzt Priska Daphi den Anteil dieser Hilfe auf etwa 42% (2016, S. 35). Dieser große Anteil an freiwilligem Engagement scheint positive Effekte zu haben, sowohl für die einzelnen Geflüchteten als auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt: „Herausforderungen in einem fremden Kontext und in einer schwierigen Lebenssituation können leichter bewältigt werden, persönliche Kontakte und erste Netzwerke entstehen, die für Geflüchtete z.B. bei der Wohnungs- oder Arbeitsplatzsuche ein wichtiges Sozialkapital darstellen. Gleichzeitig tragen ehrenamtlich Engagierte meist zur Akzeptanz von Flüchtlingen in der lokalen Bevölkerung bei, auch indem sie Informationen und Verständnis für deren Lebenssituation in ihr erweitertes Umfeld tragen“ (Schamman & Kühn, 2016, S. 26). Auch zu den Motiven derer, die sich freiwillig engagieren, gibt es erste Einsichten. Diese weisen darauf hin, dass sich im Falle des Engagements für Geflüchtete nicht nur karitative Motive „(Flüchtlingen helfen)“ (Daphi, 2016, S. 36) finden, sondern auch eine „gesellschaftspolitische Kritik und der Wunsch, Ungerechtigkeiten entgegenzuwirken“ (ebd.). Insgesamt, so Daphi zur Flüchtlingshilfe, „sticht jedoch besonders das Motiv hervor, die Gesellschaft mitgestalten zu können“ (ebd.).
Bei dieser ersten Bilanz fällt auf, dass die individuelle Religiosität freiwillig Engagierter bislang kaum in den Blick genommen wird, obwohl aktuelle religionssoziologische Studien die Bedeutung individueller Religiosität als Kriterium für die Wirksamkeit religiöser Normen und Überzeugungen in modernen Gesellschaften betonen. Aus theologischer und religionssoziologischer Perspektive stellt Religion mit ihrem prosozialen Ethos eine wichtige Ressource individuellen Engagements dar (Haers & von Essen, 2013). Es kann angenommen werden, dass Menschen, die sich mit religiösen Überzeugungen identifizieren, besonders geneigt sind, Geflüchteten zu helfen. Gerade in der Flüchtlingshilfe könnte Religion aber auch als dysfunktionaler Faktor auftreten, denn Geflüchtete werden stark über ihre religiöse Zugehörigkeit wahrgenommen. So könnte die Tatsache, dass sich christliche inspirierte Ehrenamtliche für muslimische Geflüchtete einsetzen sollen, dieses Engagement mindern. Umgekehrt könnte die Tatsache, dass viele Geflüchtete aus muslimischen Ländern kommen, dazu führen, dass sich besonders in Deutschland lebende Muslime in der Flüchtlingshilfe engagieren.
Eine politikwissenschaftliche Perspektive, die u.a. nach Motiven für und Formen von freiwilligem Engagement fragt, macht darüber hinaus deutlich, dass sich Flüchtlingshilfe hauptsächlich in kurzfristigen Engagements abzuspielen scheint, die vor allem von Motiven der Selbstverwirklichung und Problemorientierung bewegt werden und bevorzugt im Rahmen von Initiativen in freier Trägerschaft stattfinden. Zu dieser Form von freiwilligem Engagement scheint Religion durch ihre altruistische Grundoption nicht zu passen. Weitet man jedoch das Religionsverständnis über die altruistische Dimension hinaus auf spirituelle und erlebnisorientierte Formen von Religiosität aus, wäre durchaus denkbar, dass Religion auch in kurzfristigen und wenig institutionalisierten Formen eine Rolle spielt. Ein entsprechender Zusammenhang zwischen Religion und freiwilligem Engagement ist in der obigen Bilanz jedoch völlig unbeleuchtet, da bisherige Arbeiten die individuelle Religiosität nicht in den Blick nehmen.
Welche Rolle also spielt die individuelle Religiosität für das freiwillige Engagement in der Flüchtlingshilfe? Um hier erste Orientierungspunkte zu erhalten, werden im vorliegenden Beitrag in einem ersten Schritt die wenigen bislang vorliegenden empirischen Studien zum freiwilligen Engagement in der Flüchtlingshilfe dargestellt, insofern diese Religion und individuelle Religiosität berühren (2). Da diese Bilanz stark explorativ sein muss, werden diese Befunde in einem zweiten Schritt mit der breiten Forschung zum Zusammenhang von Religion und freiwilligem Engagement im Allgemeinen verglichen (3). Die Analyse zeigt, dass hierbei weder aktuelle Erkenntnisse zu Art und Struktur von Religiosität in modernen Gesellschaften noch zum Wandel von freiwilligem Engagement berücksichtigt werden. Dies liefert jedoch, wie wir (4) zeigen werden, hilfreiche Erkenntnisse für die Bearbeitung der Forschungsfrage. Diese Analysen münden in eine bilanzierende Schlussbemerkung (5).
2 Religiosität und Flüchtlingshilfe
Obwohl es eine breite Forschung zu freiwilligem Engagement gibt, in der auch individuelle Religiosität immer wieder eine Rolle spielt, liegen bislang nur wenige einschlägige Untersuchungen vor, die freiwilliges Engagement im Zusammenhang von Flüchtlingshilfe betrachten (Daphi, 2016, Fußnote 4; Vogel u.a., 2017, S. 93). Abgesehen von den Arbeiten zur Einstellung gegenüber freiwilligem Engagement in der Flüchtlingshilfe, die Religion nur als Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft erfassen (z.B. Beckmann, Hoose & Schönauer, 2017) oder gar nicht berücksichtigen (z.B. Huxhold & Müller, 2017), konnten wir vier Studien identifizieren (2.1), von denen drei einen explorativen und regional begrenzten Charakter haben (Han-Broich, 2012; Karakayali & Kleist, 2014; Mutz u.a., 2015), während die vierte einen repräsentativen Ansatz verfolgt (Nagel & El-Menouar, 2017). Die Befunde dieser Studien zum Zusammenhang von Religiosität und freiwilligem Engagement werden im Folgenden mit Blick auf (2.2) die Relevanz von Religion als Motivation für freiwilliges Engagement und (2.3) das Religiositätsverständnis dargestellt, wobei zu bemerken ist, dass nicht alle Studien diese Punkte in gleichem Maße bearbeiten. Abschließend bilanzieren wir diese Befunde (2.4) mit Blick auf die Forschungsfrage.
2.1 Umfang, Anspruch, Methode und Zielsetzung der Studien
Die vier hier analysierten Studien sind alle zu unterschiedlichen Zeitpunkten und somit in unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Kontexten entstanden. Sie unterscheiden sich ferner mit Blick auf Umfang, Methode und Zielsetzung. Diese Arbeiten sollen hier nicht in allen Aspekten rezipiert werden, sondern nur mit Blick auf die für die Frage nach dem Zusammenhang von Religiosität und freiwilligem Engagement relevanten Aspekte.
2012, also noch vor der starken Zunahme der in Deutschland ankommenden Geflüchteten, legt Misun Han-Broich eine Studie zur Bedeutung des sozialen Engagements in der (Flüchtlings-)Sozialarbeit vor, mit der sie den spezifischen Beitrag freiwillig Engagierter zur Flüchtlingshilfe zu klären sucht. Dazu führte sie qualitative Interviews u.a. mit 22 Ehrenamtlichen (Han-Broich, 2012, S. 28–29), die alle im Raum Münster verortet sind. Für die Fragestellung dieses Beitrags sind vor allem die von Han-Broich rekonstruierten Motive freiwillig Engagierter von Bedeutung.
Ein deutlich größeres Sample umfasst die Studie von Serhat Karakayali und Oliver Kleist, für die Ende 2014 466 Personen, die sich in der Flüchtlingshilfe freiwillig engagieren, per Online-Fragebogen zu ihren Erfahrungen und Motiven befragt wurden (2015, S. 13). Da die Rekrutierung des Samples nicht zufallsgeneriert erfolgte, können die Befunde keine Repräsentativität beanspruchen. Einsichten in strukturelle Zusammenhänge sind jedoch auch in explorativen Studien möglich, sofern man keine Schlüsse auf die relativen Gewichte dieser Strukturen legt. Vor diesem Hintergrund sind die Befunde zum Zusammenhang zwischen Religion und freiwilligem Engagement zu interpretieren.
Zwei weitere Studien sind entstanden, nachdem ab 2015 die Anzahl der, vor allem über die so genannte Balkanroute, nach Deutschland kommenden Geflüchteten erheblich anstieg. Im Jahr 2015 nimmt ein Konsortium um Gerd Mutz das öffentliche Staunen über das große Engagement in der Flüchtlingshilfe zum Anlass, in einer lokal begrenzten Studie herauszufinden, wer sich in München aus welchen Motiven heraus für Geflüchtete engagiert. Methodisch kombiniert diese Studie qualitative Interviews mit einer quantitativen Befragung per Fragebogen. Obwohl das Interesse dieser Studie nicht speziell auf Religion abhebt, ergeben sich doch einige Einsichten in den Zusammenhang zwischen Religion und freiwilligem Engagement für Geflüchtete.
Im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung untersuchten Alexander K. Nagel und Yasemin El-Menouar explizit den Zusammenhang zwischen Religion und Flüchtlingshilfe (2017). Der besondere Wert dieser Studie liegt dabei nicht nur im religiös heterogenen Sample, das auch das freiwillige Engagement von Muslimen berücksichtigt. Darüber hinaus werfen beide Autoren neben dem Einfluss individueller Religiosität auf dieses Engagement die Frage auf, inwieweit ein gemeinsam geteilter religiöser Hintergrund bzw. Migrationshintergrund dieses Engagement beeinflusst. Dazu werten Nagel und El-Menouar Daten aus der dritten Welle des Religionsmonitors von 2016 aus, an der sich über 10.000 Menschen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Frankreich, Großbritannien sowie der Türkei beteiligt haben.
Im Vergleich der vier Studien ist die Arbeit von Misun Han-Broich eine Dissertationsschrift und somit vergleichsweise umfangreich und theoriegeleitet, während die anderen drei Studien einen policy-Bezug haben und entsprechende Handlungsempfehlungen formulieren.
2.2 Stellenwert religiöser Motivation für freiwilliges Engagement
Mit Blick auf die von ihr interviewten 22 Freiwilligen stellt Misun Han-Broich fest, dass „[b]ei einigen Engagierten […] die christliche Überzeugung bzw. Ethik eine große Rolle“ spielt (2012, S. 87). Religion stellt demnach einen Faktor dar, wenn es darum geht, was einen antreibt, sich für Geflüchtete einzusetzen. Dieser Faktor scheint aber nicht dominant zu sein. Auch die auf München beschränkte Studie von Mutz u.a. kommt zu dem Ergebnis, dass Religion nur eine untergeordnete Rolle im freiwilligen Engagement für Geflüchtete spielt. „In der Flüchtlingshilfe Engagierte sind seltener religiös motiviert, sie handeln vielmehr aus einem gesellschaftsbezogenen humanistischen Verständnis heraus. Sie haben ein stark ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden und wollen mit ihrem Engagement gesellschaftliche Defizite ausgleichen und den Flüchtlingen den Weg in die deutsche Gesellschaft erleichtern.“ (Mutz u.a., 2015, S. 15) Auch wenn die Studie nicht repräsentativ angelegt ist, lässt sich doch festhalten, dass Religion bestenfalls einer unter vielen Faktoren ist, sich für Geflüchtete zu engagieren. Jedoch arbeitet das Forscherkonsortium eine religiöse Grundhaltung als eines von fünf typischen Motivbündeln in diesem Engagement heraus (ebd., S. 23–29). „Am häufigsten werden in diesem Motivbündel die christliche Nächstenliebe, der ‚christliche Auftrag, sich einzumischen‘, ‚ein Herz für Menschen in Not haben‘ oder einfach ‚Gutes tun wollen‘ genannt.“ (ebd., S. 25) Diese religiöse Grundhaltung steht neben den weiteren Motivbündeln einer humanistischen Grundhaltung, pädagogischer Beweggründe, interkultureller Geselligkeit und selbstbezogener Motive. Über die relative Bedeutung dieser Motivbündel für das Engagement für Geflüchtete macht die Mutz-Studie keine Angaben, was angesichts ihres explorativen Charakters angemessen ist. Allerdings betonen die Autor/inn/en, dass keines der Motivbündel exklusiv für sich steht, sondern in der Regel Motive aus verschiedenen Motivbündeln das Handeln eines Individuums prägen. In der Summe verweisen beide Studien darauf, dass Religion kein dominantes Motiv im Engagement für Geflüchtete darstellt, als Movens unter anderen aber durchaus eine gewisse Bedeutung hat.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen Karakayali und Kleist (2015) in ihrer Online-Befragung von 466 freiwillig Engagierten. Während 48% der Antwortenden angeben, keiner Religionsgemeinschaft anzugehören (ebd., S. 20–21), geben 64% derjenigen (47%), die konfessionell gebunden sind, an, dass Religion in ihrem Leben eine wichtige bis sehr wichtige Rolle spielt. Allerdings sagen nur knapp 13%, dass ihre Religiosität eine Rolle für ihre Empathie mit Geflüchteten spielt. Demnach spielt Religiosität im Bewusstsein der befragten Engagierten keine besondere Rolle, wenn es darum geht, Geflüchteten zu helfen. Die Ergebnisse der Studie lassen jedoch vermuten, dass gemeinsame Erfahrungen und/oder ein gemeinsamer religiöser Hintergrund zu einer gesteigerten Solidarität mit Geflüchteten führen. So stellen die Autoren fest, dass es vor allem Christen sind, die einen besonderen Schutzstatus von aus Syrien geflüchteten Christen bejahen (ebd., S. 33). Es stimmen diesem besonderen Schutzstatus 37% der Befragten mit Religionszugehörigkeit zu, während es unter den Konfessionslosen nur 19% sind. Außerdem stellen Karakayali und Kleist in sozialstruktureller Hinsicht fest, dass sich unter den Antwortenden überproportional viele Personen mit Migrationshintergrund befinden (ebd., S. 19). So sind 15% selbst nach Deutschland eingewandert und weitere 14% haben mindestens einen eingewanderten Elternteil. Für die Erklärung dieses Befunds liegen zwei Vermutungen nahe. Zum einen teilen Migranten das Schicksal Geflüchteter, was zu einer größeren Identifikation mit diesen führen könnte. Zum anderen spielt Religion im Leben vieler Migranten eine größere Rolle als im Leben von Menschen ohne Migrationshintergrund, was für die Bedeutung individueller Religiosität für das Engagement für Geflüchtete sprechen könnte. Indizien, die beide Thesen empirisch überprüfen ließen, liefern Karakayali und Kleist in ihrer Studie nicht.
Auch die Studie von Nagel und El-Menouar (2017) legt nahe, dass sich ein gemeinsamer Hintergrund positiv auf eine Solidarisierung mit Geflüchteten auswirkt. Insgesamt stellen die Autoren auf der Ebene der Religionszugehörigkeit fest, dass sich Mitglieder von Religionsgemeinschaften sowohl beim allgemeinen Engagement als auch in der Flüchtlingshilfe stärker einbringen als Konfessionslose (ebd., S. 24). Interessant ist jedoch der Blick ins Detail: Während sich deutlich mehr Christen allgemein freiwillig engagieren (38% gegenüber 30%), „sind Muslime in deutlich stärkerem Ausmaß in die Flüchtlingshilfe involviert als Christen“ (ebd.; 21% gegenüber 44%). Nagel und El-Menouar relativieren die angegebenen Prozentwerte dahingehend, dass sie auf das konkrete Wording der relevanten Items verweisen und zu bedenken geben, dass Muslime unter Engagement bzw. Hilfe evtl. etwas anderes verstehen als Christen. Allerdings zeigt eine Auswertung der Antworten von Muslimen getrennt nach Herkunftsland, dass der Anteil sich engagierender Muslime aus potentiellen Herkunftsregionen von Geflüchteten deutlich größer ist als der von Muslimen, deren Herkunftsland keine Fluchtursachen aufwirft (ebd., S. 26). Gleichzeitig ist das Engagement Ersterer intensiver als das Letzterer. „Es ist denkbar, dass die geteilte Herkunftsregion einerseits die Identifikation und individuelle Motivation stärkt, sich in der Flüchtlingshilfe zu beteiligen: Man hilft, weil man es kann und ganz offenkundig gebraucht wird. Andererseits ist anzunehmen, dass der institutionelle Bedarf (z.B. an Übersetzern) zu verstärkten Rekrutierungsanstrengungen unter Menschen mit Migrationshintergrund führt, die dann eben überdurchschnittlich häufig Muslime sind.“ (ebd.) Da sich jedoch christliche und konfessionslose Migranten ähnlich stark freiwillig engagieren wie die entsprechenden christlichen und konfessionslosen Teilsamples ohne Migrationshintergrund, scheint ein gemeinsamer regionaler Hintergrund notwendig zu sein, um eine stärkere Solidarisierung auszulösen.
Ein religiöses Sendungsbewusstsein ist jedoch für das Engagement nicht relevant, wie eine Analyse Nagels und El-Menouars auf bivariatem Niveau zeigt (2017, S. 35–39). Thesen, wonach es sich bei dem Engagement für Geflüchtete vor allem um Missionsversuche religiöser Gemeinschaften unter Geflüchteten handele, können durch die Daten der Bertelsmann-Studie somit nicht bestätigt werden. Im Gegenteil, es sind vor allem die Christen und Muslime, die offen gegenüber anderen Religionen sind, die sich engagieren. Darüber hinaus dominieren in dieser Gruppe die Personen, die kein christliches oder muslimisches Sendungsbewusstsein zeigen.
Weiterhin ergeben sich in der Studie von Nagel und El-Menouar mit Blick auf die individuelle Religiosität der in der Flüchtlingshilfe Engagierten signifikante Zusammenhänge sowohl mit der Teilnahme an ritueller religiöser Praxis, mit der Mitgliedschaft in religiösen Gemeinschaften und mit der Bedeutung religiöser Normen für die Alltagsgestaltung (Nagel & El-Menouar, 2017, S. 28–34). So sind es überproportional viele Christen und Muslime, die regelmäßig bis wöchentlich an Gottesdiensten bzw. dem Freitagsgebet teilnehmen, die sich für Geflüchtete einsetzen. Gleiches gilt für die Christen und Muslime, die aktiv am Leben ihrer Gemeinde bzw. eines Moscheevereins teilnehmen. Ebenso engagieren sich mehr Gläubige, denen religiöse Normen wichtig sind, als solche, die religiösen Normen keine bis wenig Bedeutung für ihren Alltag zuschreiben. Allerdings zeigt sich auch in diesen Daten die bereits oben angesprochene Bedeutung eines gemeinsamen kulturellen Hintergrunds für freiwilliges Engagement in der Flüchtlingshilfe. Denn unter christlichen Engagierten sind es überproportional Mitglieder aus Freikirchen und orthodoxen Kirchen, die sich für Geflüchtete einsetzen. Bei orthodoxen Christen liegt der Zusammenhang zu gemeinsamen Herkunftsregionen auf der Hand. Bei Menschen, die in Freikirchen organisiert sind, vermuten Nagel und El-Menouar, dass die in diesen Kirchen deutlich vernehmbare Aufforderung zum Einsatz für geflüchtete Christen den Zusammenhang erklärt.
Die Bertelsmann-Studie endet mit einer logistischen Regression, in der bestimmt werden kann, welche Bedeutung die bisher im Einzelnen referierten Befunde haben, wenn man sie zusammen in den Blick nimmt (Nagel & El-Menouar, 2017, S. 40–43). In dieser Regression zeigt sich, dass es vor allem drei Aspekte sind, die ein gesteigertes Engagement in der Flüchtlingshilfe bedingen: Die Zugehörigkeit zum Islam, die Teilnahme an ritueller religiöser Praxis und die Bedeutung religiöser Normen für den Alltag. Verweist der erste Indikator auf die Bedeutung eines gemeinsamen religiösen Hintergrunds für ein gesteigertes Engagement in der Flüchtlingshilfe, deuten die beiden anderen Indikatoren auf die Relevanz einer institutionell getragenen Religiosität in diesem Zusammenhang hin. Sowohl die Teilnahme an rituellen Vollzügen wie auch die Orientierung an religiösen Normen, die von einer Religionsgemeinschaft vorgegeben werden, stehen für eine Rückbindung eines Individuums an eine Glaubensgemeinschaft. Diese Gemeinschaft ist die spirituelle Ressource für die eigene Religiosität.
2.3 Verständnis von Religiosität
Das differenzierteste Verständnis von Religion und Religiosität weist die Bertelsmann-Studie auf, was insofern nicht verwundert, als Religion einen wesentlichen Bestandteil ihrer Forschungsfrage darstellt. Nagel und El-Menouar unterscheiden zwischen der Religionszugehörigkeit auf der einen Seite und der individuellen Religiosität auf der anderen Seite. Die Religionszugehörigkeit ist dabei wie üblich ordinal skaliert und bietet eine Reihe von möglichen Kirchen, religiösen Gemeinschaften und spirituellen Traditionen an. Diese Unterscheidung erlaubt in manchen Analysen einen Schluss auf die ideologische Geschlossenheit der Mitglieder, wenn sich z.B. Unterschiede zwischen Angehörigen von Freikirchen und denen der katholischen und der evangelischen Kirche ergeben. Bei der individuellen Religiosität wird zwischen der Teilnahme an Gottesdiensten bzw. dem Freitagsgebet, der aktiven Teilnahme am Gemeinde- bzw. Gemeinschaftsleben, der Bedeutung religiöser Normen für die Gestaltung des Alltags und dem religiösen Sendungsbewusstsein unterschieden. Gemeinsam ist diesen Items, dass sie Religiosität im Vorzeichen institutionell getragener Überzeugungen und Vollzüge erfassen. Eine von institutionellen Bezügen unabhängige Religiosität oder gar eine alternative Spiritualität wird mit diesen Items nicht erfasst. Gleiches gilt auch für die Liste möglicher religiöser Zugehörigkeiten, die keine Gruppierungen im Feld alternativer Spiritualität oder säkularer Weltanschauungen anbietet.
Insofern der Schwerpunkt der anderen Arbeiten nicht auf Religion oder Religiosität liegt, kann hier nicht von einem differenzierten oder abgeklärten Religionsbegriff ausgegangen werden. Konzeptuell instruktiv ist jedoch die Arbeit von Misun Han-Broich, weil sie ein differenziertes Motivations-Konzept verwendet, in welches sie religiöse Motive einbettet. Sie bilanziert zunächst die vorliegende Forschung zu Motivation zu sozialem Engagement dahingehend, dass zwar verschiedene Motivgruppen unterschieden werden, diese sich aber wesentlich an der Achse selbstbezogen versus altruistisch orientieren (2012, S. 82–83). Religion gehört in diesen Studien stets zum altruistischen Pol, weil Religionen an der Hilfe des Nächsten, Notleidenden, etc. orientiert seien. In ihrer eigenen Studie kommt Han-Broich zu einer komplexeren Ordnung solcher Motive (ebd., S. 83–85). Auf einer ersten Ebene unterscheidet sie zwischen extrinsisch verankerten Motiven, die durch eine außerhalb der Person liegende Quelle angeregt werden, und intrinsischen Motiven, die sich aus der handelnden Person selbst speisen. In der Gruppe der extrinsischen Motive wiederum finden sich solche, die auf das eigene Selbst gerichtet sind, und solche, die die Gesellschaft als Ziel haben. Bei den intrinsischen Motiven unterscheidet Han-Broich zwischen Normbezug und Persönlichkeitsbezug, wobei der Normbezug für eine Verankerung des eigenen Handelns in übergeordneten, quasi objektiven Moralen steht.
Eine religiöse Überzeugung ist nach Han-Broich Teil der intrinsischen Motive mit Normbezug. Für diejenigen Engagierten, bei denen Religion eine große Rolle spielt, „entspringe ehrenamtliches Engagement dem Gebot christlicher Nächstenliebe, zu der sie erzogen worden seien. Selbst wenn sich diese Menschen nicht unmittelbar im kirchlichen Umfeld bewegen, folgten sie doch einer christlichen Grundüberzeugung, wenn sie entsprechend angesprochen werden“ (2012, S. 87). Hieran wird deutlich, dass Religion mit dem „Gebot christlicher Nächstenliebe“ assoziiert wird. Jedoch legt Han-Broich nicht offen, ob dieser Begriff von den Interviewten selbst genannt wird oder von der Verfasserin als beschreibender Begriff für das, was ihr die Interviewten erzählen, verwendet wird. Im Ergebnis wird Religion jedoch mit Altruismus assoziiert. Darüber hinaus erweist sich eine religiöse Überzeugung als Ergebnis von Erziehung bzw. Sozialisation. So schlüssig diese Bemerkung auf den ersten Blick scheint, beinhaltet sie auf den zweiten Blick die Konsequenz, dass christliche Tugenden für Menschen, die nicht aus einem christlichen Umfeld kommen, keinen Bezugspunkt für ihr eigenes Tun darstellen. Der Fall, dass ein Mensch, der sich als religiös neutral verortet, die christliche Nächstenliebe als attraktives Muster für freiwilliges Engagement entdeckt und dieses Muster für sein eigenes Tun übernimmt, scheint somit nicht denkbar. Schließlich ist eine religiöse Überzeugung nach Han-Broich nicht an eine praktizierte Religiosität gebunden, denn sie wird auch von Menschen angeführt, die sich „nicht unmittelbar im kirchlichen Umfeld bewegen“ (ebd.).
In der Studie von Mutz u.a. repräsentieren die unter der religiösen Grundhaltung versammelten Items zum einen eine altruistische Haltung, die unter Absehung des eigenen Glücks vor allem am Schicksal bzw. Wohlergehen des Gegenübers interessiert ist. Zum anderen scheint sich eine religiöse Grundhaltung auch in Items darzustellen, die nicht exklusiv religiös gelesen werden müssen. So könnten „Gutes tun wollen“ oder „ein Herz für Menschen in Not haben“ auch für ein humanistisches Motivbündel stehen. Leider erklären Mutz und Kolleg/inn/en nicht, wie sie die Motivbündel herausgearbeitet haben. Nimmt man an, dass diese Analyse seriös erfolgt ist, verweist diese Studie, so wie auch die Arbeit von Han-Broich, auf eine große Assoziation von Religion und Altruismus. Im Unterschied zu Han-Broich fokussieren Mutz u.a. diesen Altruismus jedoch nicht auf das explizit christliche Gebot der Nächstenliebe, sondern fassen darunter auch empathische Items, die ebenso gut einer humanistischen Orientierung entsprechen könnten. Der als religiös betitelte Altruismus in der Münchener Studie erweist sich somit als umfassender als der in der Studie Han-Broichs.
Den am wenigsten differenzierten Begriff von Religion zeigen Karakayali und Kleist. In ihrer Studie findet sich ein Item zur Religionszugehörigkeit mit den üblichen Antwortoptionen. Die wenigen einschlägigen Befunde beruhen sämtlich auf diesem Item. In der Folge scheinen auch die im Fragebogen angebotenen Motive keine religiöse Option beinhaltet zu haben. Zumindest spielt eine solche im Forschungsbericht beider Autoren keine Rolle.
2.4 Fazit
Fasst man die Befunde der vier Studien zusammen, erscheint Religion als eine mögliche Ressource, sich in der Flüchtlingshilfe zu engagieren. Diese Ressource hat einen eindeutig altruistischen Charakter, insofern sie stark mit der christlichen Tugend der Nächstenliebe und davon abgeleiteten Items assoziiert wird. Aufgrund dieses Charakters motivieren Religionen zu prosozialem Engagement und Empathie mit Notleidenden, im konkreten Fall Geflüchteten. Die individuelle Religiosität ist in diesem Zusammenhang das Merkmal des Individuums, welche den spezifischen Charakter von Religion individuell wirksam werden lässt.
Darüber hinaus verweisen die Befunde darauf, dass Religion dann als Ressource wirksam wird, wenn sich die individuelle Religiosität an institutionell rückgebundenen Überzeugungen und Vollzügen orientiert. So sind es religiöse Normen und Riten, die sich als Indikator für ein stärkeres Engagement eignen. Allerdings bleibt zu bedenken, dass die vorliegenden Studien Religion auch nur in diesem institutionell gestützten Sinn abgefragt haben. Es kann somit nicht geschlossen werden, dass alternative Spiritualitäten nicht einen vergleichbaren Effekt zeigen können. Diese Frage bleibt unbeantwortet.
Schließlich scheint Religion im Zusammenhang mit Flüchtlingshilfe auch als kulturelles Merkmal zu wirken, das als Mediator das freiwillige Engagement moderiert. Zumindest deuten einige Befunde darauf hin, dass die Motivation, Menschen mit demselben religiösen Hintergrund zu helfen, stärker ausfällt als die allgemeine Motivation zur Hilfe in diesem Sektor. Dabei ist Religion ein Aspekt dieses kulturellen Hintergrunds, wobei es hier wohl eher um eine gemeinsame religiöse Herkunft geht als um individuelles religiöses Engagement. Gemäß dem obigen Befund scheinen Menschen mit ausgeprägter individueller Religiosität jedoch stärker auf diesen Faktor anzusprechen als Menschen, die ein distanziertes Verhältnis zu Religion pflegen.
Sieht man davon ab, dass in drei der vier skizzierten Studien das Sample praktisch ausschließlich aus einem – zumindest vormals – christlichen Kontext stammt, bleibt als zweite Frage dieser vorläufigen Bilanz zum freiwilligen Engagement in der Flüchtlingshilfe offen, wie sich Religion als kulturelle oder soziale Ressource und individuelle Religiosität zueinander verhalten. Der bisherige Befund legt es zumindest nahe, dass die individuelle Religiosität eher einen moderierenden Effekt hat und es Religion als kulturelle oder soziale Ressource ist, die zu freiwilligem Engagement motiviert. Allerdings sind die vorliegenden Befunde nicht geeignet, diese Frage sicher zu beantworten.
Aufgrund der beiden offenen Fragen, die die skizzierten Studien zur Rolle von Religiosität im freiwilligen Engagement in der Flüchtlingshilfe aufwerfen, befassen wir uns in einem zweiten Schritt mit der Forschung zum Zusammenhang zwischen Religion und freiwilligem Engagement im Allgemeinen.
3 Der Zusammenhang zwischen Religion und freiwilligem Engagement
Der Einfluss von Religion auf freiwilliges Engagement wird in der Regel im Rahmen des Sozialkapital-Konzepts untersucht (Liedhegener, 2016, S. 128). Deshalb bilanzieren wir zuerst die Befunde dieses Ansatzes (3.1) und befragen sie nach dem Religionsbegriff, welcher den Befunden zu Grunde liegt (3.2). Dann gehen wir auf jüngere Studien ein, die freiwilliges Engagement als Produkt religiöser Pluralisierung verstehen (3.3). Abschließend beziehen wir die Erkenntnisse der allgemeinen Forschung auf die Befunde im Feld der Flüchtlingshilfe, um Parallelen und Anknüpfungspunkte herauszuarbeiten (3.4).
3.1 Religion im Kontext des Sozialkapital-Konzepts
Unter Sozialkapital wird in der hier rezipierten Forschung – stark verallgemeinert dargestellt – die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger einer Gesellschaft verstanden, sich für diese Gesellschaft zu engagieren und dabei zu kooperieren (Liedhegener, 2016). Das freiwillige Engagement stellt in diesem Kontext eine Komponente der strukturellen Dimension des Sozialkapitals dar, die gegenüber einer kulturellen Komponente (z.B. soziales Vertrauen) abgegrenzt wird. Vor diesem konzeptuellen Hintergrund bestätigen zahlreiche empirische Studien einen positiven Einfluss von Religion auf freiwilliges Engagement, wobei die Effekte eher schwach ausgeprägt sind (z.B. Stein, 2016; Traunmüller, 2011, 2012). Statt die Befunde dieser Studien hier im Detail zu referieren, bilanzieren wir die Ergebnisse anhand der fünf Thesen, die in der Regel zur Erklärung des Zusammenhangs zwischen Religion und freiwilligem Engagement herangezogen werden. Es sind dies die Protestantismusthese, die Religionsthese, die Organisationsthese, die Religiositätsthese und die Glaubenspraxisthese (Liedhegener, 2016, S. 131–133, vgl. auch Traunmüller, 2012, 54–89).
Die Protestantismusthese begründet den Einfluss von Religion auf freiwilliges Engagement durch den ideologischen Gehalt von Religion (z.B. Roßteutscher, 2009; Traunmüller, 2009). Sie gründet auf dem empirischen Befund, dass Christen in der Regel eine stärkere Neigung zu freiwilligem Engagement zeigen als Menschen ohne Religionszugehörigkeit, und unter den Christen die Protestanten nochmals stärker engagiert sind als die Katholiken. Demnach führt die Wertschätzung pro-sozialer Werte und altruistischer Motive im Christentum zu einer höheren Neigung zu freiwilligem Engagement. Die höheren Werte bei den Protestanten werden durch die größere Verantwortung von Laien für kirchliches Leben in dieser Konfession erklärt, welche zu einer erhöhten Bereitschaft für freiwilliges Engagement führen. Katholiken wären demnach, weil sie ihr spirituelles Heil von klerikalem Personal versorgt wissen, weniger initiativ, wenn es darum geht, sich für eine gemeinsame Sache zu engagieren.
Die Religionsthese sieht die Ursache besagten Zusammenhangs in der Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft begründet, in der pro-soziale Werte und altruistische Motive ein hohes Ansehen genießen (z.B. Pollack, 2002). Empirischer Anhaltspunkt dieser These sind Befunde, gemäß der sich Mitglieder einer Religionsgemeinschaft in der Regel stärker freiwillig engagieren als Menschen, die keiner Religionsgemeinschaft angehören. Demnach werden Mitglieder von Religionsgemeinschaften immer wieder auf die Bedeutung solcher Werte und Motive verwiesen, treffen auf Menschen, die solche Werte und Motive achten und leben in einem Umfeld, das immer wieder Möglichkeiten für freiwilliges Engagement eröffnet. In der Folge zeigen Mitglieder von Religionsgemeinschaften eine höhere Neigung zu diesem Engagement.
Auch in der Organisationsthese gilt die Mitgliedschaft als Ursache des positiven Einflusses von Religion auf freiwilliges Engagement. Allerdings schreibt diese These dem konkreten Inhalt, der sich eine Organisation bzw. Gemeinschaft verpflichtet fühlt, keine Rolle zu (z.B. Pickel & Gladkirch, 2011; Putnam & Campbell, 2010). Sie stützt sich auf Befunde, die ein größeres freiwilliges Engagement nicht nur bei Mitgliedern von Religionsgemeinschaften finden, sondern auch bei Mitgliedern in Vereinen und Organisationen der Zivilgesellschaft ohne religiösen Hintergrund. Demnach signalisiert bereits die Tatsache, dass ein Individuum Mitglied in einem Verein oder einer Gemeinschaft ist, dass es an seinen Mitmenschen interessiert ist und bereit ist, sich freiwillig für Andere zu engagieren, unabhängig davon, ob es sich um eine Mitgliedschaft in der freiwilligen Feuerwehr, einem Sportverein oder einer Religionsgemeinschaft handelt. Ursächlich für freiwilliges Engagement ist gemäß dieser These nicht Religion, sondern die Tatsache, dass man geneigt ist, an einer sozialen Gruppe teilzuhaben.
Die Religiositätsthese führt den Zusammenhang zwischen Religion und freiwilligem Engagement auf die individuelle Religiosität zurück (z.B. Gabriel, 2000; Krause u.a., 2009). Empirischer Haftpunkt dieser These sind die positiven Korrelationen zwischen Variablen individueller Religiosität und freiwilligem Engagement. Demnach sind Menschen, die sich selbst für religiös erachten und Religion eine große Bedeutung in ihrem Leben zuschreiben, besonders offen für die pro-sozialen Werte und altruistischen Motive, die die Religionen – insbesondere im Westen – auszeichnen. Unabhängig vom konkreten religiösen Bekenntnis führt die individuelle Zentralität von Religion zu einer gesteigerten Bereitschaft für freiwilliges Engagement.
Die Glaubenspraxisthese schließlich sieht den positiven Zusammenhang zwischen Religion und freiwilligem Engagement in der Tatsache begründet, dass ein Individuum bereit ist, seine Religiosität zusammen mit anderen auszudrücken und zu feiern (z.B. Liedhegener, 2016). Sie stützt sich in der Regel auf die Bedeutung der Variablen des sonntäglichen Gottesdienstbesuchs in Befunden zum freiwilligen Engagement. Demnach zeigen Menschen, die ihren Glauben in Gemeinschaft feiern, ein Interesse am Mitmenschen und teilen die pro-sozialen Werte und altruistischen Motive, die die Glaubensschwestern und -brüder wertschätzen. Ferner wird man in solchen Netzwerken auch häufiger angefragt, sich freiwillig zu engagieren.
3.2 Der Religionsbegriff der fünf Thesen
Diese fünf Thesen unterscheiden sich in ihrem Religionsverständnis. In den Thesen (1) bis (3) stellt Religion ein soziales Netzwerk dar, das durch eine spezifische Kultur gekennzeichnet ist. Religion ist somit ein kollektives Phänomen, hinter dem das handelnde Individuum verschwindet. In These (1) führen feine Unterschiede zwischen den konfessionellen Kulturen zu unterschiedlichen Weisen des Miteinanders in den sozialen Netzwerken. These (2) grenzt dagegen allgemeiner eine religiöse Kultur gegen eine säkulare Kultur ab und führt das unterschiedliche Engagement auf diese Differenz zurück. Für These (3) schließlich spielt der kulturelle Aspekt in den sozialen Netzwerken keine Rolle, so dass auch Religion nicht als erklärender Faktor wirken kann. Im Gegensatz zu den ersten drei Thesen konzentrieren sich die Thesen (4) und (5) auf die individuelle Religiosität, wobei These (4) die individuelle Bedeutung von Religion im Allgemeinen heranzieht und These (5) die Teilnahme an einem institutionell getragenen religiösen Vollzug.
Jenseits dieser unterschiedlichen Religionsbegriffe bildet eine starke Assoziation von Religion mit pro-sozialen Werten und altruistischen Motiven den inhaltlichen Hintergrund der Thesen. Mit Ausnahme der Organisationsthese, die für sich genommen nicht eigens auf Religion abhebt, gehen alle Thesen davon aus, dass Religion in ihrem inneren Kern am Mitmenschen interessiert ist und eine Ethik propagiert, die das Wohl der Allgemeinheit über bzw. neben das eigene Wohl stellt. Auf dieser inhaltlichen Grundlage werden Religion drei Funktionen zugeschrieben, die sich positiv auf den Willen zu freiwilligem Engagement auswirken. Erstens stellt Religion eine kulturelle Ressource für freiwilliges Engagement dar. In ihren Überzeugungen, Glaubensvollzügen und Moralen bieten Religionen einen Orientierungsrahmen, der das Individuum ermuntert, sich freiwillig zu engagieren. Zweitens eröffnet Religion einen Ermöglichungsraum für freiwilliges Engagement. Indem man sich in religiösen Gemeinschaften oder religiös motivierten Netzwerken bewegt, stößt man immer wieder auf Gelegenheiten und Initiativen, sich freiwillig zu engagieren. Drittens repräsentiert Religion eine individuelle Ressource für freiwilliges Engagement. Hoch religiöse Individuen zeichnet eine Einstellung aus, welche am Mitmenschen interessiert ist und den Einsatz für dessen Wohlergehen wertschätzt. In den oben skizzierten Thesen sind diese drei Funktionen in unterschiedlicher Gewichtung und Konstellation rezipiert. Gemeinsam decken sie sämtliche Bereiche des zivilgesellschaftlichen Miteinanders ab, nämlich die Makro- (Religion als kulturelle Ressource), die Meso- (Religion als Ermöglichungsraum) und die Mikro-Ebene (Religion als individuelle Ressource).
3.3 Ein alternativer Zugriff auf den Zusammenhang von Religion und freiwilligem Engagement
Ein jüngerer, von den fünf skizzierten Thesen und den mit ihnen verbundenen Religionsbegriffen unabhängiger Zugriff auf den untersuchten Zusammenhang fragt danach, inwieweit die religiöse Vielfalt, die eine Gesellschaft kennzeichnet, die Bereitschaft zu freiwilligem Engagement fördert. Dabei kommen zwei Studien, die beide den Fractialization-Index nach Alesina u.a. (2003) nutzen, zu vergleichbaren Ergebnissen. Van Heuvelen (2014) zeigt, dass sich in religiös vielfältigen Gesellschaften Mitglieder von Minderheitsreligionen stärker freiwillig engagieren als Mitglieder von Mehrheitsreligionen. Ebenso findet Bennett (2015), dass der Grad religiöser Vielfalt innerhalb einer Gesellschaft positiv korreliert mit einer gesteigerten Bereitschaft zu freiwilligem Engagement. Religion wird in beiden Untersuchungen als Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft bzw. religiösen Tradition verstanden. Im Unterschied zur oben skizzierten These (2) ist es jedoch nicht das für die jeweilige Gemeinschaft charakteristische Ethos, das die Unterschiede induziert. Vielmehr ist es die Konkurrenzsituation, in der sich diese Gemeinschaften in einer religiös vielfältigen Gesellschaft befinden, die die Mitglieder dazu animiert, sich sozial zu engagieren. Dabei steht in beiden Untersuchungen stillschweigend die Annahme im Hintergrund, dass sich dieses gesteigerte Engagement vor allem auf Menschen des gleichen kulturellen bzw. religiösen Hintergrunds bezieht – analog zu den Befunden im Zusammenhang mit der Flüchtlingshilfe.
3.4 Fazit
Gleicht man die soeben zusammengefasste Forschung zum Zusammenhang zwischen Religion und freiwilligem Engagement mit der Forschung im Kontext der Flüchtlingshilfe ab, ergeben sich einige charakteristische Parallelen.
Offenbar verwenden beide Forschungsstränge ein Verständnis von Religion, das stark mit Altruismus assoziiert ist. Religion gilt als soziale Ressource, die zum Einsatz für Notleidende und Bedürftige ermutigt. Alternative Bedeutungen von Religion kommen nicht in den Blick. Da weder die Forschung zum freiwilligen Engagement im Allgemeinen noch die im Kontext der Flüchtlingshilfe nach alternativen Sinnpotentialen von Religion fragt, kann hier nicht entschieden werden, ob die starke Assoziation von Religion mit Altruismus dem Alltagsgebrauch von Religion entspricht oder ein Produkt einer Forschung mit entsprechendem Bias ist.
Unter den fünf Thesen zum Zusammenhang zwischen Religion und freiwilligem Engagement im Allgemeinen scheinen vor allem die Religions- und die Glaubenspraxisthese in der Forschung im Kontext von Flüchtlingshilfe rezipiert bzw. bestätigt zu werden. Es ist entweder die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft oder eine institutionell orientierte Form individueller Glaubensvollzüge, die ein besonders großes Engagement für Geflüchtete zur Folge haben. Die ideologischen Unterschiede zwischen den Religionsgemeinschaften, wie sie die Protestantismusthese formuliert, werden nur bei besonders religiösen Gemeinschaften wie z.B. den Freikirchen relevant. Die Unterschiede zwischen Muslimen und Mitgliedern anderer Religionsgemeinschaften scheinen dagegen nicht in ideologischen Unterschieden zu gründen, sondern in der Identifikation mit Menschen aus einer Herkunftsregion, aus der man selbst stammt.
Dass Muslime in der Flüchtlingshilfe überproportional repräsentiert sind, kann keine der unter dem Sozialkapital-Ansatz formulierten Thesen schlüssig begründen. Hier scheint die vergleichende Forschung zum Zusammenhang zwischen Engagement und religiöser Vielfalt, die einem Rational-Choice-Ansatz folgt, hilfreicher. So gibt es sowohl Befunde, die darauf hinweisen, dass religiöse Minderheiten sich besonders um Geflüchtete des gleichen Glaubens kümmern, als auch Indizien, dass es für solche Minderheiten erstrebenswert ist, sich hier zu engagieren, um zu zeigen, dass man in der Gastgesellschaft angekommen ist.
Neben diesen theoretischen Bezügen und Parallelen teilt die Forschung zum Zusammenhang von Religiosität und freiwilligem Engagement im Allgemeinen mit den Studien zu diesem Zusammenhang im Feld der Flüchtlingshilfe zusätzlich das Vorverständnis, dass Religion nur als institutionell rückgebunden begriffen wird. Um die Problematik dieses Vorverständnisses aufzudecken, rekapitulieren wir in einem letzten Schritt die einschlägige Forschung sowohl zu Eigenart und Struktur von Religiosität in modernen Gesellschaften, als auch zum Wandel des freiwilligen Engagements.
4 Diskussion des Forschungsstands im Spiegel gegenwärtiger Forschung zu Religiosität und zu freiwilligem Engagement
Um die konzeptuellen Leerstellen der vorliegenden Forschung zum Zusammenhang von Religiosität und freiwilligem Engagement aufzudecken, diskutieren wir im folgenden Abschnitt diese Forschung im Horizont der gegenwärtigen Einsichten sowohl zu Eigenart und Struktur von Religiosität in modernen Gesellschaften (4.1) als auch zum freiwilligen Engagement (4.2).
4.1 Evaluation des skizzierten Forschungsstands im Spiegel gegenwärtiger Forschung zu individueller und kollektiver Religiosität
Im Folgenden soll der eben bilanzierte Stand der Forschung zum Zusammenhang zwischen Religion und freiwilligem Engagement mit gegenwärtiger Religions- und Religiositätsforschung abgeglichen werden. Denn die skizzierten Thesen spiegeln die aus der einschlägigen Forschung bekannte Individualität zeitgenössischer Religiosität nur ungenügend wider und scheinen den Trend zum Spirituellen gänzlich zu übersehen.
Zur Religiosität moderner Menschen liegen zahlreiche theologische bzw. religionswissenschaftliche (Aygün, 2012; Bucher, 2009; Feige & Gennerich, 2008; Könemann, 2002; Müller, 2007; Schöll & Streib, 2001; Streib & Gennerich, 2011; Ziebertz, 2006; Ziebertz, Kalbheim & Riegel, 2003; Ziebertz & Riegel, 2008) und soziologische sowie psychologische (Calmbach u.a., 2012; Calmbach u.a., 2013; Dütemeyer, 2002; Friedrichs, Huber & Steinacker, 2006; Pollack & Müller, 2013; Pollack & Rosta, 2015; Siegers, 2012; Stolz u.a., 2014; Tressat, 2011; Schnell, 2012; Wippermann, 1998; Wippermann & Calmbach, 2008) Studien vor. Gemäß diesen Befunden ist die Religiosität heutiger Menschen individualisiert, vielfach synkretistisch und erlebnisorientiert.
Die Religiosität moderner Menschen ist in grundlegender Weise individualisiert (Gründer & Scherr, 2012; Müller, 2007; Tressat, 2011). Viele Jugendliche und Erwachsene zeigen eine große Distanz gegenüber der Institution Kirche, die sich nicht mehr nur in einer kritischen Haltung äußert, sondern auch mit einer massiven Ablehnung im Hinblick auf Strukturen, Vermittlung von Glauben und religiöser Praktiken einhergeht (Calmbach u.a., 2013; Pollack & Müller, 2013; Ziebertz & Riegel, 2008, S. 148–160). Dennoch bezeichnen sich viele Menschen als religiös bzw. spirituell (Feige, 2010). Ihre Religiosität ist tief geprägt vom Bewusstsein individueller religiöser Autonomie und in der Regel offen gegenüber der Vielfalt religiöser und spiritueller Angebote, wie sie für eine moderne Gesellschaft typisch sind (Streib & Gennerich, 2011, S. 165–180).
In den konkreten religiösen Überzeugungen führt dies zu einem heterogenen Befund, der vielmals synkretistische Züge trägt (Streib & Gennerich, 2011; Ziebertz & Riegel, 2008). Neben christlich, muslimisch bzw. jüdisch geprägten Überzeugungen finden sich meta-theistische bzw. deistische Haltungen, die von der Existenz einer übernatürlichen Macht ausgehen, welche im Hier und Jetzt kaum erfahrbar ist. Ferner gibt es Menschen, die eine derartige Macht im zwischenmenschlichen Handeln und in den Kräften der Natur suchen, und solche mit einer fernöstlich inspirierten bzw. magisch-esoterischen Spiritualität. In charakteristischer Weise sind die wenigsten dieser Überzeugungen theologisch stringente und in sich abgeschlossene Gebilde, sondern vielmals ein Konglomerat aus verschiedenen Glaubensüberzeugungen. Ferner ereignet sich ein Großteil dieser religiösen Orientierungen jenseits der Konturen institutionell getragener Religion und nimmt nur noch lose auf diese Bezug, so dass sie gemessen in traditionellen religiösen Kategorien „unsichtbar“ (Knoblauch, 1996) ist. Um diese Unsichtbarkeit konzeptuell zu fassen, arbeitet die gegenwärtige Religionswissenschaft und -soziologie mit dem Begriff der Spiritualität (Zinnbauer & Pargament, 2005). Schließlich leben viele Menschen ohne einen Glauben an Gott oder eine transzendente Wirklichkeit (Pollack & Müller, 2013).
Schließlich speist sich individuelle Religiosität wesentlich aus der Erlebnisqualität der Ereignisse, in denen Religion erfahren wird (Knoblauch, 2009). Die Ablehnung traditioneller religiöser Rituale wird in der Regel damit begründet, dass sie langweilig und altmodisch seien (Ziebertz & Riegel, 2008, S. 151–154). Religiöse Events wie Pilgern auf dem Jakobsweg oder Weltjugendtage werden dagegen als anregend und spirituell wertvoll erlebt (Scharnberg, 2010). Magische und esoterische Praktiken gelten als aufregend und vermitteln einen „thrill“, während die spirituelle Bedeutung persönlicher Rituale in der Qualität der Beziehung zu Freunden gründet (Schnell, 2012). Damit prägt das unmittelbare Erlebnis die Qualität religiöser Erfahrung.
Eingebettet ist eine derart verfasste individuelle Religiosität in ein gesellschaftliches Klima, das durch Säkularisierung und religiöse Pluralisierung geprägt ist (Gabriel, 2003). Der moderne Staat ist weltanschaulich neutral und hat sich gegenüber religiöser Bevormundung emanzipiert. Die allgemeine Erfahrungs- und Vorstellungswelt kommt gemäß Charles Taylor (2007) in der Regel ohne transzendente Bezüge aus, denn für sehr viele Menschen lässt sich die Welt durch wissenschaftliche Theorien und Erzählungen hinreichend erklären und sie finden persönliche Erfüllung in rein immanenten Sinnbezügen (Pollack & Rosta, 2015). Allerdings ist in einer säkularen Gesellschaft Glaube möglich, bleibt jedoch die aufwändigere, voraussetzungsreichere und in der Regel weniger anerkannte Lebensführung (Müller, Pollack & Pickel, 2013). Zudem erweist sich dieses religiöse Feld als vielfältig (Englert, 2002). Zum einen führt religiöse Individualisierung zu unterschiedlichen Zugriffen auf kulturell präsente religiöse Traditionen und spirituelle Alternativen. Zum anderen führten die verschiedenen Migrationswellen in Deutschland zu einer Vervielfältigung solcher Traditionen. Auch wenn das Christentum statistisch noch die größte religiöse Tradition in Deutschland darstellt, sind andere Religionen im Alltag präsent (Wippermann & Flaig, 2009) und auch das Christentum erweist sich als vielfältig in seinen Ausdrucksformen.
Auf der Basis dieser Grundkonstellation können die in der herkömmlichen Forschung zum Zusammenhang zwischen Religion und freiwilligem Engagement verwendeten Konzepte und Instrumente die Komplexität und Vielfältigkeit individueller Religiosität kaum angemessen fassen. Religion wird in besagter Forschung in der Regel (wie auch in der Werte[wandel]forschung und entsprechender Surveys, z.B. World Values Survey, European Value Study) über einzelne nominal oder likert-skalierte Items abgefragt (z.B. Religionszugehörigkeit, Gottesdienstbesuch, Selbstzuschreibung als religiös). Komplexere Instrumente wie die Centrality-of-Religiosity Scale kommen nur in Ausnahmefällen zum Einsatz (z.B. Nagel & El-Menouar, 2017). Mehrdimensionale Instrumente zum individuellen religiösen Stil (z.B. Hutsebaut, 1996; Streib, 2003), die nicht nur die Vielfalt individueller Religiosität abbilden, sondern auch den modernen bzw. säkularen Hintergrund dieser Religiosität berücksichtigen, haben bislang keinen Eingang in diese Forschung gefunden. Gleiches gilt für den Spiritualitäts-Begriff, welcher alternative, in der Regel selbst-bezogene Formen individueller Sinngeneration erfasst (Vincett & Woodhead, 2009). Das fällt besonders vor dem Hintergrund ins Auge, als der Motivations- und Formwandel im freiwilligen Engagement gerade auf das eigene Selbst gerichtete Sinnbezüge als besonders bedeutsam herausgearbeitet hat (s.u.).
Auch die vorliegenden Studien zum Zusammenhang von Religion und freiwilligem Engagement bilden das gegenwärtige religiöse und spirituelle Feld kaum angemessen ab. Sie gründen in der Regel in Stichproben, in denen Christen und Menschen ohne Religionszugehörigkeit dominieren. Spirituelle Alternativen zum traditionellen Religionsdiskurs werden bei der Stichprobenziehung praktisch nicht erfasst. In diesem Sinn erweist sich die oben diagnostizierte Forschungslücke im Kontext von Flüchtlingshilfe (2.) als Fortsetzung dessen, was bereits in der Forschung zu allgemeinem Engagement (3.) grundgelegt ist. Ähnlich wie die Forschung zum Zusammenhang von Religion und freiwilligem Engagement nur mit einem bestimmten Religionsverständnis arbeitet, hat sie auch einen eingeschränkten Blick auf die Formen freiwilligen Engagements.
4.2 Evaluation des skizzierten Forschungsstands im Spiegel gegenwärtiger Forschung zu freiwilligem Engagement
Gleicht man den Stand der Forschung zum Zusammenhang zwischen Religion und freiwilligem Engagement mit gegenwärtiger Forschung zu freiwilligem Engagement ab, fällt auf, dass der in Letzterem diagnostizierte Motivations- und Formwandel in Ersterem praktisch keine Rolle spielt.
Idealtypisch zugespitzt wird das so genannte „alte Ehrenamt“ vom „neuen Ehrenamt“ unterschieden. Demnach ist Ersteres v.a. von altruistischen und gemeinwohlorientierten Gründen geprägt, erfolgt längerfristig und im Rahmen von etablierten Organisationen und spricht insbesondere ältere Menschen an. Dem gegenüber zeichnet sich das „neue Ehrenamt“ durch kurzfristiges Engagement aus, in dem man eher jüngere Menschen findet, die vor allem von Motiven der Selbstverwirklichung und Problemorientierung bewegt werden und Initiativen in freier Trägerschaft bevorzugen (Beher u.a., 2001; Han-Broich, 2012, S. 81; Heinze & Strünck, 2001; Priller, 2011, S. 16; Rahmann, 1999). Religion wird dabei tendenziell dem „alten Ehrenamt“ zugeordnet. Insbesondere die Forschung zum Motivationswandel scheint jedoch in den Arbeiten zum Zusammenhang von Religiosität und freiwilligem Engagement nicht berücksichtigt zu werden, denn im Kontext des Altruismus-Arguments ist ein freiwilliges Engagement aus selbstbezogenen Motiven theoretisch nicht konsistent zu fassen. Faktisch lassen sich nach wie vor beide Formen freiwilligen Engagements antreffen und in den individuellen Orientierungen der Engagierten findet man vielfältige Motivbündel, wobei deutlich wird, dass sich die Motive der Freiwilligen nicht immer eindeutig als altruistisch oder egoistisch einordnen lassen und sich entsprechende Ziele auch nicht unbedingt ausschließen, sondern sich ergänzen können (Beher u.a., 2001, S. 262; More-Hollerweger, 2014, S. 306). Dies gilt nicht nur für freiwilliges Engagement im Allgemeinen, sondern auch mit Blick auf die Flüchtlingshilfe im Speziellen. Umso mehr stellt sich die Frage, warum Religion bisher nur mit dem „alten“ Ehrenamt in Verbindung gebracht wurde und ob die Zusammenhänge nicht doch vielfältiger sind als bisher angenommen.
Sucht man die unterschiedlichen Formen freiwilligen Engagements mit unterschiedlichen Formen individueller Religiosität im Kontext der Flüchtlingshilfe zusammenzuführen, ist es jedoch nicht nur wichtig, zwischen unterschiedlichen Typen von Engagement zu unterscheiden, sondern freiwilliges Engagement so weit zu fassen, dass es über eine karitative Dimension hinaus auch eine gesellschaftspolitische Dimension einschließt. Denn gerade das freiwillige Engagement in der Flüchtlingshilfe zeichnet sich dadurch aus, dass es diese beiden Komponenten aufweist.
Weitet man in diesem Sinne den Blick von der Forschung zu freiwilligem Engagement auf die Forschung zu politischer Partizipation im Allgemeinen aus, finden sich Annahmen zur Rolle von individueller Religiosität im spirituellen Sinne, die sich möglicherweise auch auf Engagement übertragen lassen. Entsprechend zu den im freiwilligen Engagement konstatierten Wandlungsprozessen vom alten zum neuen Ehrenamt gehen Arbeiten zu politischem Konsum und politischer Partizipationskultur, u.a. im Zuge der Debatten zur „Postdemokratie“ (z.B. Blühdorn, 2013), davon aus, dass politisches Engagement insgesamt nicht mehr vorrangig auf Gestaltung und Veränderung der Gesellschaft und des politischen Systems ausgerichtet sei, sondern auf individuelle Selbstverwirklichung und „systemkonforme Ökonomisierung und Issue-, Spaß- und Event-Orientierung der politischen Beteiligung“ (Baringhorst, 2015, S. 17). Die Protestforschung im Speziellen konstatiert zudem eine Abkehr von traditionellen Organisationsformen und eine Zunahme „nichtformalisierten zivilgesellschaftlichen Engagements“ (Simsa, 2014, S. 183) in Form von neuen Protestformen und Aktivismus, z.B. Flashmobs, Bloggertum, Occupy-Bewegung (More-Hollerweger, 2014). Ein Formwandel sowohl politischer Partizipation als auch freiwilligen Engagements wird auch durch die zunehmende Digitalisierung erleichtert, die ein niedrigschwelliges spontanes und issue-bezogenes Engagement ermöglicht (Bennett & Segerberg, 2011; Voss, 2015). Gregor Betz (2016) schreibt solchen politischen Veranstaltungen, in denen Eventcharakter und Spaßkomponente mit einer gemeinschaftlichen Transzendenzerfahrung kombiniert werden, eine religiöse Dimension zu. Indem sich Menschen versammeln, um einen politischen Claim innerhalb eines Events zu unterstützen, übersteigen sie sich selbst und fühlen sich einer größeren Wirklichkeit verpflichtet. Dass diese Wirklichkeit nicht dem entspricht, was die Religionen als Gott bezeichnen, liegt auf der Hand. Es könnte sich hier aber um eine mittlere Transzendenz im Sinn Thomas Luckmanns (1991, S. 164–183) handeln. Das beschriebene Engagement entspräche somit einer Form von Spiritualität, die einerseits selbstbezogenes freiwilliges Engagement erklären hilft und somit erlaubt, Religion auch dem „neuen Ehrenamt“ zuzuordnen. Andererseits könnten solch eher spirituelle Formen von Religiosität erklären helfen, warum auch religiös motivierte Menschen sich für Geflüchtete engagieren, um damit gegen den politischen Umgang mit diesem Thema zu protestieren und ihren Mitmenschen ein Beispiel für einen alternativen Umgang mit Geflüchteten zu sein. Die bisherigen Annahmen zum Zusammenhang zwischen Religiosität und freiwilligem Engagement erlauben jedenfalls nicht, eine solche Protestdimension freiwilligen Engagements zu erklären. Um diese abbilden zu können, müsste Religion mit anderen Haltungen als ausschließlich Altruismus assoziiert werden.
5 Schluss
Der vorliegende Beitrag bilanziert die Rolle individueller Religiosität für das freiwillige Engagement. Dabei lag sein ursprüngliches Augenmerk auf der Flüchtlingshilfe, wurde aber wegen der hier noch ungenügenden Forschungslage auch auf das freiwillige Engagement im Allgemeinen gelenkt. Diese Erweiterung des analytischen Blickes verweist auf ein erstes Forschungsdesiderat: Religion ist bislang kein Erkenntnisgegenstand der Forschung zu freiwilligem Engagement in der Flüchtlingshilfe. Die oben skizzierte Bertelsmann-Studie ist unseres Wissens die erste, die Religion in diesem Zusammenhang als abhängige Variable verwendet. Diese Forschungslücke mag zum einen in der relativ kurzen Zeitspanne begründet liegen, seit der die Flüchtlingshilfe ein zentrales Thema öffentlicher und wissenschaftlicher Aufmerksamkeit darstellt. Zum anderen markiert sie aber auch ein Thema, das in den einschlägigen Wissenschaftsdisziplinen eher randständig ist. So thematisiert die Politikwissenschaft vor allem die Struktur des freiwilligen Engagements in der Flüchtlingshilfe, die Motivation zu solchem Engagement und seine gesellschaftlichen Konsequenzen (z.B. Daphi, 2016). Religionswissenschaft und Theologie interessieren sich dagegen eher für die Rolle von Religion für Geflüchtete (z.B. Pirner in diesem Heft) und ihre Konsequenzen für religiöse Lernprozesse (z.B. Schambeck, 2017). Ein differenzierter Blick auf die Rolle von Religion für freiwilliges Engagement in der Flüchtlingshilfe entspricht nicht dem Kern der Binnenlogik der genannten wissenschaftlichen Disziplinen. Das ist umso bedauerlicher, als Religion gerade im Feld der Flüchtlingshilfe eine besondere Rolle spielt, sei es durch die notwendige Auseinandersetzung Geflüchteter mit ihrer individuellen Religiosität, die durch die Flucht in eine weitgehend säkulare Gesellschaft angestoßen wird (Herding, 2013), sei es durch politische Zuschreibungen religiöser Stereotype im Zusammenhang der Debatte um Migration. Hier besteht Forschungsbedarf und die notwendige Expertise sowohl aus Religionswissenschaft bzw. Theologie auf der einen Seite und aus der Politikwissenschaft auf der anderen Seite lässt interdisziplinäre Projekte angemessen erscheinen.
Solche Projekte können auf dem vorliegenden Forschungsstand aufbauen. Der Überblick zeigt, dass Religion in den einschlägigen Studien fast ausschließlich in ihrer institutionalisierten Form erfasst wird und dabei institutionalisierten Formen des Engagements zugeordnet wird. Diese Bilanz ist in doppelter Hinsicht problematisch. Erstens wird Religion – nahezu stereotyp – als Ressource für Altruismus aufgefasst und im Zusammenhang von institutionell getragenen Überzeugungen und Vollzügen gemessen. So schlüssig dieses kognitive Muster für sich genommen ist, so defizitär erweist es sich angesichts der Vielfalt des religiösen Feldes. Alternative Formen individueller Religiosität, die religionssoziologisch vor allem mit dem Konzept der Spiritualität erfasst werden, können in derart angelegten Studien notwendiger Weise nicht analysiert werden. Hier liegt ein zweites Forschungsdesiderat begründet: Die Forschung zur Rolle von Religion im freiwilligen Engagement bedarf eines differenzierten Religiositätsbegriffs, der nicht nur institutionell orientierte Religiosität erfasst. Zweitens ereignet sich gerade die Flüchtlingshilfe – wie oben gesehen – in Formen freiwilligen Engagements, die kaum institutionalisiert sind.
Daraus ergibt sich ein instruktives Szenario künftiger Forschung zum Zusammenhang von individueller Religiosität und freiwilligem Engagement. Auf der einen Seite kann eine Religiosität, die sich an institutionellen Überzeugungen und Vollzügen orientiert, unterschieden werden von einer Spiritualität, die auf die Steigerung des eigenen Selbst ausgerichtet ist. Beide Typen lassen sich konzeptuell klar voneinander unterscheiden (Heelas & Woodhead, 2005). Auf der anderen Seite lässt sich freiwilliges Engagement in institutionalisierten Formen unterscheiden von einem Engagement in sog. „neuen“ Formen, die zeitlich begrenzt und klar auf eine Aufgabe bezogen sind und in der Regel relativ spontan entstehen. Im Kontext der obigen Bilanz könnte man als Hypothese formulieren, dass sich Menschen mit einer institutionell orientierten Religiosität vor allem in institutionalisierten Formen engagieren und spirituelle Menschen in sog. „neuen“ Formen.
Um eine solche Hypothese erforschen zu können, plädieren wir zunächst für eine konzeptionelle Offenheit, die mit einer begrifflichen Offenheit verbunden ist. Statt des Religionsbegriffes, der oft mit institutionalisierter Religionspraxis gleichgesetzt wird, scheint der Begriff der Religiosität eher geeignet, ein breites Spektrum an Religionsverständnissen abzudecken. Mit Blick auf das Engagement ist der Terminus des freiwilligen Engagements umfassender als der des Ehrenamtes, weil er auch die gesellschaftspolitische Dimension des Engagements inklusive einer Kritik oder eines Protestes an bestehender Politik beinhaltet. Der Begriff des Ehrenamtes hingegen impliziert ein staatsnahes Handeln (Zimmer, 2007).
Zweitens plädieren wir dafür, die Zusammenhänge zwischen Religion und freiwilligem Engagement explorativ zu erforschen, um möglichst alle existierenden Zusammenhänge zu erfassen und nicht aufgrund bestimmter theoretischer Vorannahmen einige von Vornherein – implizit oder explizit – auszuschließen.
Dafür bedarf es, drittens, wenn nicht repräsentativer, so doch zumindest ausreichend heterogener Samples, die nicht nur alle aus der Literatur abgeleiteten relevanten Variablen mit Blick auf z.B. Migrationshintergrund, Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft oder Alter erfassen, sondern die auch auf andere, bisher nicht als relevant erachtete Variablen, hinweisen können.
Daraus folgt, viertens, die Forderung nach einer Kombination von quantitativen und qualitativen Methoden. Während die Suche nach etwas, das man bisher nicht kennt, ein qualitatives Vorgehen sinnvoll erscheinen lässt, können quantitative Methoden angesichts der großen Grundgesamtheit der freiwillig Engagierten helfen das Risiko zu minimieren, Zusammenhänge zu übersehen.
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Dr. Ulrich Riegel, Professor für Praktische Theologie/Religionspädagogik, Philosophische Fakultät, Universität Siegen
Dr. Andrea Schneiker, Juniorprofessorin für Politikwissenschaft (Internationale Beziehungen), Philosophische Fakultät, Universität Siegen
Wir sprechen in diesem Beitrag durchgängig von Geflüchteten, weil der Begriff des Flüchtlings auch einen rechtlichen Status impliziert, der nicht auf alle Geflüchteten zutrifft. Die Verwendung von Geflüchteten soll aber nicht suggerieren, dass die Flucht in jedem Einzelfall bereits abgeschlossen ist. Dass wir dennoch von Flüchtlingshilfe sprechen, ist der Tatsache geschuldet, dass auch die von uns skizzierten Studien durchgängig diesen Begriff verwenden.