„Ohne Rechtfertigung kann ein Chirurg nicht arbeiten.“ Was auf den ersten Blick wie die salbungsvolle Einlassung eines Krankenhauspfarrers bei der Begrüßung eines neuen Arztes wirken mag, erweist sich bei genauerem Hinsehen als ein Grundsatz des deutschen Strafrechts. Dieses ist bekanntlich dreistufig aufgebaut. Zunächst muss der Tatbestand festgestellt werden, sodann die Rechtswidrigkeit geprüft werden und erst dann kann die Frage der Schuld erörtert werden. Wenn ein Chirurg eine Operation durchführt, liegt ausnahmslos der Tatbestand der Körperverletzung vor. Gibt es Gründe, die diese Straftat rechtfertigen? Der häufigste Rechtfertigungsgrund im Gesundheitswesen ist die Einwilligung des Patienten. Kann sich also ein Chirurg auf diesen Rechtfertigungsgrund berufen, so ist seine Handlung, selbst wenn sie objektiv eine Straftat ist, nicht rechtswidrig. Die Frage der Schuld kommt so juristisch gar nicht in den Blick. Ein Problem des binnenkirchlichen und binnentheologischen Rechtfertigungsdiskurses besteht darin, dass der Rechtfertigungsbegriff in anderen Wissenschaftsdisziplinen und in anderen Alltagspraktiken eine je eigene Bedeutung hat. Bleiben wir noch einen Moment auf dem Gebiet des Rechts: Im deutschen Strafrecht ist der Begriff der Rechtfertigung nicht mit dem der Schuld verknüpft. Die Schuldfrage stellt sich erst, wenn keine Rechtfertigungsgründe zugunsten des Angeklagten vorgebracht werden können. Ein klassischer Rechtfertigungsgrund ist die Notwehr. Niemand kann verurteilt werden, der sich oder andere dadurch schützt, dass er einem Gewalttäter seinerseits Gewalt antut. Freilich: auch wenn es nicht zu einer Verurteilung wegen vorliegender Rechtfertigungsgründe kommen kann, so ist gleichwohl die Eröffnung eines Verfahrens notwendig. Die Frage, ob eine Handlung gerechtfertigt ist oder nicht, bedarf der Klärung. Niemand kann sich selbst rechtfertigen.
1 Rechtfertigung, Recht und Gerechtigkeit
Theolog*innen machen sich selten die Mühe, präzise festzulegen, wann, wo und auf welche Weise Rechtfertigung geschieht. Zu rasch, zu pauschal – und damit zu billig – wird auf den allzeit gnädigen Gott verwiesen. Und zu schnell wird vermutet, dass Gerichtsvorstellungen, zumal die eines Jüngsten Gerichtes, nicht mehr zeitgemäß seien. Angesichts der Tatsache, dass die Verrechtlichung gesellschaftlichen Lebens voranschreitet, könnte man das ja zumindest für eine gewagte, jedenfalls einer Überprüfung werte Zeitdiagnose halten. Und man könnte argumentieren, dass das Bedürfnis nach Gerechtigkeit offenbar wächst. Aber die Kirchen proklamieren lieber den lieben, nicht so gern den gerechten Gott. Warum banalisiert die Theologie das Rechtfertigungsgeschehen und reduziert es auf Begriffe wie Liebe, Anerkennung, Vergebung, Freiheit, wie es der Rat der EKD in seinem „Grundlagentext“ zum Reformationsjubiläum „Rechtfertigung und Freiheit“ aus dem Jahr 2014 getan hat? Wer gehaltvoll von Rechtfertigung reden will, kann das ohne Bezug auf die Gerechtigkeit Gottes schwerlich tun. Karl Barth hat in seinem Essay „Rechtfertigung und Recht“ aus dem Jahr 1938 ganz richtig auf den unverzichtbaren Konnex zwischen der Gerechtigkeit Gottes, dessen rechtfertigenden Handelns und der politischen Rechtsordnung aufmerksam gemacht. Jeder Christ sei für den Charakter des Staates als Rechtsstaat deshalb verantwortlich, weil Christen von jedem Staat erwarten, dass er einen Beitrag zum Kommen des „realen himmlischen Staates“ (Barth, 1938, S. 24) leiste. Jeder Staat habe für Christen seine Bestimmung darin, zur Herrlichkeit des kommenden himmlischen Jerusalem beizutragen. Ausdrücklich stellt Barth die Rechtfertigung in eine eschatologische Perspektive. Die Rechtfertigungsbotschaft sei letztlich die Botschaft vom kommenden Reich Gottes. Und weil das Reich Gottes ein Reich vollendeter Gerechtigkeit, ewigen Friedens und verlässlicher Nächstenliebe ist, sind Christen gehalten, den Staat immer wieder an diese, seine Bestimmung zu erinnern. „Die Kirche lebt in der Erwartung des ewigen Staates und in dieser Erwartung ehrt sie auch den irdischen, erwartet sie immer wieder das Beste von ihm.“ (ebd., S. 39) Barth befreite mit seinem Text die Rechtfertigungslehre aus einer individualistischen Engführung. Es geht bei der Rechtfertigung nicht um gottunmittelbare Individuen, sondern darum, ob und wie auf Recht und Gerechtigkeit angesichts von Unrecht und menschlicher Bosheit weiterhin gehofft werden kann. Die Reduktion der Rechtfertigungslehre auf eine Figur individueller Selbstbewusstseinskonstitution raubt ihr die Relevanz. Auch Eberhard Jüngel betont in seiner Studie „Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens. Eine theologische Studie in ökumenischer Absicht“ (Jüngel, 1999), dass die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders seinen Ausgangspunkt bei der Gerechtigkeit Gottes zu nehmen habe. Ein Gott, der Unrecht dulde, sei ein gnadenloser Gott. Die erste biblische Rechtfertigungsgeschichte sei die Geschichte von Kain und Abel. Rechtfertigung im theologischen Sinn – so Jüngel ganz anders als die EKD-Denkschrift – werde dann nötig, wenn Wiedergutmachung nicht mehr möglich und Vergebung unmöglich sei. Die Geschichte von Kain und Abel endet damit, dass der Mörder Staatengründer wird. „Die Rechtfertigung des Asozialen macht aus diesem mehr als er vorher war: ein politisches Lebewesen, ein zoon politikon.“ (Jüngel, 1999, S. 10) Wie genau geschieht das? Indem Gott den Menschen treu bleibt – trotz deren Untreue. Eben deshalb kann Jüngel emphatisch betonen: „Ohne Gott als Bundesgott zu denken, ist Rechtfertigungslehre allerdings nicht möglich.“ (ebd., S. 33) Obwohl der Mensch immer wieder versagt, schließt Gott immer wieder seinen Bund mit den Menschen. Trotz des menschlichen Hanges zur Ungerechtigkeit, zur Beziehungslosigkeit, zur Sünde, will Gott vom Menschen nicht lassen, will er ein menschenfreundlicher Gott sein. Das gilt für die Bundesschlüsse des Alten Testamentes ebenso wie für die des neuen Bundes, den das Neue Testament bezeugt. Die theologische Herausforderung besteht also darin, zu zeigen, dass Gott, indem er den Gottlosen gerecht spricht, selbst gerecht ist. Wie ist also Gottes Gerechtigkeit angesichts menschlicher Ungerechtigkeit begrifflich zu fassen? „Die Gerechtigkeit Jahwes ist als Gottes Gemeinschaftstreue zugleich Leben schaffende und bewahrende Macht“. (ebd., S. 52) Gott ist insofern gerecht, als er dem Asozialen die Möglichkeit eröffnet, trotz erwiesener Asozialität in Gemeinschaft zu leben: der Mörder wird zum Städtegründer. Wie geht diese Transformation vonstatten? „Des Menschen Gerechtigkeit ist also sein Anerkanntsein von Gott.“ (ebd., S. 52) Gerechtigkeit ist mithin kein Zustand, sondern ein Potential, eine Macht. Ihre Durchsetzung braucht Zeit und sie muss sich immer wieder der Ungerechtigkeit erwehren. Weil aber Gerechtigkeit dem menschlichen Zusammenleben dient und nicht als abstraktes Prinzip zur Geltung kommen soll, ist Gottes Gerechtigkeit ein Moment seiner Menschenfreundlichkeit. „Deshalb gilt, dass Gott sich selbst gegenüber treu ist, dass er sich selbst entspricht, wenn er den Gottlosen, den Sünder, den Ungerechten rechtfertigt. Gott vergibt sich nichts, wenn er uns vergibt.“ (ebd., S. 65) Gottes Gerechtigkeit vernichtet nicht, sie befördert vielmehr den „Beziehungsreichtum des Lebens“. (ebd., S. 69) Wie der trinitarische Gott in „Gemeinschaft gegenseitigen Andersseins“ (ebd.) lebt, so sollen auch die Menschen als Verschiedene miteinander auskommen. Insofern kann die Trinität als „Grundakt gegenseitiger Bejahung“ (ebd., S. 89) verstanden werden. Demgegenüber drängt die Sünde den Menschen „in die Beziehungslosigkeit und Verhältnislosigkeit“. (ebd., S. 111) Jüngel betont einerseits: „Das Rechtfertigungsgeschehen ist ein Rechtsakt.“ (1999, S. 170) Das Urteil lautet auf Freispruch. „Der Sünder existiert als Freigesprochener.“ (ebd.). Anstatt sich aber mit den juristischen Feinheiten der Rechtfertigung als Rechtsakt zu beschäftigen, holt er zu einer großen fundamentalanthropologischen Kritik aus. Der Mensch überfordere sich letztlich hoffnungslos. „Von dieser immer selbst verschuldeten Überforderung wird der Mensch in seinem Gewissen dann regelrecht – das Wort ist unverzichtbar – terrorisiert.“ (ebd., S. 195) Dem mache das Evangelium ein Ende: „Das Evangelium macht diesem Gewissen ein Ende. Es befreit vom terrorisierten und terrorisierenden Gewissen und damit vom Gewissen überhaupt.“ (ebd., S. 196) Und so gelte, dass der Christ „in gewissenhafter Weise gewissenlos sein“ könne (ebd., S. 197). Das klingt sprachlich zwar gut, man fragt sich aber doch, ob sich die Theologie hier nicht in bedenklicher Weise überhebt. Wenn denn das Rechtfertigungsgeschehen tatsächlich ein Rechtsakt ist und sein Sinn darin besteht, Leben in Gerechtigkeit zu ermöglichen, dann ist angezeigt, sich bei anderen Wissenschaften kundig zu machen, wie denn ihren Einsichten zufolge Rechtfertigung geschieht, bevor man sich wortklingelnd über das real existierende soziale Leben erhebt. Dies gilt umso mehr dann, wenn man behauptet, dass die christliche Erwählungsgewissheit, ein Kind Gottes zu sein, „der Inbegriff alles Menschenrechtes“ (Jüngel, 1999, S. 208) sein soll. So richtig der christliche Grundsatz ist, dass das Urteil über das Sein der Person „allen irdischen Personen und Instanzen entzogen“ (ebd., S. 211) ist, so kommt es nun doch darauf an, die politischen, sozialen und rechtlichen Bedingungen, unter denen diese Aussage Geltung beanspruchen kann, sehr viel genauer zu erkunden, als es Jüngel getan hat.
2 Das Rechtfertigungsverständnis des Soziologen Luc Boltanski
Es gehört zu den besonderen Merkmalen der Soziologie Luc Boltanskis, dass er seine hermeneutische Soziologie der Alltagsmetaphysik stets auf der Grundlage von Quellen des alltäglichen Lebens modelliert. So beruhen sowohl sein Buch „Über die Rechtfertigung“ wie auch „Der neue Geist des Kapitalismus“ auf detaillierten Diskursanalysen von Ratgebern für Führungskräfte und von Managementliteratur. Auch die „Soziologie der Abtreibung“ entwickelt ihre Überzeugungskraft und Plausibilität nicht nur aus der detaillierten Analyse von Rechtstexten und einschlägigen politischen Positionen, sondern vor allem aus den Interviews mit Frauen, die gerade eine Abtreibung hatten vornehmen lassen. Eine frühe, für das Verständnis seines Rechtfertigungsbegriffs unerlässliche mikrosoziologische Analyse alltäglicher Diskurse ist eine Untersuchung aus dem Jahre 1990, die den Titel „La dénonciation publique“ trägt (in Boltanski, 1990, S. 253–379). Forschungsgegenstand waren 275 meist unveröffentlichte Leserbriefe an die Zeitung „Le Monde“, die ein Redakteur dem Soziologen zu Forschungszwecken zugänglich gemacht hatte. In diesen Schreiben beschweren sich Leser über soziale Ungerechtigkeiten, machen die Zeitung auf einen vermeintlichen politischen Skandal aufmerksam, beklagen sich über ein persönlich erlittenes Unrecht – und bitten die Zeitung darum, ihre Anklagen zu veröffentlichen. Es handelte sich um eine soziologische Analyse von Denunziationen, also von öffentlichen Anklagen – und um Versuche, einen öffentlichen Skandal zu erzeugen. Boltanskis Forschungsfrage lautete: Warum hatten einige Beschwerden Erfolg und warum wurden die meisten als „paranoid“ zu den Akten gelegt? Um erfolgreich zu sein, muss eine öffentliche Denunzierung den Schritt vom Partikularen zum Öffentlichen, von Einzelinteressen zum Gemeinwohl machen. Solange man eine Skandalanzeige als „privat“ oder als von nur „individuellen Interessen“ motiviert bezeichnen kann, hat sie keine Chance auf öffentliche Resonanz. Es kommt also alles darauf an, einen Fall zu „de-singularisieren“ (Boltanski, 1990, S. 280). Diese „Desingularisation“ ist aber nicht einfach zu bewerkstelligen. Manöver des Anklägers mit dem Ziel, sich größer zu machen, kommen zwar häufig vor, sind aber stets erfolglos. Erfolgreicher sind hingegen „Techniken der Vergrößerung des Opfers“ (ebd., S. 302). Hier muss der Denunzierende das Opfer etwa als Opfer von Antisemitismus, Rassismus, Sexismus darstellen. Auch die Berufung auf wissenschaftliche Ergebnisse kann den Effekt der désingularisation und des agrandissement haben. Diese kleine Untersuchung ist deshalb so wichtig, weil sie das lebensweltliche Interesse Boltanskis am Rechtfertigungsthema zeigt. Immer und überall haben Menschen Grund zur Klage. Diese Klage kann sich entweder gewaltsam zur Geltung bringen, oder aber darauf vertrauen, dass eine Gesellschaft sich darum bemüht, allen ihren Mitgliedern gerecht werden zu wollen. Solange man darauf vertraut, wird man nicht den Weg in eine innere Emigration antreten. Je mehr öffentliche Anklagen und Skandale es also gibt, umso größer ist das Vertrauen einer Gesellschaft in ihre Rechtfertigungsprozeduren. Um ihre Kritik präzise formulieren zu können, müssen Individuen freilich die Kompetenz erwerben, sich in unterschiedlichen Rechtfertigungsdiskursen mit unterschiedlichen Überprüfungsverfahren zurecht zu finden. Insofern kann man Boltanskis Werk auch als eine Anleitung zu kompetenter Gesellschaftskritik und erfolgreichem Skandalmanagement lesen.
3 Rechtfertigungsimperative
Auf welche Weise finden Personen in einer Gesellschaft öffentliche Anerkennung? Offenbar gibt es stets einflussreichere und weniger einflussreiche Personen. Wie kommt es, dass diese Ungleichheit hingenommen wird? Warum protestieren Kollegen an einer Fakultät nicht, wenn ein Kollege mehr Mitarbeiter und eine bessere technische Ausstattung als ein anderer hat? Die Debatte über die Gehälter von Bankmanagern sind ein Beispiel dafür, dass solche Unterschiede nicht immer akzeptiert werden und nicht immer gerechtfertigt erscheinen. Die Akzeptanz von Ungleichheiten verdankt sich offenbar einem System von Rechtfertigungsdiskursen, die die Äquivalenzprinzipien aushandeln, die die Unterschiede als gerechtfertigt erscheinen lassen. Luc Boltanski versucht mit Hilfe der Vorstellung von sechs cités, man kann wohl sagen: sechs Diskursräumen,die Rechtfertigungsgrammatiken zu modellieren, die dafür sorgen, dass wir Ungleichheit nicht als ungerecht empfinden. In jeder dieser cités wird etwas anderes als das höchste gemeinsame Gut (bien commun) angesehen. Boltanski unterscheidet in seinem 1991 erschienen Buch „De la justification. Les économies de la grandeur“ zwischen der cité inspirée, der cité domestique, der cité de l’opinion, der cité civique, der cité marchande und der cité industrielle. Was sind die jeweils höchsten Güter in den einzelnen cités? In der cité inspirée sind es die göttliche Gnade und die göttlichen Charismen. Diese kann man weder erwerben noch sich aneignen – sie sind ein Geschenk. Begnadete Menschen können ihre unverwechselbare und unveräußerliche Begabung und Begeisterung, ihre Kreativität und Inspiration weder erklären noch delegieren. In der cité domestique ist es die Fürsorge für die heranwachsende Generation und reziprok die Dankbarkeit und das Gefühl der Verpflichtung gegenüber der älteren. Die Verhältnisse in dieser cité sind über die persönlichen Abhängigkeiten in der Generationenhierarchie geregelt. In der cité de l’opinion sind Ruhm und Ehre höchste Güter. Hier strebt man nach öffentlicher Anerkennung, Wertschätzung und Respekt. In der cité civique ist der volonté générale das höchste Gut. Wer diesen unverfälscht repräsentiert, ist ein Souverän, wie er sein sollte. In der cité industrielle sind Produktivität, Effektivität und Leistung die höchsten Güter, während sich die cité marchande um die Konstitution eines Marktes und die Distribution von Gütern unter der Bedingung von Knappheit sorgt. Ganz offensichtlich kommt es zwischen den sechs cités zu Spannungen und Konflikten: Die cité industrielle beispielsweise fühlt sich von staatlichen Regelungen ebenso behindert wie von familialen Abhängigkeitsverhältnissen. Selbst zwischen der cité marchande und der cité industrielle herrschen Animositäten, wie sie beispielsweise in großen Unternehmen in der gegenseitigen Verachtung zwischen Ingenieuren und Betriebswirten zum Ausdruck kommen. Charismatische Persönlichkeiten erlangen ihren Ruhm gerade nicht dadurch, dass sie sich der öffentlichen Meinung unterwerfen, sondern indem sie ihrer eigenen „inneren Stimme“ folgen. Ein guter Souverän gemäß den Prinzipien der cité civique wird sich weder von der öffentlichen Meinung abhängig machen, noch private und öffentliche Interessen miteinander vermischen. Man könnte auch die Steuerungsprobleme an den modernen Universitäten aus miteinander konkurrierenden Äquivalenzprinzipien verschiedener cités erklären. In den Naturwissenschaften herrscht die cité industriel, in den Geistes- und Sozialwissenschaften entweder die cité inspirée oder die cité de l’opinion, und so steht man sich meist sprachlos gegenüber und zieht sich in der Regel in die je eigenen Fachwelten zurück. Das Ansehen einflussreicher Persönlichkeiten wird in den jeweiligen cités immer wieder kritisch überprüft. „Die Prüfung ist der Moment, in dem eine Unsicherheit über die grandeur des einen oder anderen auf den Tisch gelegt wird, und in dem diese Unsicherheit durch die Konfrontation mit Objekten, mit einer Welt, behoben wird.“[1] Politiker müssen sich zur Wahl stellen, Sportler führen Wettkämpfe durch, Manager müssen Bilanzen vorlegen. „Die Personen können sich nicht auf eine grandeur berufen, als sei sie ihnen ein für allemal angeheftet worden, sie müssen vielmehr im Verlauf einer Prüfung zeigen, wozu sie fähig sind.“[2] Diese Prüfungen sorgen dafür, dass niemand für immer, geschweige denn in allen cités, groß und einflussreich sein kann. Wie erringt man überhaupt grandeur, ein Begriff, den man wohl am besten mit „Ansehen“ übersetzt? Nehmen wir das Beispiels eines Spitzensportlers. Damit er in der Rangliste ganz oben steht, muss er viele Opfer bringen. Er investiert Zeit und Mühe, er quält sich im Training, um zu den Besten zu gehören. Auch Politiker müssen, um wiedergewählt zu werden, viel investieren, um ihre Position zu halten. Selbst Schülerinnen und Schüler unterziehen sich beträchtlichen Mühen, um Prüfungen zu bestehen und ein gutes Zeugnis zu bekommen. „Alle Menschen haben, da sie prinzipiell gleichwertig sind, die gleiche Kapazität, den höchsten Grad der grandeur zu erlangen, mit dem die höchsten Ehren einhergehen. Dafür müssen sie aber einwilligen, ein Opfer zu bringen, einen Preis zu bezahlen.“[3] Selbst in der cité inspirée, in der Größe ohne „Begnadetsein“ nicht vorstellbar ist, müssen Künstler hart daran arbeiten, ihre Begabungen zu entwickeln und sie immer besser zur Geltung zu bringen. Auch in der cité domestique erfordert Größe Opfer. Alleinerziehende Väter oder Mütter können davon ein Lied singen. Wer in der cité de l’opinion Ruhm und Ehre erringen will, muss enorme Anpassungsleistungen vollbringen. Die kritische Anfrage, ob man als „Star“ diese Position wirklich verdient, ist auf Dauer gestellt – und der Absturz des Stars ist im Moment seines oder ihres Aufstieges schon vorgezeichnet. Die Zahl der Prüfungen, die ein Mensch in seinem Leben zu absolvieren hat, nimmt zu, ebenso wie die Zahl der Evaluationen seiner Leistungen. Trotzdem führt nicht jeder Zweifel an der Gerechtigkeit einer Situation oder an der Stellung einer Person immer gleich zu einem öffentlichen Überprüfungsverfahren. Wie Boltanski an seiner Untersuchung über die Beschwerdebriefe an die Tageszeitung Le Monde zeigen konnte, kommt es nur unter bestimmten Umständen zu einem expliziten Rechtfertigungsverfahren. Weitaus häufiger sind stillschweigende und friedliche Übereinkünfte. Unter Zurückstellung von Bedenken nimmt man eine Situation hin, die man zwar nicht für gänzlich gerechtfertigt hält, deren Infragestellung und Kritik aber keine Aussicht auf eine Verbesserung der Lage mit sich bringen würde.
4 Die beunruhigende Entdeckung einer cité par projet
Im Jahre 1995 untersuchte Luc Boltanski zusammen mit Ève Ciapello erneut die aktuelle Managementliteratur. Dabei stellten sie fest, dass sich die Diskurse im Vergleich zur Literatur, die für das Rechtfertigungsbuch verwendet wurde, signifikant gewandelt hatten. Bezugnahmen auf die cité domestique waren fast gänzlich verschwunden. Die Kritik an der cité civique und der cité industrielle wegen ihrer mangelnden Flexibilität und ihrem strukturellen Konservatismus trat klar zutage. Demgegenüber gewannen Begriffe wie Mobilität, Kreativität, Kommunikationsfähigkeit und Selbstaktivierung neues Gewicht. Neu war auch die Metapher des réseau, des Netzwerkes. „Da die Mobilität – die Einrichtung zahlreicher verschiedener, aber oft kurzlebiger Verbindungen – und die Aktivität – verstanden als Vervielfältigung von Verknüpfungen und als Engagement in immer wieder neuen Unternehmungen, egal welcher Zweckbestimmung – so hoch geschätzt werden, ist eine solche Welt unaufhörlich durch Opportunismus und Zersplitterung gefährdet.“[4] Der „Große“ in dieser cité ist international vernetzt, der „Kleine“ fühlt sich isoliert und immobil. Das Äquivalenzprinzip, das den Einfluss in der neuen cité par projet regelt, ist die Fähigkeit, neue Projekte zu generieren und sich mit anderen Projekten zu vernetzen. Das Leben ist eine Abfolge von Projekten und erscheint umso interessanter, je unterschiedlicher die Projekte sind. Allerdings sind Projekte Formen des Übergangs. Wer also in dieser cité erfolgreich sein will, der muss autonom und risikofreudig genug sein, um neue Projekte generieren zu können, er muss möglichst auf der internationalen Bühne kommunizieren können – und rechtzeitig auf ein neues Projekt umsteigen, wenn ein altes zu Ende geht. Innovativ und intuitiv sucht der ideale Netzwerkmanager jedoch nicht nur seinen eigenen Vorteil, sondern fördert auch seine Teammitglieder, die ja ihrerseits stets auf der Suche nach neuen Projekten sind. Jeder wird zum Unternehmer seiner selbst – und so gibt es in einem Unternehmen nicht mehr einen Arbeitgeber und viele Arbeitnehmer. Vielmehr sind alle Mitarbeiter auf ihre Weise Unternehmer – und seien sie nur Unternehmer ihres eigenen Lebensprojektes – in einem Verbund auf Zeit, der nicht mehr durch Hierarchien, feste Strukturen und lebenslange Bindungen zusammengehalten wird, sondern durch Effektivität, Intuition, Professionalität und die Fähigkeit, das angebotene Produkt „just in time“ abzuliefern. Für solche Unternehmen sind alle jene gänzlich ungeeignet, die weder kommunikationsfähig und kreativ, noch mobil und flexibel sind. Wie jede cité, so fordert auch diese ihre spezifischen Opfer, wenn man in ihr grandeur erreichen will. Da man universal verfügbar sein muss, gilt es, lebenslange Bindungen gar nicht erst einzugehen. Denn es ist besser, mit leichtem Gepäck unterwegs und offen für Neues zu sein. Stabilität, Verwurzelung, konservative, rigide Normen und Werte sind hinderlich, wenn es gilt, sich in immer neuen Projekten zu verwirklichen. Der Preis für diesen Lebensstil ist zum einen die auf Dauer gestellte Sorge, kein Anschlussprojekt mehr zu finden – also exkludiert und marginalisiert zu sein –, und zum anderen die Sorge, in der Fülle von Projekten sich selbst zu verlieren. Die Vielfalt der Möglichkeiten ermöglicht und erzwingt auszuwählen und sich zu entscheiden – und genau das wird immer schwieriger. Aufgrund der Überfülle des Möglichen sind die Menschen ständig zur Wahl gezwungen – dies aber nicht nur bei Automarken und Modefirmen, sondern auch im Blick auf die Lebensorientierung insgesamt. Die Menschen leiden nicht unter Sinnverlust, sondern am Sinnüberschuss und am Sinnüberfluss. Wer sich für eine bestimmte Glaubensrichtung entscheidet, wählt aus einer Vielzahl möglicher aus. Und weil man das weiß, bleibt mit dem Bewusstsein der Wahl immer das Gefühl verbunden, auf andere Möglichkeiten verzichtet zu haben. Der Imperativ ‚Handle stets so, dass die Anzahl deiner Wahlmöglichkeiten größer wird’ führt in die Sackgasse: Die Botschaft von den unbegrenzten Möglichkeiten entwertet die Wirklichkeit. „Die begrenzte Wirklichkeit ist leer: eine realisierte Möglichkeit, eine gefällte Entscheidung entzaubert, desillusioniert, sie hat die dumme Melancholie, die ein Lotterielos nach der Ziehung hat [...].“ (Schmitt, 1919, S. 102) Angesichts dieser Lage ist es nicht verwunderlich, dass das Bedürfnis nach Identifikation zunimmt. Womit identifizieren sich Jugendliche? In einer Befragung von 8000 Berufsschülerinnen und Berufsschülern haben Andreas Feige und Carsten Gennerich erhoben, was diese in ihrem Leben für besonders wichtig halten. Ein zentrales Anliegen der Jugendlichen sind stabile und konsistente Nahraumerfahrungen, wie Eingebettetsein in der Familie, eine verlässliche Partnerschaft, ehrliche und gute Freunde. Sinnerfahrungen macht man mit Leuten, die man kennt und schätzt und die einen kennen und schätzen. Gemeinschaft als Ort von akzeptierter Individualität ist ausgesprochen wichtig. Das Interesse an einer „Minimierung des Beziehungsrisikos“ ist sehr hoch, dementsprechend sucht man „Interaktionsstabilität und Erwartungssicherheit“. (Feige & Gennerich, 2008, S. 195) Jugendliche identifizieren sich also in einer globalen Welt mit der Familie und dem sozialen Nahbereich. Gerade dieser aber, so die Diagnose Luc Boltanskis, wird von der cité par projet bedroht. Der Prekarität der beruflichen Situation entspricht immer öfter die Prekarität der persönlichen Situation. Die als traditionell bezeichnete Form des emotionalen und sexuellen Lebens im Rahmen der Ehe wird zunehmend durch eine projektbasierte Organisation des Privatlebens abgelöst, die sich durch einen ständigen, aber komplexen Wechsel zwischen Zölibat und Zusammenleben, Ehe, Scheidung etc. auszeichnet. Wie konnte es aber dazu kommen, dass sich diese neue cité par projet so machtvoll durchsetzt und nahezu alle Lebensbereiche bestimmt? Im Le nouvel Ésprit du Capitalisme machen Boltanski und Ève Chiapello nicht zuletzt die Kulturkritik der Achtundsechziger dafür verantwortlich. Obgleich die Protestbewegung, die in Europa im Mai 1968 ihren Höhepunkt erreichte, den herkömmlichen Kapitalismus massiv kritisierte, bereitete sie doch den kulturellen Boden für die ungehinderte Durchsetzung des neues Geistes des Kapitalismus, der als cité par projet in den Neunzigerjahren Momentum gewann, und der bis heute das Lebensgefühl bestimmt. Denn die Achtundsechziger generierten eine ganz neue Form der Kapitalismuskritik, die der alten sozialkritischen Form diametral gegenüberstand. War die traditionelle Kapitalismuskritik, die Boltanski „Sozialkritik“ nennt, davon überzeugt, dass ein starker Staat und eine gut funktionierende Solidarität nicht nur der Arbeiterklasse, sondern auch der Arbeiterfamilien die besten Waffen gegen einen internationalen, sensible Sozialstrukturen zerstörenden Kapitalismus seien, so kritisierten die Achtundsechziger nicht nur den Kapitalismus, sondern ebenso vehement die cité civique, vor allem aber die cité domestique. Im Namen der cité inspirée wurden sowohl der Kapitalismus, wie die bürgerliche Familie, wie der Staat und die Nation einer radikalen Kritik – Boltanski und Chiapello nennen diese Form der Kritik „Künstlerkritik“ – unterzogen. Während die Sozialkritik primär auf die Lösung sozialökonomischer Probleme durch Verstaatlichung und Umverteilung zielte, kreiste die Künstlerkritik um das Ideal der individuellen Autonomie, der Selbstverwirklichung und der Kreativität, das im Widerspruch zu allen Formen hierarchischer Machtverhältnisse und sozialer Kontrolle steht. Eben diese Kritik aber machten sich die Vordenker des Kapitalismus zunutze und konzipierten einen Kapitalismus, der die Versöhnung des Kapitalismus mit den Äquivalenzprinzipien der cité inspirée versprach: ästhetische Selbstverwirklichung, unendliche Kreativität, kommunikative Freiheit. War der alte Geist des Kapitalismus noch durch die traditionalen Mächte der Familie, der Kirche und des Staates gefesselt, so bewerkstelligte die „Künstlerkritik“ seine Entfesselung. Mit der Destruktion des „bürgerlichen Bewusstseins“, mit der nachhaltigen Kritik der „bürgerlichen Moral“ wurde einem ungehinderten Neoliberalismus der Weg geebnet. Das ist sozusagen die Dialektik der romantischen Revolution der Achtundsechziger. Nicht ohne Bitterkeit stellt Boltanski fest, dass die Achtundsechziger, die sich subjektiv als „Linke“ fühlen, heute faktisch eine Ausbeuterklasse sind, die als die Mobilen und Agilen international vernetzt sind, gleichzeitig aber immer noch die inzwischen zum Prekariat gewordenen lokal Verankerten, lebenslang Gebundenen und kommunikativ Benachteiligten verachten, anstatt deren Lage als eine soziale Herausforderung erster Ordnung zu begreifen. Man solle also aufhören, „aus dem jungen, emanzipierten und mobilen Designer, der seine Zeit zwischen London, New York und Paris verbringt, einen subversiven Helden zu machen, im Gegensatz zum Handwerker auf dem Lande oder dem kleinen Angestellten aus der Provinz, die man so leicht ‚Vichyisten’ nennen kann, mit ihren alten, traditionellen und dummen Werten und deren schwachsinniger cité domestique.“[5] Diese Sätze wurden um die Jahrtausendwende verfasst, sie haben aber angesichts des Zulaufs zur AfD und des Interesses vieler Jugendlicher an „identitären Bewegungen“ nichts von ihrer diagnostischen Kraft eingebüßt.
5 Anerkennung als Lebensbedingung
Boltanski blieb vom „neuen Geist des Kapitalismus“ nachhaltig fasziniert. Zumal dessen Fähigkeit, die Grenzen zwischen dem Privaten, dem Öffentlichen und dem Ökonomischen mühelos einzureißen, alarmierte ihn. Und so kann seine Untersuchung über den Wandel des Abtreibungsdiskurses und der Abtreibungspraktiken seit den Siebzigerjahren als eine mikrosoziologische Studie über das makrosoziologische Phänomen des projektbasierten Kapitalismus gelesen werden, dem es gelungen ist, die Projektidee bis in die höchst intime und höchst private Zone der Entscheidung für oder gegen ein Kind zu tragen. Boltanski wertet in seiner „Soziologie der Abtreibung“ Interviews mit Frauen aus, die sich für eine Abtreibung entschieden hatten. Die Interviews sind bewegende Dokumente einer Erfahrung, die sich mit den juristischen und politischen Kategorien des öffentlichen Abtreibungsdiskurses nicht deckt. „Die Gespräche verraten eine Art von Emotion, die zumeist diesseits oder jenseits des Schuldgefühls liegt, im Sinn eines ausdrücklich auf ein Verbot bezogenen, moralischen Gefühls, und will man sie rekonstruieren, so wird man eher auf die Register der ‚Trauer‘, des ‚Verlustes‘, der ‚Leere‘, des ‚Unbehagens‘ oder auch der ‚Verweigerung‘ verwiesen.“ (Boltanski, 2007, S. 352) Frauen entscheiden früh, ob sie es mit einem tumoralen oder mit einem authentischen Fötus zu tun haben wollen: „So ist für eine Frau, die sich ein Kind wünscht, der Fötus eine ‚Person‘ von dem Moment an, in dem sie vom Arzt erfährt, dass sie schwanger ist, während für eine Frau, die kein Kind will, die Schwangerschaft eine Invasion bedeutet und der Fötus mit einem Eindringling vergleichbar ist, den man so schnell wie möglich loswerden muss.“ (Boltanski, 2007, S. 335) Nun behält sich aber die Gesellschaft das Recht vor, dieses intime Verhältnis zweier Körper im Interesse der Reproduktion der Gesellschaft zu normieren. Um vollwertige Mitglieder einer Gesellschaft werden zu können, müssen Menschen nicht nur „durch das Fleisch“, sondern auch „durch das Wort“ gezeugt werden. Der bloß fleischliche Fötus muss durch das zustimmende Wort der Mutter angenommen und willkommen geheißen werden, um ein Mensch zu werden. Der Fötus befindet sich also in einer höchst prekären Lage. Er ist „dieses ungewisse Wesen, in der Schwebe zwischen Existenz und Nichtexistenz, zwischen der Vorhölle und der Welt, zwischen der Zugehörigkeit zu einem anderen und der Zugehörigkeit zu sich selbst, zwischen dem Nichts und dem Ganzen, zwischen dem Wirklichen und dem Virtuellen, zwischen der Ordnung der Tatsachen und der Ordnung des Projekts.“ (Boltanski, 2004, S. 447) Die Lage des Fötus offenbart uns unsere eigene Lage: wie „zerbrechlich nicht nur die Bedingungen sind, die nicht nur unseren Zutritt zum Menschsein beherrschen, sondern unser Menschsein selbst ist“ (ebd.). Ein Projekt ist per definitionem etwas Unfertiges, etwas lediglich Werdendes. Auch das „Kind als Projekt“, das in die Planung des Lebensprojektes der Eltern einbezogen wird, ist aufgrund der Unvorhersagbarkeit seiner Entwicklung ein gehöriges Risiko für die projektorientierten Eltern. Die Prüfungen, denen sich das Kind als Projekt ständig unterziehen muss, sind nicht harmlos und bleiben nicht ohne Folgen für das Selbstbewusstsein des heranwachsenden Kindes. Es wird ständig auf die Probe gestellt und kann sich in der cité par projet niemals ganz gerechtfertigt fühlen – lediglich bis zum nächsten Projekt. Die cité par projet, die als Emanzipationsprogramm begann, ist zur Dauerprüfung für die heute heranwachsende Generation geworden. Die Gefahren der cité par projet hat Boltanski in seinem Buch über die Lage des Fötus eindrücklich beschrieben. Die Techniken der Überprüfung werden immer präziser und das Netz der Selektion wird immer engmaschiger. Es gibt in der Welt der Projekte viele gute Gründe, einen Fötus nicht willkommen zu heißen. Um zur Welt kommen zu können, ist dieser elementar auf die Anerkennung und Zuneigung seiner Eltern angewiesen. Diese Zuneigung kann weder gesetzlich noch gesellschaftlich erzwungen werden. Insofern ist jede Geburt eines Menschen ein Akt der Liebe. Die Eltern lieben ihr Ungeborenes nicht wegen seiner liebenswerten Eigenschaften, denn sie kennen es ja nicht. Es ist die Liebe zu einem Fremden – und es ist das implizite Versprechen, für dieses Wesen auch dann sorgen zu wollen, wenn es sich anders entwickelt, als man es sich gewünscht hätte. Diese Annahme des Fötus – sei er ein Junge oder ein Mädchen, habe er blaue oder braune Augen, sei er körperlich und geistig stark oder schwach – ist der reziprozitätsfreie Beginn eines komplexen Beziehungsgefüges, in dem sich erst im Lauf der Jahre reziproke Beziehungsmuster entwickeln, die die Dauer der cité domestique gewährleisten.
6 Gibt es eine cité de l’agapè?
Auf die Grenzen von Überprüfungsverfahren und die Notwendigkeit, eine Soziologie der Liebe hat Boltanski früh – nämlich im zweiten Teil seines drei Essays umfassenden Buches „L’amour et la justice comme compétences“ aus dem Jahre 1990 – aufmerksam gemacht. Obwohl sich die Gerechtigkeit wie auch die Liebe darin träfen, dass sie Alternativen zur Gewalt sind, so nutzten sie dafür doch verschiedene Mittel. Während im Gerechtigkeitsdiskurs ein universelles Äquivalenzprinzip überprüft, ob die Rangstellung zwischen zwei Konfliktpartnern angemessen ist, gehe die Liebe einen anderen Weg. „Sie wendet sich vom Vergleich ab und ignoriert die Äquivalenzen. Das ist der Grund, weshalb die Liebe immer schon nicht nur als Alternative zur Gewalt, sondern auch als Alternative zur Gerechtigkeit verstanden wurde.“[6] Boltanski versucht, die Agape als rein anthropologisches Phänomen zu fassen. Sie sei unbekümmert, sie ignoriere nicht nur die Prinzipien der Äquivalenz, sie sei auch unfähig zum Kalkül. Sie lebe ganz im Augenblick – und habe deshalb das Problem, nicht von Dauer sein zu können. Aber dieser Mangel an Dauer heiße nicht, dass sie keine sozialen Wirkungen habe. In einer anregenden Interpretation des „Essai sur le don“ von Marcel Mauss zeigt Boltanski, dass es bei der Gabe und Annahme von Geschenken nicht auf das Geschenk als solches ankommt, sondern auf die dauerhafte Ermöglichung, Schenkender und Beschenkter zugleich zu sein. Durch das Geschenk zeigt sich der Mensch einem anderen Menschen als Mensch. Man schenkt nicht, um etwas zu bekommen, sondern man schenkt, damit auch der andere schenken kann. So bestätigen sich die Menschen gegenseitig, dass sie keine Sachen, sondern Menschen sind. Die Vorstellung, dass sich die Liebe nur spontan und momenthaft realisiert, hat mit der Geschichte des christlichen Agapebegriffs freilich wenig zu tun. Es zeichnete die frühe Christenheit gerade aus, dass sie in den Metropolen der Antike effektiv und wohlorganisiert für die Witwen und Waisen sorgte und dafür eine eigene Organisation, die Diakonie, ins Leben rief. Sowohl die Organisation der Agape wie auch der unlösliche Zusammenhang zwischen der je eigenen Liebestat und seine Einzeichnung in das größere Werk der Liebe Gottes geben der christlichen Liebe soziale Form und Dauer. Boltanski verpasst es, den paradoxen Zusammenhang von Liebe und Gerechtigkeit zu erfassen, weil er die Liebe auf einen geradezu mystischen Moment reduziert. Nirgendwo in seinem Werk findet sich eine Auseinandersetzung mit dem Bundesgedanken. Dieser Gedanke ist aber für die jüdische wie die christliche Tradition zentral. Dieser Bund ist weder ein Vertrag noch ein heteronom auferlegtes Gesetz. Es handelt sich vielmehr um eine dauerhafte Selbstverpflichtung von zwei selbständigen Partnern, die miteinander aus Liebe Regeln aushandeln, auf die sich beide Seiten verlassen und berufen können. Der Gläubige darf Gott fragen, was er sich angesichts des Leidens auf dieser Welt als Schöpfer eigentlich gedacht hat. Gott ist ebenso rechtfertigungspflichtig wie es der Mensch im Jüngsten Gericht ist. Das Evangelium hebt das Gesetz nicht auf, es ist vielmehr seine Erfüllung. Die Liebe ist nicht das Andere der Gerechtigkeit Gottes, sondern ihr Inhalt – und die Gerechtigkeit ist nicht das Andere der Liebe Gottes, sondern ihre Form. Legt man Boltanskis Kriterien für die Identifikation einer cité und der von ihr ausgehenden Ordnung der Dinge zugrunde, dann lassen sich für eine cité de l’agapè mühelos klassische Texte, soziale Räume und zeitliche Arrangements namhaft machen, die einer solchen cité Dauer verleihen. Das bien commun ist ebenso klar definiert wie die Ordnung der grandeurs. Der klassische Text, der das gemeinsame höchste Gut definiert, ist die Heilige Schrift. Ihre Kernaussage lautet, dass der Mensch Gott und seinen Nächsten wie sich selbst lieben soll. Auch die Rangordnung ist unumstritten: Es gilt, Jesus nachzufolgen und wer dies am überzeugendsten tut, genießt in der cité d’agapè die höchste Anerkennung. Martin Luther King, Mutter Teresa, Albert Schweitzer – diesen Namen begegnen Schulkinder in Deutschland in ihren Schulbüchern. Ihre Stabilität verdankt die cité d’agapè den Religionsgemeinschaften. Dome, Kathedralen, Kirchen und Kapellen finden sich flächendeckend. In jedem Gottesdienst wird das Ritual der Sündenvergebung praktiziert, das die Gläubigen befähigt, sich selbstkritisch zu prüfen, sie zugleich aber ermutigt, ihr Leben zu ändern. Die christliche Lehre von der Rechtfertigung erinnert daran, dass die Liebe die höhere Form von Gerechtigkeit ist, die Lehre von der Ewigkeit entlastet vom Zeitdruck eigener Endlichkeit, die Lehre von der Liebe als der Erfüllung des Gesetzes ermutigt zu Handlungen, die über einen bloßen Utilitarismus hinausgehen. Damit steht die cité d’agapè in einem direkten Konkurrenzverhältnis zu den anderen cités. Aber das wäre ja gerade der Beweis dafür, dass es sich bei der Liebe und der Barmherzigkeit nicht um eine gänzlich andere Kategorie als bei der Gerechtigkeit handelt, sondern mit diesem Rechtfertigungsdiskurs konkurriert. Dabei ist es eine historische und empirische Frage, wie viel Einfluss sie auf das diskursive Gefüge der konkurrierenden cités ausübt.
7 Wer rechtfertigt?
Dieser Essay wollte auf dreifache Weise auf die soziale Dimension der Rechtfertigung aufmerksam machen: erstens, indem auf den Gebrauch des Rechtfertigungsbegriffs in anderen sozialen Systemen aufmerksam gemacht wurde; zweitens, indem der Begriff der Gerechtigkeit als Voraussetzung von Rechtfertigung verstanden wurde; drittens, indem vorgeschlagen wurde, die Liebe nicht als das Andere von Gerechtigkeit, sondern Liebe als eine Form der Gerechtigkeit Gottes zu verstehen. In Römer 3, 27 ist vom „Gesetz des Glaubens“ die Rede, bevor es in Römer 3,28 heißt: „Denn wir sind überzeugt, dass der Mensch gerecht wird ohne die Werke des Gesetzes, allein durch den Glauben.“ Nicht der Glaube und das Gesetz stehen also einander gegenüber, sondern das „Gesetz des Glaubens“ steht dem „Gesetz der Werke“ gegenüber. Ist nicht auch der Glaube ein menschliches Werk wie die Liebe und die Hoffnung etwa? Offenbar nicht. Der Glaube hat deshalb eine Sonderstellung gegenüber allen Werken, weil er sowohl unser Selbstverhältnis wie auch unser Weltverhältnis als ein von Gott selbst konstituiertes Verhältnis begreift und von dieser Perspektive aus alle anderen Verhältnisse in einem neuen Licht erscheinen lässt. Das Gesetz des Glaubens ist insofern allen anderen Gesetzen überlegen, als dieses ein unmittelbares Gottesverhältnis setzt, das sowohl das Selbstverhältnis wie auch die wechselnden Weltverhältnisse bestimmt. Die Bedeutung des Glaubens an das rechtfertigende Handeln Gottes kann dann in Konkurrenz zu den Rechtfertigungsdiskursen, die die Soziologie und auch die Rechtswissenschaften untersuchen, so gefasst werden: der Glaube an den Bund mit einem treuen, gerechten und ewigen Gott, dessen Reich im Kommen ist, setzt innerweltlichen Rechtfertigungsimperativen insofern Grenzen, als er die Frage stellt, welche Instanz denn rechtfertigt. Den Chirurgen bei seiner Arbeit rechtfertigt das Recht, sein Ansehen und sein Ruf wird von seinen Patienten bestimmt, sein Leben insgesamt kann nur Gott selbst rechtfertigen – sofern er denn sein Leben als ein Moment der Geschichte Gottes mit den Menschen auffassen will.
Literaturverzeichnis
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Prof. Dr. Rolf Schieder, Professur für Praktische Theologie und Religionspädagogik an der Humboldt-Universität zu Berlin
„L’épreuve est le moment où une incertitude sur la grandeur des uns et des autres est mise sur le terrain, et où cette incertitude va être résorbée par une confrontation avec des objets, avec une monde.“ Blondeau & Sevin, 2004.
„[L]es personnes ne peuvent se prévaloir d’une grandeur qui leur serait attachée une fois pour toutes, mais doivent montrer ce dont elles sont capables au cours d’une épreuve.“ Blondeau & Sevin, 2004.
„Tous les êtres humains étant par principe équivalents ont une même capacité d’accéder à l’état de grandeur le plus élevé, auquel correspondent des bonheurs supérieurs, mais doivent pour cela consentir un sacrifice, un coût.“ Blondeau & Sevin, 2004.
„Valorisant la mobilité – l’établissement de connexions nombreuses et diverses, mais souvent éphémères – et l’activité – comprise comme la multiplication des liens et l’engagement dans des entreprises toujours nouvelles, quelle qu’en soit la finalité –, un univers de ce type est sans arrêt menacé par l’opportunisme et par la fragmentation.“ Boltanski, 2004, S. 135–136.
„[…] de faire du jeune designer libéré et mobile qui passe son temps entre Londres, New York et Paris un héros subversif, par opposition à l’artisan rural ou au petit cadre de province, facilement qualifié de ‹vichiste›, avec ses vieilles valeurs traditionnelles idiotes et sa cité domestique imbécile.” Blondeau & Sevin, 2004.
„Il se détourne de la comparaison et ignore les équivalences. C’est la raison pour laquelle l’amour a toujours été présenté non seulement comme une alternative à la violence, mais aussi comme une alternative à la justice.“ Boltanski, 1990, S. 142.