1 Sünde als Thema der Lebenswelt von Schüler*innen
Was verstehen Schüler*innen unter dem Begriff Sünde? Konnotieren sie mit Sünde in einer säkularisierten Form die Verkehrssünde, Bausünde oder Umweltsünde, vielleicht das Essen von Schokolade (Mertin, 2012, S. 4-10; Felder, 2011, S. 4-6)? Wie Andreas Feige und Carsten Gennerich (2008, S. 47–52) mit ihrer Studie belegen, verfügen Jugendliche über Vorstellungen von Sünde, wenngleich sie den Begriff nicht verwenden. Junge Menschen begreifen Sünde vor allem in ihrer sozialen, zwischenmenschlichen Dimension als Missbrauch von Vertrauen, als Untreue in einer Partnerschaft oder als Gewaltanwendung (Feige, 2008, S. 57). Doch Sünde als Synonym für eine Trennung von Gott oder gar als anthropologische Grundkonstante zu verstehen, dürfte nicht nur Schüler*innen schwer fallen. Vielmehr scheint es, dass Sünde eher zur religiösen Fremdsprache unserer Zeit gehört: Sollte dann überhaupt an einem Begriff wie dem der Sünde festgehalten werden?[1] Ein erster Blick in die religionspädagogische Diskussion mag hilfreich sein:
2 Religionspädagogik und Sünde – Ein Blick in die Forschungslandschaft
In den letzten Jahren erfuhr der Begriff der Sünde immer wieder Aufmerksamkeit in religionspädagogischen Diskussionen. So finden sich bei Andreas Feige und Carsten Gennerich (2008) empirisch basierte Erkenntnisse zum Sündenverständnis Heranwachsender. Komplette Themenhefte haben praktisch-theologische Zeitschriften der Bearbeitung von Sünde (und/oder Schuld) im religionsunterrichtlichen bzw. gemeindepädagogischen Kontext gewidmet (entwurf, 4/2004; KatBl, 1/2012; Bibel heute, 47/2011; ThPQ, 160/2012).
2.1 Der Begriff Sünde in religionsunterrichtlichen bzw. gemeindepädagogischen Kontexten
In den religionspädagogischen Zeitschriften „entwurf“ und „Katechetische Blätter“ wird Sünde meist implizit im thematischen Komplex um Schuld-Schicksal-Scheitern-Vergebung-Versöhnung bearbeitet. Für den religionsunterrichtlichen Kontext wird das Phänomen Sünde vor allem bei Petra Freudenberger-Lötz, Hanna Roose, Mirjam Zimmermann, Frieder Spaeth und Annegret Langenhorst didaktisch aufbereitet. Während sich die vier letztgenannten um Unterrichtsbausteine für die Sekundarstufe verdient machen, entwirft Petra Freudenberger-Lötz (2004) einen bibeldidaktischen Zugang für den Religionsunterricht der Grundschule. Motiviert von der Offenheit der Grundschüler*innen für die Themen Sünde und Vergebung wagt sie mit ihren Schüler*innen (in einem freiwilligen Samstagsvormittagszusatzunterricht) die Auseinandersetzung mit Sünde als Entfernung von Gott und mit Sündenvergebung an biblischen Beispielen, so z. B. Lk 7,36-50 (Freudenberger-Lötz, 2004, S. 16–18).
Sowohl Frieder Spaeth (2004) und Mirjam Zimmermann (2004) auf evangelischer Seite als auch Annegret Langenhorst (2012) auf katholischer Seite machen das befreiungstheologische Verständnis von Sünde in ihrer strukturell-sozialen Dimension fruchtbar für den Religionsunterricht der Sekundarstufe I. Zimmermann (2004, S. 27) sieht das Potential der befreiungstheologischen Interpretation von Sünde darin, dass durch dieses Konzept den Schüler*innen der Sek I „die Sünde als Macht verständlich [wird], die Menschen unausweichlich beherrscht und zerstört, aber die durch Gottes Hilfe gebrochen werden kann“. Die Unterrichtsbausteine von Zimmermann thematisieren sündhafte Strukturen in einer globalen Perspektive, während Frieder Spaeth Aspekte strukturellen Unrechts wie Wirtschaft oder Sklaverei behandelt, aber auch einen kolonialgeschichtlich-historischen Blick auf die „Schuld der Väter“ (Völkermord an den Hereros) aufzeigt (Spaeth, 2004, S. 53). Annegret Langenhorst wählt zwei Wege der Elementarisierung, um die Frage nach struktureller Sünde im Unterricht zu vermitteln: Zum einen den Weg über Personen wie Oscar Romero oder Ruth Pfau, zum anderen über Projekte, die aufzeigen, „welches positive Engagement gegen sündhafte Strukturen möglich ist“ (Langenhorst, 2012, S. 35).
Das Konzept des Theologisierens mit Jugendlichen macht Hanna Roose (2012) für die Bearbeitung von Sünde in einer Unterrichtssequenz mit Jugendlichen einer 9./10. Klasse (erprobt an einer Realschule) fruchtbar. Im, nach Dieterich (2012, S. 44) zirkulär verstandenen, Dreischritt Schüler-Position (Schüler-Verständnisse von Sünde) – Tradition (hier: biblische Texte zur Sünde) – Dialog (Schüler-Verständnis von Sünde in Auseinandersetzung mit Tradition) zeigt sie Jugendlichen „eine Strukturierungshilfe [auf], damit sie ihre eigene Urteilsbildung“ (Roose, 2012, S. 148) in einer „strukturell geplante[n] inhaltlichen[n] Freiheit“ (Dieterich, 2012, S. 43) vollziehen können. Am Ende der Einheit können die Jugendlichen „ein eigenständiges Sündenverständnis formulieren – in dem Bewusstsein, dass es auch ein anderes gibt“ (Roose, 2012, S. 149).
2.2 Der Begriff Sünde in der Deutung Jugendlicher
Für religionsdidaktische Überlegungen von hohem Wert sind die Erkenntnisse, die Andreas Feige und Carsten Gennerich teils gemeinsam, teils getrennt aus empirischen Daten generiert haben. Um das Sündenverständnis von Jugendlichen zu eruieren, haben sie (2008) in ihrer breit angelegten quantitativen Studie zu den Lebensorientierungen Jugendlicher elf Handlungs- und Verhaltenskonkretionen angeboten, die junge Menschen mit dem Begriff Sünde in Verbindung bringen könnten. Die meiste Zustimmung fand bei den Berufsschüler*innen ein Verständnis von Sünde in ihrer sozialen Dimension: Sünde wird verstanden als Missbrauch von Vertrauen, Untreue in der Partnerschaft oder Gewaltanwendung (Feige & Gennerich, 2008, S. 47). Feige (2008, S. 56) kommt zu dem Ergebnis, dass „Sünde […] für die Jugendlichen/Jungen Erwachsenen allererst eine Beziehungstat im sozialen Nahbereich“ ist. Dass die Wahrnehmung einer Handlung als Sünde abhängig von den Werthaltungen der Jugendlichen ist, konnte gezeigt werden durch die Korrelation von Sündenkategorien und Wertedimensionen von Jugendlichen. Exemplarisch sei das an einem moralischen Sündenverständnis der Jugendlichen gezeigt: „Die Konsistenz zwischen Werthaltung und akzeptierter Sündendefinition zeigt, dass vor allem das als Sünde bezeichnet wird, was man selbst als zu vermeiden sucht“ (Gennerich, 2010, S. 85). Damit weisen die meisten Jugendlichen einen Sündenbegriff auf, den Gennerich (2010, S. 128) als sicherheitsorientiert beschreibt: „Denn die Jugendlichen haben Sünde als jene Selbstaspekte definiert, die den eigenen Selbstidealen entgegenstehen“.
Aus der Vielzahl der wichtigen Ergebnisse von Gennerich und Feige, die hier weitgehend ungenannt bleiben müssen, scheint für unsere Überlegungen Folgendes bedeutsam:
Erstens: Jugendliche verfügen über ein Verständnis von Sünde, das eine Ernsthaftigkeit aufweist „die weit entfernt ist von jener Plattheit, in der das Wort und sein Inhalt etwa in der Werbung […] verwendet werden“ (Feige & Gennerich, 2008, S. 52). Zweitens: Aus entwicklungspsychologischer Perspektive sind die Fragen nach Sündenverständnis und Selbstwert eng miteinander verknüpft (Gennerich, 2010, S. 66). Drittens: Jugendliche vertreten einen eher sicherheitsorientierten Sündenbegriff, der Sünde als Tatsünde (peccatum personale) stark betont. Dieses Sündenverständnis entbehrt einer Transzendenzvorstellung von Sünde, weil ihm nach Gennerich (2010, S. 85–86) „keine theologische Dimension eignet“.
Der Blick in die religionspädagogische und -didaktische Diskussion zeigt: Es scheint wichtig und angeraten, jungen Menschen eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Sünde zu ermöglichen. Vor allem Gennerich (2010, S. 129) weist darauf hin, dass „der Sündenbegriff angesichts von Selbstabwertungen Jugendlicher eine präventive Wirksamkeit entfalten kann“. Doch warum sollte am Terminus der Sünde festgehalten werden, wenn zwar Jugendliche vielen Sachverhalten die Qualität von Sünde beimessen aber, „die meisten nicht auf die Idee kommen dürften, dafür den Begriff der Sünde zu verwenden“ (Feige, 2008, S. 70)? Inwiefern soll am Wort Sünde festgehalten werden, wenn es semantisch „recht weit von der Lebenswelt der meisten Jugendlichen entfernt und wenig reflektiert ist“ (Roose, 2012, S. 148)?
Im Folgenden wird der Versuch unternommen, aufzuzeigen, warum es für das Leben junger Menschen relevant sein könnte, über Sünde nachzudenken und dezidiert von Sünde in der heutigen Lebenswelt zu sprechen. Dazu wird zuerst geklärt, was theologisch unter Sünde verstanden werden kann und wo sich hieraus Anknüpfungspunkte zum Sündenverständnis Jugendlicher ergeben könnten. Daran schließt sich die Bearbeitung der Fragen nach dem Warum und Wie der theologischen Rede von Sünde an.
3 Theologische Deutungen von Sünde
Allgemein beschreibt der Begriff Sünde den „Bruch des Gottesverhältnisses durch den Menschen“ (Krötke, 2004, S. 1867), also die Trennung des Menschen von Gott. Für Krötke (2004, S. 1866) ist der Grundakt der Sünde der Unglaube: „Im Unglauben verschließen sich Menschen dagegen, dass sie Gott ihr Dasein verdanken und er sich ihnen zuwendet“. Für Härle (1995, S. 465) wird dann am angemessensten von Sünde gesprochen, wenn sie als „Verfehlung der Lebensbestimmung, als Verlorenheit, Scheitern oder Misslingen des Lebens verstanden“ wird. Bereits diese beiden ersten terminologischen Annäherungen zeigen, dass die Sünde zwei Parameter beinhaltet: Mensch und Gott. Sünde ist ein Beziehungsgeschehen zwischen Mensch und Gott. Die Gestaltung dieses Beziehungsgeschehens hat Konsequenzen für weitere Beziehungen des Menschen: Sie beeinflusst das Beziehungsgeschehen zu mir, zu meinem Mitmenschen und zur Gesellschaft.
Als Wurzel und Ursache dieser gestörten Beziehung zwischen Mensch und Gott nennt Gen 3 die Vorgänge im Garten Eden. An einer scheinbar kleinen Frucht entzündet sich der Konflikt zwischen Mensch und Gott. Die Menschen erliegen der Verlockung, so sein zu können wie Gott, doch das Versprechen stellt sich als nicht haltbar heraus: Eva und Adam erwerben lediglich ein beschämendes Wissen um ihre Nacktheit (Schoberth, 2006, S. 123–124). Freilich ist diese Erzählung nicht als Tatsachenbericht zu verstehen, der realistisch darstellt, wie die Sünde in die Welt kam. Gen 3 will vielmehr als Verdichtung menschlicher Erfahrung gelesen werden: Kern der Geschichte ist weder die Versuchung durch die Schlange noch die Versuchung durch die Frau, was ja zu einer sehr problematischen Wirkungsgeschichte hinsichtlich der Rolle der Frau im Christentum geführt hat. Im Zentrum steht vielmehr, dass der Mensch dem Versprechen erliegt, gottgleich werden zu können. In Folge dieser neu erworbenen Kompetenzen wäre Gott nicht mehr notwendig, damit verzicht- und ersetzbar. In theologischer Perspektive ist mit Sünde also ein Grundzustand des Menschen beschrieben im Sinne einer Grundhaltung, die den Menschen als solchen bestimmt. Sünde ist damit konstitutiver Bestandteil des Menschseins. Als anthropologische Grundkonstante ist sie ursächlich für die gestörte Beziehung von Gott und Mensch. Aus ihr resultieren Konsequenzen für menschliche Beziehungen – die Beziehung des Subjekts a) zu sich selbst und b) zum einzelnen Mitmenschen, zur Gesellschaft und zu seiner Umwelt.[2] Die Bestimmung der Beziehungen soll helfen, im Folgenden die theologischen Interpretationen von Sünde zu systematisieren, allerdings ohne den Anspruch auf ihre vollständige Darstellung zu erheben. In c) soll eine Synthese der beiden Dimensionen von Sünde gewagt werden.
3.1 Sünde in ihrer individuell-subjektiven Dimension
Zugrunde liegt diesem Verständnis von Sünde, dass aus der gestörten Beziehung von Mensch und Gott eine gestörte Beziehung des Individuums zu sich selbst resultiert. Inhaltlich lassen sich verschiedene Akzentuierungen dieses Beziehungsgeschehens aufführen:
Sünde als Selbstüberschätzung: Dieses Verständnis lässt sich sowohl bei Augustin als auch bei Luther finden. Augustin betont die Universalität von Sünde. Für ihn gehört es zum Menschsein dazu, dass der Mensch ohne Gott leben will.[3] Aus dieser Grundsünde, peccatum originale, dem Getrenntsein von Gott resultieren Tatsünden (peccatum personale). Die peccatum personale ist mit Härle (1995, S. 478) Ausdruck der peccatum originale: „Sünde-Tun des Menschen ist Ausdruck seines Sünder-Seins“. Luther spricht vom Menschen als einem homo incurvatus in se (WA 56, 356, S. 5–6): Der Mensch ist in sich selbst verkrümmt. Als solcher ist er vollkommen fixiert auf die eigenen Möglichkeiten und setzt sich damit an Gottes Stelle. In diesem Sündenverständnis flüstert die Sünde dem Menschen ein, dass seine menschlich-endliche Begrenztheit wegfallen und er wie Gott sein könnte (Sölle, 2005, S. 80–81).
Sünde als Selbstaufgabe: Diametral gegenüber lässt sich jene Interpretation von Sünde verorten, auf die die feministische Theologie hingewiesen hat: Nicht die Hybris nimmt Gottes Stelle ein, sondern ihr Gegenteil: Die Selbstaufgabe. Die Sünde (hier speziell) der Frau besteht in ihrer Selbstverleugnung. Die Frau zerstört ihre Gottebenbildlichkeit, indem sie kein Selbst haben möchte, sich unterwirft und von Männern abhängig macht. Das Nicht-so-sein-Wollen wie Gott die Frau geschaffen hat ist damit als Sünde zu verstehen.
3.2 Sünde in ihrer sozialen Dimension
Die gestörte Beziehung von Mensch und Gott hat Auswirkungen auf die sozialen Beziehungen des Menschen.
Sünde als Mangel an Liebe: Wenn die Bestimmung des menschlichen Lebens die Bestimmung zur Liebe ist (Härle, 1995, S. 466), dann ist Sünde, indem sie Verfehlung dieser Bestimmung ist, als Verfehlung der Liebe zu beschreiben: Liebe kann „verleugnet oder verraten werden durch Angst oder aus Angst. Liebe kann versäumt oder verspielt werden durch Trägheit und Gleichgültigkeit“ (Härle, 1997, S. 466). Für Härle (1997, S. 466) ist dieses mangelhafte Verhalten des Menschen „Ausdruck des Machtcharakters, mit dem die Sünde […] den Menschen […] beherrscht, so dass er die Bestimmung des Lebens zur Liebe verfehlt“. Der Anspruch der Liebe, mich und andere zu lieben, wird immer größer sein als der Mensch es zu realisieren vermag: Er wird diesem Anspruch nicht gerecht werden können (Sölle, 2005, S. 84). Als eine Konsequenz dieses Mangels isoliert sich der Mensch von anderen, aber auch von sich.
Sünde als Habgier: Im Kontext der Befreiungstheologie wird unter Sünde die Habsucht des Menschen verstanden. Damit ist die Besitzgier das, was den Menschen von Gott und in Konsequenz auch von seinen Mitmenschen trennt. Adam und Eva wollten mehr besitzen als sie hatten, also griffen sie nach der Frucht. Als Folge ihrer Habsucht entfremdeten sie sich von Gott und voneinander (Sölle, 2005, S. 85–86).[4] Habsucht kann auch als Wurzel eines dritten Verständnisses von Sünde in ihrer sozialen Dimension angesehen werden:
Sünde als strukturelle Sünde: Schon Augustin differenziert in seinen Ausführungen über die peccatum originale Sünde als passiven und aktiven Vorgang. In seiner Erbsündenlehre denkt Augustin Schuld und Schicksal zusammen: Das Schicksal besteht im Hineingeborensein in einen Zustand, in die Struktur der Sünde. Dorothee Sölles Vergleich (2005, S. 77) illustriert eine solche Welt, die von der Trennung von Gott schon immer bestimmt ist: Menschen, die beispielsweise in der Nachkriegszeit in Deutschland geboren wurden haben aktiv keine Schuld auf sich geladen, aber sie werden hineingeboren in das Nachkriegsdeutschland und müssen sich mit der (kollektiven) gesellschaftlichen Schuld auseinandersetzen. Das Hineingeborensein ist die passive Seite von Sünde. Die aktive zeigt sich darin, wie der Mensch sich zu diesen Strukturen verhält: Lädt er im Umgang mit diesem Zustand Schuld auf sich? Die Theologie der Befreiung betont diesen passiven Aspekt von Sünde als strukturelle Sünde: „Sünde ist vielmehr eine soziale und geschichtliche Tatsache. […] Sünde wird greifbar in unterdrückerischen Strukturen, in der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“ (Gutiérrez, 1992, S. 169).
3.3 Sünde als umfassende Gesamtheit ihrer individuellen und sozialen Dimensionen
Sigrid Brandts Entwurf von Sünde (1997) als Kommunikationszusammenhang kann m. E. beide Dimensionen vereinen. Als Ausgangspunkt ihrer Überlegungen betrachtet Brandt das paulinische Verständnis von Sünde. Für Paulus ist die Sünde „eine den Menschen und sein Leben durch und durch beherrschende Macht“ (Brandt, 1997, S. 19), die im Menschen wohnt (Röm 7,17. 20), unter deren Macht der Mensch verkauft ist (Röm 7,14) und ihr als Knecht dient (Röm 6,17). Paulus kontrastiert das Leben im Fleisch, die Macht der Sünde, mit dem Leben im Geist. Aus Paulus’ Beschreibung des Lebens im Geist (Röm 5, 1–5; 1Thess 1,3; 5,8; 1Kor 13,13) resultiert für Brandt (1997, S. 25), dass das Leben im Geist eine Wechselbeziehung aus drei Parametern ist, nämlich aus Glaube, Liebe und Hoffnung. Diese Trias bildet in sich einen Kommunikationszusammenhang, die einzelnen Parameter entzünden sich wechselseitig „einsinnig oder aneinander“ (Glaube weckt Hoffnung, Hoffnung weckt Liebe, Liebe bestätigt den Glauben, usw.): Stellt also diese wechselseitig sich bedingende Trias das Leben im Geist dar, so ist das Gegenteil dieses Lebens im Geist als Gegenteil dieser Trias von Glaube, Liebe und Hoffnung zu beschreiben. In diesem Verständnis ist Sünde der Kommunikationszusammenhang von Misstrauen Lieblosigkeit und Hoffnungslosigkeit.
Besonders im Hinblick auf die doch künstliche Trennung in subjektiv-individuelle und soziale Dimensionen von Sünde vermag Brands Ansatz Entscheidendes zu leisten: Alle Formen, die als Resultat der gestörten Gottesbeziehung entweder subjektiv-individuelle oder soziale Dimensionen aufweisen, lassen sich als Formen verstehen, „in denen die triadische Struktur der Sünde […] konkrete Gestalt“ (Brandt, 1997, S. 30) gewinnt.
4 Warum sollen wir am theologischen Reden von der Sünde festhalten?
Mit Feige (2008, S. 58–59) kann festgehalten werden, dass Jugendliche zwar über ein Sündenverständnis verfügen, aber dass „die meisten nicht auf die Idee kommen dürften, dafür den Begriff der Sünde zu verwenden“ (Ebd., S. 70). Warum also soll am theologischen Begriff der Sünde, an diesem Terminus festgehalten werden? Im Folgenden soll dies begründet werden:
4.1 Weil ich in der theologischen Rede von der Sünde Erfahrungen aufnehme, die Schüler*innen heute machen
In ihrer Lebenswelt machen Heranwachsende heute zwei wesentliche Erfahrungen (neben vielen weiteren): Die Erfahrung von Multioptionalität und die Erfahrung von Konflikten. Scheinbar ist für viele alles erreichbar, beruflich und privat. Chancen scheinen jedem offen zu stehen, sie müssen nur ergriffen werden: Wer genug Leistung bringt, wird das große Geld verdienen. Auch in Sachen Beziehung wird Multioptionalität propagiert: Via Internet scheint es unendlich viele Möglichkeiten zu geben, Beziehungen zu beginnen: Ich kann Tindern oder ich kann eher traditionell Online-Portale nutzen, um potentielle Partner kennenzulernen – scheinbar habe ich die Qual der Wahl. Angeblich verliebt sich ja alle elf Minuten ein Single auf parship. Aber was, wenn es nicht klappt – trotz der unendlichen Optionen?
Und zweitens machen junge Menschen die Erfahrung, dass sie von Konflikten betroffen sind: Sie bleiben nicht im Fernsehen, Kriege werden erlebbar durch Flüchtlingsströme, die Globalisierung ist plötzlich fassbar: Lassen sich die vielen Kriege weltweit beenden? Warum verursachen Menschen immer noch und immer wieder Leid? Vielleicht mag für Schüler*innen dieses Leid der Welt weiter weg sein, aber sie machen in ihrer Lebenswelt tagtäglich die Erfahrung von Konflikten, auch von Leid: Eben hatten sie noch eine Freundschaftsanfrage in den Sozialen Netzwerken und wurden geliked und plötzlich werden sie beschimpft. Wie schnell sehen sich Jugendliche Neid oder Missgunst, vielleicht sogar Hass gegenüber?
Hinter diesen beiden Erfahrungen stehen m. E. Spannungen: Die Spannung, die sich hinter der Multioptionalität verbirgt ist die Spannung zwischen dem Genügen-Wollen und dem Nicht-Genügen-Können: In unserer Leistungsgesellschaft zählt Leistung. Wie hart ist diese Tatsache für jemanden, der in einer Berufsvorbereitenden Klasse sitzt und um seinen Hauptschulabschluss ringt? Wie viele Menschen müssen als Folge dieser Spannung zwischen dem Genügen-Wollen und dem Nicht-Genügen-Können die bittere Erfahrung eines Burnouts machen? Hinter der Erfahrung von Konflikten und Kriegen verbirgt sich die Spannung zwischen dem Anders-Sein-wollen und dem Nicht-Anders-Sein-Können. Diese Spannung wird deutlich an der Erfahrung, dass Menschen anderen Menschen Leid zufügen. Menschen verursachen Leid und Konflikte, vielleicht obwohl sie es anders wollten?
Gemeinsam ist beiden Erfahrungen eine Ambivalenz im Inneren des Menschen, eine Spannung zwischen zwei Polen. Menschen leben in Spannung zwischen dem Genügen-Wollen und dem Nicht-Genügen-Können, dem Besser-Sein-Wollen und dem Nicht-Anders-Sein-Können. Beide Erfahrungen gehören zum Menschsein dazu. Auch in der philosophischen Anthropologie werden diese Erfahrungen wahrgenommen. So macht Max Scheler (1874–1928) für diese Ambivalenz den Gegensatz von Geist und Lebenstrieben verantwortlich. Für ihn ist der Mensch ein Geistwesen. Zwar verfügt der Mensch auch über Triebe, aber diese Lebenstriebe stehen im Gegensatz zum Geistwesen. Aus diesem Gegensatz von Geist und Lebenstrieben resultiert das menschliche Gebrochensein. Für den Philosophen Helmuth Plessner (1892–1985) dagegen resultiert das innere Zerrissen-Sein des Menschen aus dem Gegensatz von animalischer Zentralität und Exzentrizität (Plessner, 2003, S. 290–291). Für ihn besteht der Mensch aus einem Leib und einer Seele. Während sich der Leib in der Zentralität, also dem körperlichen Verfasst- und Beschränktsein des Menschen, manifestiert, stellt die Seele die Exzentrizität des Menschen dar. Die Ambivalenz im Innern des Menschen resultiert nun aus der Spannung zwischen körperlicher Beschränktheit und weltoffener Seele, also zwischen Zentralität und Exzentrizität. Diese Spannung führt dazu, dass der Mensch als körperliches, „exzentrisches Wesen nicht im Gleichgewicht, ortlos, zeitlos im Nichts stehend, konstitutiv heimatlos [ist und er] erst werden und sich das Gleichgewicht schaffen [muss]“ (Plessner, 2003, S. 385). Ein Gedanke, der Theolog*innen nicht fremd ist: Für Pannenberg (2011, S. 104) liegt die Ursache der inneren Zerrissenheit des Menschen in dem Bewusstsein der Selbstverfehlung des Menschen. Diese Selbstverfehlung resultiert aus der Ichbezogenheit, der Zentralität des Menschen: „Jeder einzelne erlebt sich als Zentrum seiner Welt“.
Menschen machen die Grunderfahrung des Zerrissen-Seins, darin sind sich Philosophen und Theologen einig. Allerdings unterscheiden sich die theologische und die philosophische Erklärung der Ursache dieser anthropologischen Grunderfahrung voneinander. Aus theologischer Perspektive ist die Ursache jener menschlichen Ambivalenz nicht verursacht durch den Gegensatz von Leib und Seele oder von Zentralität und Exzentrizität, quasi als Kampf in uns, die aus uns resultiert. Sondern diese Spannung gehört aus theologischer Perspektive zum Menschsein dazu, sie ist Teil der irdischen Existenz des Menschen als Resultat der Sünde. Eben weil der Mensch sich nicht mehr im vollkommenen, paradiesischen Zustand befindet, spürt er eine Ambivalenz in sich.[5] Nach Søren Kierkegaard (1971, S. 463) ist Sünde das Resultat dieser Ambivalenz, „wenn der Mensch vor Gott oder mit der Vorstellung von Gott verzweifelt nicht er selbst sein will oder verzweifelt er selbst sein will“. In diesem Verständnis wird Sünde als Zwiespalt zwischen Sollen und Sein verstanden (Künneth, 1927, S. 1). Aus theologischer Perspektive können Menschen infolge dieses Grundzustandes der Sünde nicht anders als innerlich zerrissen sein zwischen dem Genügen-Wollen und dem Nicht-Genügen-Können. Diese Erfahrung ist meines Erachtens alltäglich in der Lebenswelt von Jugendlichen wahrnehmbar. Die Auseinandersetzung mit einem Sündenverständnis in seiner subjektiv-individuellen Dimension könnte hilfreich sein, um Schüler*innen eine semantische Strukturierung ihrer Erfahrungen anzubieten.
4.2 Weil ich mit der theologischen Rede von der Sünde Perspektiven eröffnen kann[6]
Theologisches Reden kann das Zerrissen-Sein als anthropologische Grundkonstante nicht nur durch die Macht der Sünde erklären, sondern auch eine befreiende Perspektive eröffnen – anders als philosophische Deutungsmuster. Gerade deshalb ist an der theologischen Rede von Sünde festzuhalten:
Aus theologischer Sicht kann von Sünde nur gesprochen werden, wenn sie auch Gottes Reaktion auf sie bedenkt. Luthers große Entdeckung bringt diese Reaktion Gottes auf den Punkt. Nach der Lektüre von Paulus entdeckt er die Antwort auf die Botschaft von der Sünde: Es ist die Botschaft von der Gnade, sola gratia. Diese Perspektive auf die Transzendenz des Lebens kann eine philosophische Deutung des Gebrochenseins nicht eröffnen. Bei Paulus findet sich diese Perspektiveröffnung an vielen Stellen (Röm 1,17; Gal 3,12; Röm 10,1–3; Röm 4,5.17; Gal 3,26–28): In meiner Zerrissenheit, in meiner Ambivalenz ist es allein Gott, der mich durch und in Jesus Christus gerecht macht, solus Christus.
Das heißt nicht, dass der Mensch seiner inneren Zerrissenheit enthoben ist durch Gott. Sie bleibt bestehen, quasi als Konsequenz des paradiesischen Verlusts. Aber doch ist der Mensch, wie es Luther ausdrückt, simul iustus et peccator (WA 39, 1, 564, S. 6–7). Noch ist er unvollkommen und lebt unter der Macht der Sünde, aber in Gottes Augen ist er schon vollkommen. Diese Gleichzeitigkeit des schon jetzt und des noch nicht wird von Luther betont.
Vielleicht ist dies das Entscheidende der theologischen Rede von der Sünde? Die Perspektive der Gnade, die dieser Unvollkommenheit begegnet.
Damit verliert das Unvollkommensein seine zentrale Bedeutung: Es definiert „nicht länger das Menschsein des Menschen. Damit ist der Zwang zur Selbstvervollkommnung […] durchbrochen“ (Schoberth, 2006, S. 127), das Besser-sein-Müssen entfällt. Deshalb kann die „theologische Einsicht in das Sündersein des Menschen […] eine befreiende Erkenntnis“ (Schoberth, 2006, S. 127) sein: Indem Menschen „die Gnade Gottes gelten lassen, werden sie in die Lage versetzt, […] die eigenen Ansprüche und die gesellschaftlichen Konventionen kritisch auf ihre Geltung zu überprüfen“ (Schoberth, 2006, S. 127). Beides gehört also zusammen: Sünde und Gnade.
In genau diesem Sinne hat die theologische Rede von der Sünde ihre Berechtigung auch und gerade in unserer Lebenswelt: So kann die Rede von Sünde „angesichts von Selbstabwertungen Jugendlicher eine präventive Wirksamkeit entfalten“ und „eine Anerkennung der Person mit ihren spezifischen Erfahrungen“ ermöglichen (Gennerich, 2010, S. 129). Eine differenzierte, das sicherheitsorientierte Sündenkonzept Jugendlicher erweiternd-kritisierende Auseinandersetzung mit einem Sündenbegriff, das die subjektiv-individuellen und sozialen Dimensionen von Sünde betont, kann zudem dazu beitragen, „Deutungen an[zu]bieten, die von den Jugendlichen tatsächlich als ihren Umständen angemessen und daher als lebensförderlich erfahren werden können“ (Gennerich, 2010, S. 117).
5 Wie können wir am theologischen Reden von der Sünde festhalten?
Zweierlei ist vonnöten. Zum einen benötigen wir eine Sprache, die in unserem säkularen Umfeld verstanden wird, zum anderen müssen wir mit unserer Sprache an Phänomene und Erfahrungen anknüpfen, die in der Lebenswelt der Schüler*innen präsent sind.
Soll theologisches Reden tragfähige Antwort auf lebensweltliche Fragen anbieten, so bedarf es einer „Sprache, die zu dem passt, was die Gefühlserfahrungen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen ausmacht“ (Feige, 2008, S. 70). Es bedarf einer (empirisch gestützten Analyse von) Sprache, um zu erkennen, wo religiöse Begriffe noch verstanden werden, wo sie sinn-entleert oder wie im Fall des Sündenbegriff ins Moralische oder Antiquierte abgerutscht sind. In dieser Sensibilisierung für Sprache ist sich theologisches Reden seiner lebensweltlichen Bedingtheit bewusst (Härle, 1997, S. 182).
Nun darf die theologische Rede von Sünde sich aber nicht darauf reduzieren lassen, den (eher sicherheitsorientierten) Sündenbegriff der Jugendlichen nachzusprechen. Vielmehr ist es Aufgabe der Theologie, sprachlich und lebensweltlich angemessen, diesem (verengten) Verständnis korrigierende, den Selbstwert von Jugendlichen steigernde Sündenverständnisse entgegenzusetzen. Wenn von Sünde theologisch verantwortlich gesprochen werden soll, muss der Sündenbegriff der Jugendlichen versteh- und nachvollziehbar erweitert werden um „die Vorstellung der unbedingten Transzendenz Gottes“ (Feige & Gennerich, 2008, S. 52). Dazu scheint mir die Verwendung von Sigrid Brandts Ansatz (1997) besonders geeignet: Ihr Verständnis von Sünde ist auch in einer säkularen Welt kommunizier- und verstehbar. Wenn heute Schüler*innen gefragt werden, was Glaube, Hoffnung und Liebe bedeuten, dann haben sie Antworten. Denn Glaube, Hoffnung und Liebe sind Begriffe, die auch in einem nichtchristlichen, säkularen Kontext verständlich sind. „Glaube ist in solchen Kontexten ein wie auch immer geartetes und begründetes Vertrauen in einen erkennbaren tragenden Grund des Lebens“ (Brandt, 1997, S. 27). Liebe ist im säkularen Kontext ohne religiösen Unterbau verständlich, vielleicht als Wunsch, „fremde Lebensmöglichkeiten zu optimieren“ (Brandt, 1997, S. 27). Auch die Hoffnung kommt ohne religiöse Semantik aus. Sie wird im säkularen Kontext vielleicht verstanden als Hoffnung darauf, dass der tragende Grund auch künftig mein Leben, meine Liebe, meinen Erfolg usw. trägt.
Wenn Glaube, Hoffnung und Liebe in einem säkularen Kontext verständlich sind, dann sind auch ihre Gegenteile, die Begriffe Misstrauen, Lieblosigkeit und Hoffnungslosigkeit in einer säkularen Welt zu verstehen. Und das bedeutet, dass von Sünde als Trias von Misstrauen, Lieblosigkeit und Hoffnungslosigkeit auch in einer nichttheologischen, nichtchristlichen Welt nachvollziehbar und verständlich gesprochen werden kann (Brandt, 1997, S. 30).
Diese Trias von Misstrauen, Lieblosigkeit und Hoffnungslosigkeit ist Menschen ohne religiöse Sozialisation nicht nur verständlich, sondern in ihrem Alltag erfahrbar: Wenn aus ihr Leiden für Menschen oder Tiere erzeugt wird, ist das eine erfahrbare Realität (Brandt, 1997, S. 31). Misstrauen, Lieblosigkeit und Perspektivlosigkeit erzeugen Krieg, Neid, Missgunst. Für junge Menschen wird diese Trias vielleicht eher erfahrbar, wenn sich in sozialen Netzwerken Shitstorms entladen oder ungehemmte Beleidigungen bis hin zum Cyber-Bullying sie betreffen.
Weil diese Trias von Misstrauen, Lieblosigkeit und Perspektivlosigkeit eine erfahrbare Realität in unserer Lebenswelt ist, stellt sie m. E. auch eine nachvollziehbare und verständliche Definition von Sünde dar. Damit ist sie anschlussfähig an das sicherheitsorientierte Konzept von Sünde, (Gennerich, 2010, S. 128) und vermag doch Perspektiven aufzuzeigen, die es erweitern.
6 Quality speech?
Theologisches Reden in der heutigen Lebenswelt kann relevant sein, wenn nicht leere Formulierungen christlicher Tradition aufgenommen werden, deren religiöse Semantik nicht verständlich ist. Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, die Sprache und die Erfahrungen aufzunehmen, die in der heutigen Lebenswelt gegenwärtig sind. Am Beispiel des Sündenbegriffs heißt dies: Theologisches Reden muss artikulieren, wo Sünde heute erfahrbar ist: Die von Brandt (1997) entfaltete Trias von Misstrauen, Lieblosigkeit und Hoffnungslosigkeit ist eine auch in einer säkularen Welt nachvollziehbare und erfahrbare Beschreibung von Sünde.
Aber theologische Rede wird nicht einfach dadurch relevant, dass sie die Erfahrungen und Sprache unserer Lebenswelt integriert. Um dies deutlich zu machen, wurde die philosophische Anthropologie bemüht: Auch sie nimmt die anthropologische Grunderfahrung des Zerrissen-Seins wahr. Ebenso wie die theologische kann die philosophische Anthropologie dieses innere Zerrissen-Sein deuten. Das ist also nicht das Entscheidende.
Sondern entscheidend ist m.E. die Qualität des theologischen Redens, was ich mit quality speech bezeichne: Erst wenn theologisches Reden plausibel machen kann, dass ihr Inhalt eine andere Qualität impliziert, also eine neue Dimension aufzeigt, kann das theologische Reden relevant werden: Beispielhaft kann das am Sündenbegriff deutlich werden. Aus Perspektive einer theologischen Anthropologie kann das Zerrissen-Sein nicht nur als menschliches Wesensmerkmal erklärt, sondern es kann auch eine befreiende Perspektive eröffnet werden – die Gnadenperspektive: Aus Gnade nimmt Gott den Menschen in seiner Unvollkommenheit an. Das sola gratia des Angenommenseins durch Gott begegnet dem Menschen in dieser Ambivalenz. Diese Perspektive der göttlichen Gnade stellt also die entscheidende Qualität dar. Insofern es also theologischem Reden als quality speech gelingt, diese Qualität von Sünde verständlich und erfahrbar zu artikulieren, insofern kann die theologische Rede von der Sünde in der gegenwärtigen Lebenswelt berechtigt und relevant sein.
Freilich, ein Dilemma bleibt: Ich halte am alten Begriff der Sünde fest. Aber vielleicht genügt es nicht, theologische Begriffe so zu kommunizieren, dass sie in unserer Lebenswelt relevant werden können? Vielleicht muss ein radikaler Abschied von diesen theologischen Begriffen gewagt und es müssen neue Begriffe gesucht werden, die heute verständlich(er) und einleuchtend(er) sind? Vielleicht muss eine Übersetzung gewagt werden in Form eines säkularen Worts, das diese Qualität, also sowohl den Gottesbegriff als auch die Gnadenperspektive impliziert?
Wie anspruchsvoll ein solches Vorhaben ist, mögen zwei Beispiele verdeutlichen. Übersetzt man Sünde durch den säkular verständlichen Begriff der Schuld (Dlugos & Müller, 2012, S. 3), so wird Sünde doch auf ihre ethische Dimension reduziert; der theologische Gehalt der Gnadenperspektive geht im Sinne einer quality speech verloren. Ähnlich verhält es sich mit der Übersetzung des Begriffs der Gottebenbildlichkeit in die Kategorie der Menschenwürde, die nach Gruber (2012, S. 2) gelungen ist. Doch meines Erachtens ist auch hier die theologische Qualität des Gottebenbildlichkeitsbegriffs verloren gegangen: Der Begriff der Menschenwürde sagt eben nichts über die Beziehung zwischen Gott und Mensch aus.
In diesem Sinne bleibt die Suche nach einer quality speech von Gott, die in der Lebenswelt unserer Schüler*innen relevant werden kann, eine Heraus-Forderung.
Literaturverzeichnis
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Prof. Dr. Andrea Dietzsch, Professorin für Religionspädagogik, Evangelische Hochschule Ludwigsburg
In diese Richtung gehen auch die Impulse von Barth (2013) und Altmeyer (2012, S. 58–69).
Ich orientiere mich hier an Marx Rede von der Entfremdung des Menschen, die sich historisch in der Industrialisierung verorten lässt: Der Entfremdung des (arbeitenden) Menschen von sich, von seinen Mitmenschen, von der menschlichen Gattung und von der Natur.
„Gott nämlich, der Urheber der Naturen, nicht der Mängel, schuf den Menschen gut. Dieser aber, aus eigenem Antrieb verdorben und verdammt, zeugte verdorbene und verdammte Nachkommen. Wir alle nämlich waren in jenem einen, wir alle waren damals jener eine, der durch die Frau, die aus ihm geschaffen wurde, bevor es die Sünde gab, zur Sünde abgefallen ist. […] Die Natur, aus der wir hervorgehen sollten, gab es [in Adam] schon dem Samen nach; nachdem sie allerdings aufgrund der Sünde lasterhaft geworden, der Fessel des Todes unterworfen und gerechterweise verdammt worden war, konnte kein von einem Menschen stammender Mensch in einer anderen Lage geboren werden.“ (Augustin, De civitate Dei 13,14 (CchrSL 48, Zeilen 1-5.7-10), übersetzt in: R. Leonhardt, Dogmatik, S. 267.)
Dieser Ansatz ist auch bei Paul Tillich zu finden: Sünde ist für ihn die Selbstentfremdung. In Tillichs Theologie aktualisiert die „Sünde als individueller Akt […] das universale Faktum der Entfremdung“. Paul Tillich, Systematische Theologie, Band II, Evangelisches Verlagswerk, Stuttgart 1958, S. 65.
Interessanterweise impliziert die etymologische Wurzel von Sünde diese Zustandsbeschreibung: Wird Sünde vom altnordischen Verb sundr abgeleitet, so bedeutet es trennen oder aufteilen.
Dieses Angebot muss allerdings als empathische Grundhaltung im Sinne eines offenen, den anderen und seine Meinung tolerierenden Dialogs verstanden werden. Diese Grundhaltung nimmt die Erkenntnisse ernst, die Theo Sundermaier (1996) entfaltet.