1 Anlage des Faches

Der islamische Religionsunterricht in Deutschland hat eine besondere Entwicklung und Anlage erfahren, die stark von den Bedürfnissen und Herausforderungen der muslimischen Gemeinschaft sowie von den rechtlichen und kulturellen Gegebenheiten in Deutschland geprägt ist. Hier ist ein Überblick über die Entwicklung des islamischen Religionsunterrichts in Deutschland:

In den 1970er Jahren begann die Debatte über die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts in Deutschland. Die wachsende Zahl muslimischer Schüler:innen und der Wunsch nach Integration und Anerkennung führten zu Überlegungen, wie der islamische Religionsunterricht in das deutsche Bildungssystem integriert werden könnte.

Ein erster Schritt hin zur Einführung des islamischen Religionsunterrichts war der Schulversuch Islamkunde in deutscher Sprache in Nordrhein-Westfalen im Jahr 1999. In den 2000er Jahren folgten weitere Bundesländer mit der Einführung des islamischen Religionsunterrichts als Modellversuch oder optionales Fach. Baden-Württemberg, Hessen und Niedersachsen waren unter den Vorreitern.

Ab 2010 wurden die Bemühungen verstärkt, den islamischen Religionsunterricht als ordentliches Schulfach anzuerkennen und in den Lehrplan zu integrieren. Nordrhein-Westfalen war eines der ersten Bundesländer, das islamischen Religionsunterricht als ordentliches Schulfach anerkannte.

In elf Bundesländern gibt es an öffentlichen Schulen einen islamischen Religionsunterricht beziehungsweise islamische Religionskunde. Im Schuljahr 2022/23 nehmen bundesweit knapp 70.000 Schüler:innen an über 900 Schulen am islamischen Religionsunterricht teil. Die Nachfrage nach islamischem Religionsunterricht ist damit bei weitem nicht gedeckt: Die Deutsche Islam Konferenz kam bereits 2011 zu dem Ergebnis, dass etwa 580.000 Schüler:innen im Alter von 6 bis 18 Jahren einen islamischen Religionsunterricht besuchen würden. Stand 2023 sind über eine Million Schüler:innen in Deutschland muslimischen Glaubens.

Die Bildungspläne für den islamischen Religionsunterricht in Deutschland variieren je nach Bundesland und Bildungseinrichtung. Im Großen und Ganzen zeigen die Bildungspläne in Aufbau, Zielen und Inhalten viele Gemeinsamkeiten: Alle Bildungspläne folgen einem Spiralcurriculum-Ansatz, der es ermöglicht, Themen in verschiedenen Klassenstufen vertieft zu behandeln. Sie betonen die Bedeutung des islamischen Glaubens für eine sinnerfüllte Lebensgestaltung, die Förderung religiöser Bildung und Identitätsentwicklung, die Ermöglichung einer reflektierten Auseinandersetzung mit dem Islam und anderen Religionen und die Förderung von Dialog- und Sozialkompetenz sowie verantwortungsbewusstem Handeln in einer pluralen Gesellschaft. Die Inhaltsfelder sind in allen Bundesländern ähnlich gestaltet: islamische Glaubenslehre, Propheten, Koran und Sunna, islamische Religionspraxis, Verantwortliches Handeln, andere Religionen und Weltanschauungen. Wie angesichts der Geschichte des islamischen Religionsunterrichts in Deutschland zu erwarten ist, ähnelt der formale Aufbau stark den Bildungsplänen für den evangelischen und katholischen Religionsunterricht.

Auf Empfehlung des Wissenschaftsrats und in Zusammenarbeit mit der Deutschen Islamkonferenz wurden mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung ab 2011 fünf Standorte für islamische Theologie eingerichtet. Nach positiver Evaluierung durch das BMBF wurde beschlossen, die Projekte weiter zu finanzieren, es kamen zwei weitere Standorte hinzu. An sieben Universitäten und vier pädagogischen Hochschulen werden also Lehrkräfte für den islamischen Religionsunterricht ausgebildet. Die meisten Zentren für Islamische Theologie arbeiten mit sogenannten Beiräten zusammen, in denen Vertreter:innen islamischer Religionsgemeinschaften sitzen. Mit ihnen stimmen sie die Besetzung von Lehrstühlen oder die Erstellung von Studien- und Prüfungsordnungen ab.

Die Gestaltung des islamischen Religionsunterrichts in Deutschland ist nicht ohne Herausforderungen. Zu ihnen gehört die Professionalität der Lehrkräfte und ihre Kompetenzen, die Frage nach dem Ansprechpartner für den Staat und damit verbunden die Frage nach der Einflussnahme aus dem Ausland, die Frage danach, wie die verschiedenen muslimischen Strömungen angemessen berücksichtigt werden können, der Umgang mit den Erwartungen der Verbände und der Eltern, die Erwartungen der Politik und Gesellschaft, usw.

2 Pluralität der Lerngruppen

Die aktuellste Hochrechnung der Studie im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz von 2020 besagt, dass „in Deutschland im Jahr 2019 zwischen 5,3 Millionen und 5,6 Millionen muslimische Religionsangehörige (einschließlich alevitischer Religionsangehöriger) mit einem Migrationshintergrund aus […] 23 berücksichtigten muslimisch geprägten Herkunftsländern leben“, das macht 6,4-6,7 Prozent der Gesamtbevölkerung aus (Deutsche Islam Konferenz, 2021, S. 37).

Die Zahlen sagen freilich nichts über die Religiosität der Menschen mit muslimischem Glauben. Religiosität und Religionspraxis von Muslim:innen werden regelmäßig im Rahmen verschiedener Studien erhoben. Dabei werden Muslim:innen insbesondere in quantitativen Studien tendenziell als relativ homogene Gruppe religiöser bzw. hochreligiöser Menschen dargestellt.

Beispielsweise konstatiert die eben besagte Studie, dass christliche Personen ohne Migrationshintergrund deutlich seltener angeben, stark oder eher gläubig zu sein (55 %) als Personen mit Migrationshintergrund aus muslimisch geprägten Ländern insgesamt (82 %) (Deutsche Islam Konferenz, 2021, S. 82). Diese Ergebnisse werden durch weitere quantitative Studien gestützt.

Auch in Jugendstudien wird deutlich, dass Religion eine größere Bedeutung für muslimische Jugendliche zu haben scheint. Die 18. Shell Jugendstudie von 2019 stellt fest, dass für „fast zwei von drei Jugendlichen aus den islamisch geprägten Ländern […] der Gottesglaube eine wichtige Rolle [spielt], während dies für deutsche Jugendliche ohne Migrationshintergrund sowie diejenigen aus den sonstigen OECD-Ländern nur für jeden Vierten zutrifft“ (Shell Jugendstudie, 2019, S. 23). Und: „Deren starker Glaube zeigt sich daran, dass 73% von ihnen im Jahr 2019 den Glauben an Gott als wichtig einstufen, nur 18% bezeichnen ihn als unwichtig“ (Shell Jugendstudie, 2019, S. 153). Die konkrete Religionsausübung wurde mit der Frage „Wie oft betest du?“ erhoben. Bei jungen Muslim:innen beten 60% mindestens einmal pro Woche – Tendenz steigend.

Die Sinus Studie von 2020 legt dar, dass speziell muslimische Jugendliche die Bedeutung von Religion in ihrem Alltag betonen (Sinus Studie, 2020, S. 115). In eine ähnliche Richtung geht die Tübinger Untersuchung Jugend – Glaube – Religion(Schweitzer et al., 2018).

Für alle angesprochen Studien stellt sich jedoch nun dieselbe, alles andere als einfach zu beantwortende Frage: Was verstehen die Befragten unter „stark gläubig“ bzw. „hochreligiös“ und warum ordnen sie sich dort ein?

In Herkunftskulturen, in denen ‚starke‘ Religiosität quasi zum guten Ton gehört, dürfte die Tendenz, sich ungeachtet der eigenen religiösen Lebensführung und Überzeugung in diese Kategorie einzuordnen, deutlich stärker ausfallen als bei Deutschen, bei denen Religiosität keinen hohen kulturellen Stellenwert einnimmt. Die Selbsteinordnung von Muslim:innen findet eine Erklärung in der in vielen Gesprächen und Äußerungen zu hörenden Gleichsetzung der Begriffe ‚religiös‘ und ‚guter Mensch‘ in einem ethisch-moralischen Sinne. Ein religiöser Mensch ist in dieser Perspektive ein guter Mensch.

Die innermuslimische Heterogenität des Glaubens und des nicht-Glaubens oder der Religiosität und der religiösen Distanz wird jedoch interessanterweise weder in der nichtmuslimischen Außenperspektive noch in der muslimischen Binnenperspektive adäquat wahrgenommen. Es wird vielmehr von allen Seiten unterstellt, dass die Mehrzahl der Muslim:innen religiöse bis hochreligiöse Menschen seien. Die genannten Umfragen wie die öffentliche Wahrnehmung suggerieren so eine in Wirklichkeit nicht vorhandene Homogenität unter Muslim:innen.

Sowohl einzelne Studien als auch muslimische Selbstäußerungen brechen dieses Bild jedoch auf und zeigen, dass hinter den eben beschriebenen Homogenitätsdiskursen eine weitgehend unentdeckte Heterogenität verborgen ist (vgl. ausführlich Ulfat, 2020). Gerade diejenigen Menschen, die sich als Muslim:innen bezeichnen, jedoch wenig oder keinen Bezug zum Islam haben, weder zur muslimischen Tradition noch zur Orthopraxie, fallen häufig aus dem Raster der Forschungen heraus und werden so als Muslim:innen so gut wie unsichtbar. An einigen Stellen treten sie dennoch ins Licht der Wahrnehmung:

In qualitativen Studien, in denen die Subjekte selbst zu Wort kommen und ihre individuellen religiösen oder areligiösen Überzeugungen artikulieren können, tritt dieser Typ jedoch häufig und mit großer Deutlichkeit zu Tage (vgl. Ulfat, 2017). Es wird also deutlich, dass es keineswegs zwingend eine Korrelation zwischen der Selbstzuordnung als hochreligiöse:r Muslim:in und der realen Stärke der individuellen Religiosität bzw. Gläubigkeit gibt.

Wenn die Resultate quantitativer Studien mit den Ergebnissen qualitativer Studien kontrastiert werden, wird eine Reihe von Verschiebungen im Verständnis von Religion, Glaube und Religiosität bei jungen Muslim:innen sichtbar. Qualitative Studien können einerseits die von den quantitativen Studien erhobene höhere Religiosität der Muslim:innen differenzieren, andererseits zeigen sie, dass die Rekonstruktions- und Subjektivierungsleistungen, mittels derer sich junge Muslim:innen den Islam und die islamische Tradition (neu)aneignen, als Ausdruck der gesellschaftlichen Herausforderungen in Deutschland und Europa, aber auch als Antworten auf sie verstanden werden können. Eine Individualisierung, Subjektivierung und Privatisierung wird auch bei Jugendlichen muslimischen Glaubens deutlich sichtbar.

3 Ressentiments gegenüber dem Fach Ethik und den christlichen Religionsfächern sowie Erwartungen an eine Zusammenarbeit

Ressentiments gegenüber den christlichen Religionsfächern und dem Fach Ethik seien anhand von zwei Beispielen dargestellt:

  1. Oft beklagen evangelische und katholische Religionslehrkräfte und Religionspädagog:innen, Schüler:innen muslimischen Glaubens seien sehr unkritisch gegenüber dem Koran oder theologischen Fragestellungen wie der Theodizeefrage.

  2. Ein Seminarleiter für den Ethikunterricht hat berichtet, er stoße bei Schüler:innen muslimischen Glaubens oft an seine Grenzen, da sie sich nicht trauen würden, den Koran zu kritisieren. Er referierte das Beispiel der Sure 4:34, in der es um das Schlagen der Frau geht, das er mit seinen Schülerinnen im Ethikunterricht behandelt hatte. Er beklagte, dass die Schülerinnen sich einem kritischen Umgang mit dem Vers verweigert hätten. Sie hätten eine ahistorische und kritiklose Haltung vertreten, die er nicht aufbrechen könne.

Zum ersten Beispiel: Die von evangelischen und katholischen Religionspädagog:innen geäußerte Kritik, muslimische Jugendliche gingen unkritisch mit dem Koran um, illustriert wie eine einseitige Wahrnehmung entstehen kann, die auf fehlenden Einsichten in die vom Christentum abweichenden religiösen Strukturen muslimischer Gläubigkeit basiert.

Sie lässt sich vor allem auf eine Unkenntnis über die tiefgreifende Rolle des Koran im Leben von Muslim:innen zurückführen. Der Koran wird von Gläubigen als unmittelbare Selbstäußerung Gottes angesehen. Im Alltagsleben von Muslim:innen wird der Koran nur selten kritisch rational interpretiert, der Schwerpunkt der Begegnung mit dem Text liegt im Hören der Rezitation. Hierbei ist die Schönheit und die emotionale Kraft des Korantextes von zentraler Bedeutung und die spirituelle Wirkung kommt oft mehr aus der rituellen Rezitation als aus dem analytischen Zugriff auf den Inhalt. Insbesondere im Rahmen des Gebets spielt das hingebungsvolle Hören und Sprechen der Worte Gottes eine zentrale Rolle. Muslim:innen betrachten es als eine Art, sich den göttlichen Botschaften zu öffnen und sie durch sich hindurchfließen zu lassen. Diese religiöse Praxis ist stark von einer tiefsitzenden Spiritualität geprägt und zielt auf eine direkte Verbindung mit dem Göttlichen ab. Daher weist die scheinbare Kritiklosigkeit im Umgang mit dem Koran eher auf die besondere Bedeutung und Funktion des Textes im spirituellen Leben der Muslim:innen hin, die von dem christlichen Zugang zur Bibel stark abweicht. Es ist daher von wesentlicher Bedeutung, diese kulturellen und theologischen Nuancen zu verstehen, um eine angemessene Wertschätzung und Interpretation des Zugangs vieler Muslim:innen zum Koran zu ermöglichen.

In Bezug auf die Theodizeefrage liegt oft eine begrenzte Perspektive vor, die ausschließlich von einem christlichen Verständnis ausgeht. Dabei wird nicht ausreichend berücksichtigt, dass die Frage nach dem Ursprung des Leidens in der Welt in muslimischen Kontexten grundsätzlich anders gestellt und beantwortet wird. Dies resultiert aus den jeweiligen theologischen Grundlagen und Weltanschauungen der verschiedenen Religionen. Hierbei handelt es sich um eine problematische Vereinfachung, die dazu führen kann, dass die reiche theologische Vielfalt und die facettenreichen Perspektiven des Islams bezüglich dieser Frage übersehen werden. Die Wahrnehmung, dass muslimische Jugendliche sich nicht mit der Theodizeefrage auseinandersetzen, könnte auf einer mangelnden Kenntnis dieser alternativen Perspektiven beruhen.

Zum zweiten Beispiel: Die beklagte ahistorische und unkritische Haltung gegenüber bestimmten Versen des Koran, wie zum Beispiel 4:34, wird durch Lehrkräfte, die nicht mit der islamischen Tradition vertraut sind oft sogar noch verstärkt. Es ist von großer Bedeutung zu verstehen, dass koranische Verse genauso wenig isoliert, kontextlos und ohne Berücksichtigung der historischen Gegebenheiten interpretiert werden können, wie biblische Texte. Zudem gibt es in der klassischen und gegenwärtigen Exegese zahlreiche Beispiele für einen sehr kritischen Umgang mit Versen wie 4:34. Eine Ethiklehrkraft müsste sich mit dieser exegetischen Vielfalt befassen, wenn sie das Thema im Unterricht einbringt. Werden diese grundlegenden Aspekte der koranischen Interpretation nicht im Gespräch mit den Schüler:innen nicht angemessen berücksichtigt, kann dies dazu führen, dass eine ahistorische und unkritische Einstellung zementiert wird.

Selbstverständlich ist nicht zu erwarten, dass Lehrkräfte für den Ethikunterricht oder für den evangelischen bzw. katholischen Religionsunterricht eine umfassende Expertise in der islamischen Theologie haben. Dennoch ist es von großer Bedeutung, dass sie sich der Tatsache bewusst sind, dass ihre eigene christliche oder religionswissenschaftliche Perspektive im Gespräch mit muslimischen Schüler:innen unerwartete und nicht selten ausgesprochen kontraproduktive Ergebnisse zeitigen kann, wenn sie nicht von einer reflektierten Fähigkeit zum Perspektivenwechsel unterlegt ist.

4 Exemplarische Akzente

a.) Mündigkeit als Zielhorizont des islamischen Religionsunterrichts

Die Förderung von Mündigkeit ist ein wichtiger Zielhorizont des islamischen Religionsunterrichts. Mündigkeit benennt die Fähigkeit der Schüler:innen, eigenständig zu denken, zu reflektieren, kritisch zu hinterfragen und ihre eigenen Entscheidungen aufgrund eines informierten Verständnisses zu treffen. In einem religionspädagogischen Kontext bedeutet Mündigkeit, dass Schülerinnen und Schüler in der Lage sind, ihre religiösen Überzeugungen und Praktiken bewusst zu wählen und zu gestalten, anstatt sie passiv zu übernehmen.

Nicht nur im Koran, sondern auch in der der prophetischen Tradition finden wir viele Aussagen, die die besondere Bedeutung des Lernens, der Wissensaneignung und des rationalen Begreifens und Reflektierens hervorheben. Dabei wird das Lernen und das Streben nach Wissen als eine „lebenslange, geografische Grenzen überschreitende Aktivität“ angesehen, die eine Pflicht für alle Muslim:innen darstellt und zum Wohle der Gemeinschaft ist (Günther, 2016, S. 53). Das zentrale Ziel ist dabei ein spirituelles, nämlich die Erkenntnis Gottes, die Heimkehr zu ihm sowie das daraus resultierende Glück und die Zufriedenheit in der Obhut Gottes (89:27-30).

Aus einer muslimisch anthropologischen Perspektive verfügt der Mensch über eine „ursprüngliche Disposition“ bzw. „natürliche Veranlagung“, der fiṭra. „Dieser Begriff [] erfasst nach Auffassung muslimischer Bildungstheoretiker die [] naturgegebene Disposition des Menschen, Gott zu suchen und zu finden; der Mensch wird als bedürftig nach Religion und zugleich als fähig zur Religion angesehen“ (Behr, 2014a, S. 17). Er ist aber auch in der Lage, sich willentlich für oder gegen das Angebot Gottes zu entscheiden (2:256).

Das muslimische Menschenbild geht also von einer naturgegebenen Disposition des Menschen zur Religion aus, gleichzeitig jedoch auch davon, dass der Mensch der Anleitung, Anregung, Bildung und Erziehung durch sein soziales Umfeld bedarf, um sein natürliches Potenzial zu entwickeln.

Was bedeutet nun ein Begriff wie fiṭra religionspädagogisch gewendet? Zieht man empirische Erkenntnisse heran, wie meine empirischen Ergebnisse zur Gottesbeziehung muslimischer Kinder, so wäre das Kernverständnis von fiṭra die Fähigkeit und Bereitschaft des Menschen, Religion auszuprobieren und sich dabei seinen Weg zu suchen (Ulfat, 2019).

So kann Bildung aus einer muslimisch-anthropologischen Perspektive als Förderung und Anregung der Selbsterkenntnis und Selbstentwicklung der intellektuellen, sozialen und spirituellen Fähigkeiten und Potenziale des Menschen angesehen werden. Sie zielt auf „die Fähigkeit des jungen Menschen, mit dem Heranwachsen mehr und mehr die Führung seiner selbst zu bestimmen und zu verantworten – auch in religiöser Hinsicht“ (Behr, 2014b, S. 515).

Diese anthropologische Sichtweise verdeutlicht aber auch, dass Bildung als eine lebenslange Entwicklungsaufgabe angesehen wird, die in „Auseinandersetzung mit dem Diesseits und in persönlicher Bezogenheit auf das Jenseits“ erfolgt. Das entspricht einem dynamischen und die kontinuierliche Entwicklung des Menschen berücksichtigenden Verständnis von Bildung, in der der Mensch zu eigenständigen Positionen und Entscheidungen und somit zur Mündigkeit finden kann, und das sein Leben lang (vgl. Behr, 2014b, S. 499–500).

Gleichzeitig ist Bildung aus dieser anthropologischen Perspektive im Islam „primär als Selbst-Bildung angelegt“ (Behr, 2014b, S. 499). Die Aufgabe der Religionspädagogik ist, die Heranwachsenden dabei zu begleiten und sie zu unterstützen, ihre Potenziale zu entwickeln und ihre Bereitschaft anzuregen, die Zügel selbst in die Hand zu nehmen und die eigene „persönliche Gangart“ in Bezug auf Fragen des Glaubens und der religiösen Lebensweise ein Leben lang zu suchen (Behr, 2014a, S. 29).

b.) Balance von Positionalität und Zurückhaltung

In Artikel 7 III des Grundgesetzes steht: „Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt. Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen“.

Dieser Grundsatz impliziert eine Verpflichtung der Religionslehrkräfte auf die „Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften“. Bedingung für die Erteilung des Religionsunterrichts ist neben der staatlichen Lehrbefähigung somit auch eine Bevollmächtigung durch die betreffende Kirche bzw. Religionsgemeinschaft.

Es sind die hier formulierten Grundsätze und Vorbedingungen für die Befähigung einer Lehrkraft, bekenntnisgebundenen Religionsunterricht zu erteilen, die allzu oft dem Missverständnis Vorschub leisten, die Aufgabe einer Religionslehrkraft beinhalte automatisch eine Art Positionalität, die mit einer neutralen, objektiven und pluralistischen Wissensvermittlung nicht vereinbar wäre.

Die Besonderheit des bekenntnisbezogenen Religionsunterrichts besteht darin, dass hier glaubensbezogene Auseinandersetzungen möglich sind und auch die Religionslehrkraft persönlich Position beziehen darf. Ziel ist dabei nicht, die Schüler:innen von etwas zu überzeugen – die dialogische Auseinandersetzung soll vielmehr dazu beitragen, dass Kinder und Jugendliche eigene Positionen ausbilden und entscheidungsfähig werden. Für diejenigen, die sich mit einer religiösen Tradition identifizieren, kann der Unterricht durchaus zu einer informierten Verstärkung dieser Identifikation führen. Für andere kann er im Extremfall eine kritische Distanzierung und Abgrenzung weiter bestätigen. Religiöse Bildung bedeutet, dass Identifikations- und Ablehnungsverhältnisse durch den Unterricht reflexiv auf die Probe gestellt werden (Schweitzer & Ulfat, 2021, S. 137). Die Lehrkräfte sind aufgefordert, professionell kompetent und pädagogisch verantwortet zwischen der eigenen religiösen Position als einer von vielen möglichen und den Positionen der Schüler:innen zu differenzieren und dies auch sprachlich zu markieren.

Die Lehrkräfte des bekenntnisgebundenen Religionsunterrichts stehen also vor der nur scheinbar paradoxen Aufgabe, einerseits neutral die Vielfalt religiöser Positionen darzustellen und einen offenen Diskussionsraum für die Schüler:innen bereitzuhalten, gleichzeitig aber auf Anfrage ihre subjektive Positionalität als subjektive Positionalität offen zu legen. Dass Lehrkräften von den Schüler:innen solche subjektiven Stellungnahmen abgefordert werden, ist allerdings kein Spezifikum des bekenntnisgebundenen Religionsunterrichts. Jede Person, die jemals in einem Unterrichtskontext kontroverse Themen präsentiert hat, kennt die Erfahrung, dass die Schüler:innen ein dauerhaftes sich der Positionierung Entziehen nicht akzeptieren. Es ist für sie nicht nur von großer Bedeutung, dass die Lehrkraft sich auch bezüglich ihrer persönlichen Überzeugungen abfragbar macht, sie sind auch in der Lage, bei entsprechender sprachlicher Markierung diese Position als subjektive Stellungnahme der Lehrkraft einzuordnen.

Freilich kann nicht jede Lehrkraft mit dieser unvermeidlichen Anfrage der Schüler:innen angemessen umgehen. In einem Projekt zur religionspädagogischen Professionsforschung wird der Frage nachgegangen, „wie Religionslehrkräfte mit Positionsbildung zu letzt-verbindlichen Fragen für sich persönlich umgehen, wie sie dies als eine Position im Unterricht verstehen und wo sie sie in der Praxis umsetzen“ (Heimbrock & Kerntke, 2017, S. 31f.). Die Ergebnisse der Studie machen die Dringlichkeit der professionellen Kompetenz einer reflektiert verantworteten Positionalität und die Möglichkeit ihres Erwerbs im Studium deutlich.

Die Religionslehrkraft – und nicht nur sie – ist also immer herausgefordert, ihr eigenes Verhältnis und ihre eigene Position zur Thematik zu bestimmen, d.h. zu klären, was sie selbst glaubt. Aus einer islamisch-religionspädagogischen Perspektive ist zu unterstreichen, dass der Glaube einer Lehrkraft sich im Unterricht nie anders äußern darf, als eine solche reflektierte, bewusst subjektive Positionalität.

Eine reflektierte, bewusst subjektive Positionalität sollte sich also

  • der Individualität des eigenen Glaubens bewusst sein, da er auf subjektiven Erfahrungen basiert.

  • der sozialen, kulturellen und biographischen Bedingtheit des eigenen Glaubens bewusst sein.

  • der historischen Bedingtheit und Kontextualität des eigenen Verständnisses religiöser Quellen bewusst sein.

  • der historischen Ereignisse und Entwicklungen bewusst sein, die die religiöse Gegenwartssituation des eigenen Glaubens bestimmen.

  • der Vielzahl von möglichen Verständnissen der göttlichen Botschaft bewusst sein, von denen keine Anspruch auf Überzeitlichkeit, Unhinterfragbarkeit oder Eindeutigkeit erheben kann.

  • konstruktiv mit religiösen Einstellungen auseinandersetzen können, die den eigenen Überzeugungen widersprechen.

Reflektierte Positionalität ist also nichts, was einer Lehrkraft quasi in den Schoß fällt. Die Fähigkeit, sich seiner eigenen Positionalität bewusst zu werden und sie als Positionalität im Gespräch und in der Unterrichtssituation zu präsentieren, ohne zu indoktrinieren, ist eine Kompetenz, die in einem mühevollen Prozess erworben werden muss, die mit den Worten der Autoren der oben genannten Studie gesprochen „einer sekundären religiösen Sozialisation“ gleichkommt (Heimbrock & Kerntke, 2017, S. 71).

5 Fazit

Die aktuelle Zusammensetzung der Schülerschaft in deutschen Schulen spiegelt eine pluralistische Gesellschaft wider, in der der Religions- sowie Ethikunterricht auf eine komplexe Schülerschaft treffen. Dies stellt hohe Anforderungen an die Lehrkräfte. Die Fähigkeit, sich dieser komplexen und dynamischen Bildungslandschaft anzupassen, verlangt von den Lehrkräften ein kontinuierliches professionelles und persönliches Wachstum. Eine fundierte Ausbildung und stetige Fortbildung sind unerlässlich, um den Anforderungen einer modernen, pluralistischen Gesellschaft gerecht zu werden und allen Schüler:innen eine umfassende und respektvolle Bildung zu ermöglichen.

Der vorliegende Beitrag sowie die Beiträge der Kollegen Meyer und Nagel machen deutlich, dass die Ausbildung der Lehrkräfte für den Religions- und Ethikunterricht angesichts der wachsenden Pluralität der Schülerschaft mit Blick auf interkulturelle, interreligiöse und interweltanschauliche Kompetenzen überarbeitet werden sollte.

Ein möglicher Ansatz wäre, die Ausbildungswege für Lehrkräfte für den Religionsunterricht und den Ethik-/Philosophieunterrichts verzahnt und interdisziplinär zu gestalten, indem Lehrveranstaltungen konzipiert werden, die Studierenden aus verschiedenen Fachrichtungen und Lehrämtern gemeinsam angeboten werden. In solchen Veranstaltungen könnten zukünftige Lehrkräfte lernen, mit kultureller, religiöser und weltanschaulicher Vielfalt umzugehen und Unterrichtsinhalte entsprechend zu adaptieren und zu konzipieren. Ergänzend dazu sollten die angehenden Lehrkräfte gerade in solchen verzahnten Lehrveranstaltungen auch die Möglichkeit erhalten, eine reflektierte, bewusst subjektive Positionalität zu erwerben.

Literaturverzeichnis

Behr, H. H. (2014a). Du und Ich. Zur anthropologischen Signatur des Korans. In H. H. Behr & F. Ulfat (Hrsg.), Zwischen Himmel und Erde: Bildungsphilosophische Verhältnisbestimmungen von Heiligem Text und Geist (S. 1131). Münster: Waxmann.

Behr, H. H. (2014b). Menschenbilder im Islam. In M. Rohe (Hrsg.), Handbuch Christentum und Islam in Deutschland. Grundlagen, Erfahrungen und Perspektiven des Zusammenlebens: Bd. Band 1 (S. 489530). Freiburg: Herder.

Deutsche Islam Konferenz. (2021). Muslimisches Leben in Deutschland 2020. Studie im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz (Forschungsbericht 38). Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.

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Heimbrock, H.-G., & Kerntke, F. (2017). Evangelisches Profil im Widerspruch. Gelebte Konfessionalität von Religionslehrern in der EKHN. Eine empirische Untersuchung. In H.-G. Heimbrock (Hrsg.), Taking Position. Empirical studies and theoretical reflections on Religious Education and worldview (Bd. 33, S. 2380). Münster: Waxmann.

Schweitzer, F., & Ulfat, F. (2021). Dialogisch kooperativ elementarisiert. Interreligiöse Einführung in die Religionsdidaktik aus christlicher und islamischer Sicht. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Schweitzer, F., Wissner, G., Bohner, A., Nowack, R., Gronover, M., & Boschki, R. (Hrsg.). (2018). Jugend - Glaube - Religion: Eine Repräsentativstudie zu Jugendlichen im Religions- und Ethikunterricht. Münster: Waxmann.

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Sinus Studie. (2020). Wie ticken Jugendliche? Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland (Bd. 10531). Bundeszentrale für Politische Bildung.

Ulfat, F. (2017). Die Selbstrelationierung muslimischer Kinder zu Gott: Eine empirische Studie über die Gottesbeziehungen muslimischer Kinder als reflexiver Beitrag zur Didaktik des Islamischen Religionsunterrichts. Paderborn: Schöningh.

Ulfat, F. (2019). Theologisch-anthropologische Grundlagen religiöser Bildung aus islamisch-religionspädagogischer Perspektive. Theologische Quartalsschrift. Bildung aus theologischer Perspektive, 2(199), S.149160. https://doi.org/DOI 10.14623/thq.2019.2.

Ulfat, F. (2020). Die Entdeckung der Heterogenität muslimischer Religiosität. In B. Grümme, T. Schlag, & N. Ricken (Hrsg.), Heterogenität. Eine Herausforderung für Religionspädagogik und Erziehungswissenschaft (S. 165178). Stuttgart: Kohlhammer

 

Dr. Fahimah Ulfat, Professorin für Islamische Religionspädagogik, Universität Tübingen