Einleitung

Wo und wie Kinder Religion in ihrer Lebens- und Gedankenwelt begegnen, ist relativ ungeklärt, für das Angebot religionsbezogener Bildungsprozesse und die orientierende Begleitung von Kindern jedoch zentral. Die internationale Interviewstudie zu „Kinder und Religion“ [1] setzt an diesen offenen Fragen an, um Einblicke in das Verhältnis von Kindern zu Religion in ihrer Lebens- und Gedankenwelt zu geben. Die aktuelle Lebenswelt der Kinder kann als in religiöser Hinsicht plural beschrieben werden. Unbekannt ist, ob und wie Kinder die religiöse Pluralität hinsichtlich des damit verbundenen Wahrheitsanspruches gedanklich bearbeiten. Eine der Interviewfragen aus der „Kinder und Religion“-Studie bezieht sich auf die sogenannte Wahrheitsfrage. Im Zentrum des vorliegenden Beitrags stehen die Positionen der Kinder zu dieser Frage und deren Interpretation im Rahmen der Gesamtstudie.

Zunächst wird dazu der theoretische Hintergrund, die Fragestellung und Methodik der Kinderstudie vorgestellt, bevor die Frage nach der Wahrheit religionspädagogisch kontextualisiert wird. Anschließend werden die empirischen Befunde zur Wahrheitsfrage vorgestellt, interpretiert und in den Gesamtkontext der Studie eingeordnet.

1 Theoretischer und empirischer Hintergrund der Studie „Kinder und Religion“

Die Lebenslagen von Kindern (und Jugendlichen) sind gut erforscht (Bertram, 2017; Bertram, 2021; BMFSFJ, 2020), nicht zuletzt auch während der Corona-Pandemie (Langmeyer, Guglhör-Rudan, Naab, Urlen & Winklhofer, 2020). Um Aussagen zu den Bedingungen des Aufwachsens von Kindern treffen zu können, werden objektiv messbare Faktoren zusammengetragen, wie z.B. Kindersterblichkeit, Dauer und Art der Mediennutzung oder Erwerbsquote und Einkommen der Eltern, um daraus u.a. politische Empfehlungen abzuleiten. In Bezug auf religiöse Bildung lassen sich Studien, wie z.B. die Evangelische Bildungsberichterstattung (Comenius-Institut), dieser Kategorie zuordnen. Jene Art der Sozial- und Bildungsberichtserstattung ist wichtig, um auf breiter empirischer Basis politische Handlungsmöglichkeiten identifizieren zu können. Gleichzeitig fällt auf, dass Religion als „Faktor“ in der Kindheit und für die Kinder in den Studien zur Lebenslage sowie in der gegenwärtigen Kindheitsforschung nicht erforscht wird (z.B. kein Eintrag im sonst sehr ausdifferenzierten Handbuch Braches-Chyrek, Röhner, Sünker & Hopf, 2022; Krüger, Grunert & Ludwig, 2020; Heinzel 2012). Diese Forschungslücke verwundert, da religiöse Bildung allein schon über die Institutionen – z.B. über die Kindergärten in konfessioneller Trägerschaft oder über den Religionsunterricht an den Schulen – quantitativ im Leben von Kindern wie Jugendlichen und im Alltag von Familien präsent ist, sich das Familienleben sowie das Schuljahr nicht zuletzt über das Kirchenjahr (Weihnachten, Ostern, Pfingsten) bzw. insgesamt religiöse Feste strukturiert, Religion auch inhaltlich in der Erziehung präsent sein kann sowie als ein Identitäts- und/oder Differenzmarker in kindlichen Lebenswelten möglicherweise eine Rolle spielt.

Diesem Befund steht eine religionspädagogische Perspektive gegenüber, die das „Recht wie das Bedürfnis des Kindes auf und nach Religion“ betont (Schweitzer, 2013; Langenhorst, 2014) und wo davon ausgegangen wird, dass die Kindheit die zentrale Lebensphase für religionsbezogene Sozialisations- und Entwicklungsprozesse ist (Büttner & Dieterich, 2016; Fraas 1993; Grom 2000). Vor allem im Zusammenhang mit dem Paradigma der Kindertheologie ist ein starker Forschungsbezug zu den theologischen Vorstellungen der Kinder zu konstatieren und sind zahlreiche empirische Studien und Qualifikationsarbeiten zu spezifischen theologischen Themen aus der Perspektive von Kindern entstanden (z. B. Albrecht, 2019; Loose, 2019; Benz, 2015; Freudenberger-Lötz, 2007; Zimmermann, 2012; Pfeil, 2012). Religiöse und weltanschauliche Heterogenität ist ebenfalls Gegenstand religionspädagogischer Forschungsarbeiten; muslimische und konfessionslose Kinder sind zu ihren Gottesvorstellungen befragt worden (Szagun 2018, 2006; Maull, 2017; Ulfat, 2017; Dannenfeldt, 2009; Fiedler, 2010) und der Umgang von Kindern mit religiös-weltanschaulicher Pluralität im Elementarbereich (Knoblauch, 2019; Stockinger, 2017; Edelbrock, Schweitzer & Biesinger, 2010) wurde untersucht. Ob und welche Rolle Religion für Schulkinder im Alter von neun bis elf Jahren spielt, wurde im englischsprachigen Kontext zuletzt im fJahr 2005 qualitativ erforscht (Smith 2005), im deutschsprachigen Kontext zuletzt 1998 (Orth & Hanisch, 1998; Arnold, Orth & Hanisch, 1997); an die Grundidee der zuletzt genannten Studie mit dem Titel „Was Kinder glauben“ knüpft unsere Studie an und führt darüber hinaus.

Welche Bedeutung Religion für Kinder hat, wie Religion in ihrer Lebenswelt vorkommt, woher sie ihre religiösen Vorstellungen gewinnen und ob sie religiöse Praxen pflegen, ist noch nicht weiter erforscht. Das ist auch vor dem Hintergrund sich stark verändernder religionsbezogener Bedingungen des Aufwachsens bemerkenswert.

2 Fragestellung und Methode der Studie „Kinder und Religion“

Das hier vorzustellende Forschungsprojekt setzt an diesen Leerstellen an: Interesseleitend ist hierbei die Frage, welche Rolle Religion im Leben von Kindern spielt, wie sie mit Religion in Kontakt kommen und wie sie diese Impulse verarbeiten. Mit diesem Erkenntnisinteresse sind folgende drei Forschungsfragen verbunden: 

(1) Von welchen Begegnungen mit Religion, Glauben und weltanschaulicher Pluralität in den sie umgebenden Sozialisationskontexten Familie, Schule, Medien, Religionsgemeinschaften, Freizeitbereich erzählen Kinder? 

(2) Wie nehmen die Kinder im Gespräch diese Impulse aus ihrer Lebenswelt auf und welche Bedeutung schreiben sie ihnen zu? 

(3) Welche religionsbezogenen oder religiösen Vorstellungen, Erfahrungen und Handlungen äußern die Kinder und inwiefern lassen sie sich davon warum leiten?

Da der Schwerpunkt der Studie auf der Art und Weise liegt, wie Religion von Kindern im Alter zwischen zehn und zwölf Jahren wahrgenommen und interpretiert wird, haben wir uns für ein qualitatives Forschungsdesign entschieden. Der qualitative Ansatz ist geeignet, weil er den Befragten die Möglichkeit gibt, ihre Sichtweisen und subjektiven Lebenserfahrungen zu artikulieren, Fragen zu stellen und die Gesprächsimpulse in ihren Worten zu nutzen, um über Religion in ihrer Lebenswelt zu kommunizieren (Kuckartz, 2018).

Die Datenerhebung erfolgte durch semi-strukturierte Interviews, wobei wir über unterschiedliche Aspekte wie Lebenswelt, Sinnfragen, Gottesvorstellungen, Sozialisationskontexte und Personen sowie Pluralität ins Gespräch kommen wollten. Mit Hilfe des semi-strukturierten Interviews werden einerseits aufgrund des gemeinsamen inhaltlichen Grundkonzepts die Möglichkeiten des Vergleichs der Interviewergebnisse über Religionen und Länder hinweg gebündelt. Andererseits haben wir – auch mit Hilfe von Erzählimpulsen – versucht, die Interviews so frei wie möglich zu führen, damit sich die Kinder nicht gezwungen fühlen, Antworten auf Fragen zu geben, die sie nicht verstehen, oder umgekehrt, dass sie sich frei fühlen, über Dinge zu sprechen, die sie interessieren.

Um ein hohes Maß an Variation zu erreichen, umfasst die Stichprobe Befragte mit möglichst unterschiedlichem Hintergrund in den drei deutschsprachigen Ländern Deutschland (Ost/West), Österreich sowie der Schweiz. Mit den drei Ländern wird sich zum Teil an das länderübergreifende Konzept der Studien von Arnold et al. (1997) bzw. Orth und Hanisch (1998) angelehnt und zudem unterschiedliche religionssoziologische Kontexte berücksichtigt, sodass wir uns damit eine Kontext- und Varianzmaximierung erhoffen. Für die Studie sind zudem die unterschiedlichen Ausformungen des Religionsunterrichts in den genannten Ländern relevant, sodass dessen Rolle im Sozialisationsprozess reflektiert werden kann.

In jedem Land wurden Kinder aus verschiedenen Konfessionen bzw. Religionen (katholisch, evangelisch, orthodox, muslimisch, jüdisch, Bahai) sowie Kinder mit säkularem Hintergrund ausgewählt. Außerdem haben wir auf eine ausgewogene Mischung von städtischen und ländlichen Gebieten, Geschlecht und sozialen Milieus geachtet. Die Stichprobe umfasst insgesamt 89 Interviews, 62 aus Deutschland, 15 aus der Schweiz und 12 aus Österreich. Alle Interviews wurden transkribiert und anschließend anhand eines Kodierleitfadens in MaxQDA kodiert. Aufgrund dieser Menge an Interviewdaten haben wir uns entschieden, die Untersuchung mit Hilfe der qualitativen Inhaltsanalyse auszuwerten (Mayring & Fenzl, 2019). Von den Techniken der qualitativen Inhaltsanalyse bietet sich das zusammenfassende Verfahren an, um induktive Kategorien zu bilden (Mayring, 2010). Mit Hilfe dieses Verfahrens kann das Material auf der einen Seite reduziert, auf der anderen Seite gegenstandsnah abgebildet werden, sodass die Kategorien einer Analyse und Interpretation zugeführt werden können (Mayring, 2010, S. 49f.).

Im Folgenden wird der Bereich der religiös-weltanschaulichen Pluralität aus der Studie vertieft und dazu zunächst theoretisch eingebettet.

3 Exemplarische Auswahl aus der Interviewstudie: Die Wahrheitsfrage

Die Auseinandersetzung mit der Wahrheitsfrage zielt auf die dritte Forschungsfrage der Studie, also darauf, herauszufinden, welche religionsbezogenen oder religiösen Vorstellungen, Erfahrungen und Handlungen die Kinder äußern und inwiefern sie sich davon leiten lassen und warum. Nicht ausgeschlossen ist, dass auch die erste Fragestellung dann berührt ist, wenn die Kinder von Situationen berichten, wo ihnen diese Frage bereits begegnet ist.

Die hier ausgewählte Frage aus dem Interviewleitfaden zielt auf den Bereich religiös-weltanschaulicher Pluralität, mit der Kinder das Verhältnis unterschiedlicher Wahrheitsansprüche verschiedener Religionen, und damit eine zentrale Herausforderung interreligiös-kultureller Verständigung, in den Blick nehmen.

Diese Frage folgt auf einen pluralitätsbezogenen Erzählimpuls, der den Kindern zunächst die Möglichkeit gibt, über ihre Erfahrungen und Gedanken gegenüber Menschen mit unterschiedlichen religiös-weltanschaulichen Verortungen zu sprechen. Interesseleitend war hierbei, herauszufinden, ob und wie die Kinder die Vielfalt von Religionen wahrnehmen. Eine der sich daran anschließenden Fragen lautete dann schließlich, ob alle Religionen gleich recht haben. Leitend war hier die Überlegung, ob die Kinder Widersprüche zwischen den Glaubensüberzeugungen unterschiedlicher Religionen wahrnehmen und – falls sie diese wahrnehmen – wie sie sie deuten bzw. sich dazu verhalten.

Die Auseinandersetzung mit der sogenannten Wahrheitsfrage berührt zentrale Ziele religiöser Bildung, insofern eben diese Auseinandersetzung gefördert und eingeübt werden soll, auch weil „dem Bezug auf Gott die Wahrheitsfrage allen Werten voraus“ geht (Heimbrock, 2016, in Bezug auf Kirchenamt der EKD, 2010, S. 50). Der konfessionsgebundene Religionsunterricht soll hierbei einen Beitrag zur Pluralitätsfähigkeit leisten wie den „Umgang mit einem perspektivischen Wahrheitsbegriff“ begünstigen, „weil unter den Bedingungen der Spätmoderne Wahrheit nur noch perspektivisch Gestalt finden und bezeugt werden kann“ (Schröder & Woppowa, 2021, S. 420). Im religionsdidaktischen Kontext werden für den Umgang mit sich ausschließenden oder gegenüberstehenden Deutungen, Perspektiven und Wahrheiten unterschiedliche Konzepte eingespielt, so zum Beispiel das Konzept des komplementären Denkens (Schröder & Woppowa, 2021, S. 421), oder aktueller: das Konzept vom konstruktiven Ambiguitätsmanagement (Meyer, 2019).

Die Auseinandersetzung mit der Wahrheitsfrage habe allerdings, so Heimbrock, „unter Berücksichtigung der sich bei Kindern entwickelnden Zugänge zur Wahrheit altersgemäß“, nämlich „nicht abstrakt, sondern in konkreten Lebensbezügen“ und unter Aufnahme der Fragen der Kinder zu erfolgen (Heimbrock, 2016, S. 8). In ähnlicher Weise geht Willems davon aus, dass vor dem formal-operatorischen Denkniveau noch nicht der Modellcharakter von Weltsichten erkannt und das Verhältnis unterschiedlicher Wahrheitsansprüche auch nicht reflektiert werden kann (Willems, 2011, S. 188); so würden Lernende annehmen, dass den anderen Personen Informationen fehlen, diese etwas falsch verstanden haben oder dass man in religiösen Fragen unterschiedlicher Meinung sein kann und in der Tendenz eher fundamentalistisch oder relativistisch argumentieren. Eine Forderung (Heimbrock, 2016) und Annahme (Willems, 2011), die jeweils empirisch noch nicht verifiziert ist, denn zu der Frage, ob und wie Kinder die potentielle Spannung zwischen unterschiedlichen Glaubenswahrheiten wahrnehmen und sich ggf. dazu positionieren, liegen u.W. keine empirischen Befunde vor (so auch Schweitzer & Ulfat, 2022, S. 94). Mögliche Gründe für dieses Desiderat könnten speziell bei dieser Fragestellung auch Bedenken hinsichtlich der Alters- und Entwicklungsgemäßheit oder auch die befürchtete Lebensferne einer solchen Fragestellung für Kinder sein.

Bisherige Erhebungen zur Sicht der Lernenden beziehen sich demgegenüber vor allem auf die Wahrnehmung von Differenz (Stockinger, 2017; Edelbrock et al., 2010; Hoffmann, 2009; Büttner & Dieterich, 2016; Unser, 2022) und auf die Effekte interreligiöser Lernangebote (Unser, 2022). Übereinstimmend lässt sich erkennen, dass Kinder bereits ab dem Kindergartenalter (Stockinger, 2017) Differenzen wahrnehmen; eine Deutung von Differenz als religiöse Differenz erfolgt ab dem Elementarbereich, wenn die Kinder entsprechendes Vorwissen mitbringen (Unser, 2022 nach Büttner & Dieterich, 2016, S. 208–210); ohne entsprechendes Vorwissen deuten sie diese eher individuell und/oder sozial (ebd.).

In einigen quantitativ angelegten Regionalstudien taucht die Frage nach der Einstellung der Schüler*innen zu wahrheitsbezogenen Aspekten auf, meist jedoch für Lernende im Sekundarstufenalter (vgl. Hanisch & Granzow, 2012; Wermke, 2006; Domsgen & Lütze, 2010; Schwarz, 2019; Domsgen, 2021). Im Ergebnis kann hierzu festgehalten werden, dass eine große Mehrheit der Schüler*innen einer Aussage, wie z.B. Jeder soll das glauben, was er für richtig hält zustimmt (expl. Schwarz, 2019, S. 406), das gilt auch für Grundschüler*innen (91,7% stimmen mindestens eher zu; bei den Neunt- bzw. Zehntklässlern sind es 93%; Schwarz, vorauss. 2023). Geringer ist demgegenüber die Zustimmung zu der Aussage, dass alle Religionen gleich wahr seien (Bayerische Jugendliche in Schwarz, 2019, S. 390: mindestens eher richtig: 53,6% (Viererskalierung); Rheinland-Pfälzische Jugendliche in Schwarz, vorauss. 2023: 61%, mindestens eher richtig (Fünferskalierung)).

Die Interpretationsangebote für die hohe Zustimmung des ersten Befunds sind vielfältig: große Toleranz gegenüber Andersgläubigen, diskursive Beliebigkeit, eine hochwirksame wie verinnerlichte Toleranznorm, ein entwicklungspsychologisch begründeter Ausdruck von religiöser Autonomie (zit. n. Schwarz, 2019, S. 406) oder das „Problem“ einer „Basisdoktrin“, wonach Pluralität in religiösen Fragen normal und legitim sei (Englert & Eck, 2021, S. 204). Befunde aus der Religionsunterrichtsforschung lassen außerdem die Vermutung zu, dass kontroverse Fragen (wozu die Wahrheitsfrage zu zählen ist) von Seiten der Lehrkräfte tendenziell eher gemieden werden könnten (Englert, Hennecke & Kämmerling, 2014; Englert & Eck, 2021; Reese-Schnitker, Bertram & Fröhle, 2022); eine Vermutung ist, dass diese Tendenz für die unteren Klassenstufen und damit auch auf das Alter der hier befragten Schüler*innen besonders zutrifft.

Für die Diskussion unserer Ergebnisse kann auch das eher psychologisch-kommunikationstheoretisch fundierte Entwicklungsmodell interkultureller Sensibilität nach Milton J. Bennett (Developmental Model of Intercultural Sensitivity) hilfreich sein, mit dem die verschiedenen Weisen, wie Menschen auf kulturelle Differenzen reagieren, kategorisiert werden können. Die Entwicklungslinie geht von einer ethnozentrischen (Denial, Defense, Minimization) hin zu einer differenzierten ethnorelativistischen Sichtweise (Acceptance, Adaption, Integration) (Bennett, 2017, S. 2). Aus religionstheologischer Sicht wird hinsichtlich der Wahrnehmung des Verhältnisses von unterschiedlichen Wahrheitsansprüchen zueinander kategorisierend zwischen dem exklusivistischen, inklusivistischen und perspektivischen Modell unterschieden (Heimbrock, 2016).

Vor dem Hintergrund der knappen theoretisch-empirischen Kontextualisierung unserer Frage ergeben sich folgende Vorannahmen bzw. offene Fragen:

Können die Kinder mit der abstrakten theologisch-religionspädagogisch motivierten und für den interreligiösen Dialog als relevant postulierten Wahrheitsfrage etwas anfangen? Bleiben die Kinder bei der Beantwortung auf der abstrakten Ebene oder beziehen sie sich dabei auf ihre Lebenswelt, auf Konkretes? Ist es eine Frage, die für sie von Bedeutung ist und/oder die in ihrem Lebensumfeld eine Rolle spielt? Zeigen sich in den Antworten der Kinder ethnozentristische oder eher ethnorelative, exklusivistische, inklusivistische oder perspektivische Verhältnisbestimmungen oder andere? Legt sich eine der religionsdidaktischen Deutungen (Toleranznorm, Beliebigkeit, ...etc.) aufgrund der Antworten der Kinder nahe?

4 Darstellung der empirischen Befunde

Die Antworten der Kinder auf die Frage: „Haben alle Religionen gleich recht?“ lassen sich in drei Oberkategorien einteilen, die je nach Begründungsansatz durch Unterkategorien ausdifferenziert werden: Einige der Kinder denken, dass alle Religionen gleich recht haben, andere verneinen dies, einige möchten sich in dieser Frage nicht festlegen. Im Folgenden werden die Begründungen der Kinder in den Blick genommen.

4.1 Alle Religionen haben gleich recht

Der Großteil der befragten Kinder gibt an, dass alle Religionen gleich recht haben. In ihren Begründungen verweisen die Kinder auf die Glaubens- bzw. Meinungsfreiheit (4.1.1), auf die Unentscheidbarkeit der Frage (4.1.2), auf Gott (4.1.3) oder darauf, dass die Menschen gleiche Rechte haben (4.1.4).

4.1.1 Begründung durch Glaubens- bzw. Meinungsfreiheit

Die häufigste Begründung verweist auf die Meinungsfreiheit von Personen. Jede Person kann für sich entscheiden, woran sie glaubt, und Personen haben in ihrem jeweiligen Glauben für sich recht. Dies wird beispielsweise in der Aussage Roberts, eines Jungen aus Ostdeutschland, der keiner Konfession angehört, deutlich: „Weil jeder an alles glauben kann, was er will. Es gibt Menschen, die glauben an das Jüdische ..., an das Judentum, an das Christentum oder an gar nichts.“

Was wahr ist, liegt im Glauben und in der Entscheidung des/der Einzelnen, die Wahrheit ist eine subjektive Wahrheit. Dies kommt in folgender Aussage eines evangelischen Kindes aus Baden-Württemberg deutlich zur Geltung: „Also wenn man jetzt zum Beispiel jemand sagt, äh, es gibt nur den, aber andere glauben an den, dann stimmt das nicht, weil für den ist eben der und für den eben nur der.“ Auch in folgender Passage eines katholischen Kindes aus Baden-Württemberg tritt dieses gängige Argumentationsmuster auf: „Weil, ähm, jeder nimmt Gott so wie er ist, wie ich schon gesagt habe, ähm, ich kann jetzt nicht sagen das ist falsch, ihr glaubt falsch oder so, das ist ihre Religion, ihr Leben, ihr Glauben. Ich glaube so, sie so, die anderen glauben vielleicht anders. […] Manche glauben vielleicht auch gar nicht an Gott, das ist dann ihre Meinung, und ja.“

Manche der Kinder, die die Meinung vertreten, dass unterschiedliche Religionen gleich recht haben, nehmen das Recht auf einen eigenen Glauben für sich in Anspruch, betonen dabei aber, dass es sich um ihre persönliche Meinung handele, die von anderen nicht geteilt werden muss. Auch wenn also eine eigene Sichtweise auf das, was persönlich richtig ist, benannt werden kann, wird anderen Personen gleichzeitig ein anderer Glaube zugestanden.

Einige Kinder können zudem auf der einen Seite die Glaubensfreiheit aller Menschen betonen und gleichzeitig die eigene Glaubensüberzeugung priorisieren. Finn, ein evangelischer Junge aus Baden-Württemberg, glaubt beispielsweise, dass der mächtigste Gott der der Christen sei und es in seinem Glauben Allah nicht gebe: „Also für meinen Glauben gibt’s den nicht, aber wenn sie an ihn glauben, dann sollen sie an ihn glauben.“ Auch wenn andere Meinungen nicht verstanden werden, werden diese akzeptiert – so formuliert das Anna, ein Mädchen ohne religiöse Zugehörigkeit aus Sachsen: „[…] Ja also manches gibt es natürlich, wo ich sage, ne, kann gar nicht sein für mich. Aber sonst finde ich eigentlich, finde ich kann man das nicht so richtig sagen, weil jeder sollte halt, ähm, seine eigene Meinung hat. Auch wenn ich manche Meinungen nicht verstehe halt, äh, soll trotzdem ihre Meinung werden.“

4.1.2 Begründung durch Unentscheidbarkeit der Frage

Mit einer anderen Begründung beziehen sich die Kinder auf die Unentscheidbarkeit dieser Frage, weil es für Menschen generell nicht möglich sei, zu wissen, was in Sachen Religion wahr und falsch ist: Dieses Bewusstsein kann sich explizit auf Gott beziehen, aber auch auf die Religion bzw. die Religionen als Gegenstand, die keine anderen als subjektiven Urteile erlauben.

Zum einen wird also argumentiert, dass das Wissen über Gott begrenzt sei, weshalb es nicht möglich sei, darüber zu urteilen, wer recht habe: Deswegen hätten alle recht. Ariana, ein Mädchen aus Sachsen, das der russisch-orthodoxen Kirche angehört, führt dies folgendermaßen aus: „Also ich würd’ sagen, keiner irrt sich, weil jeder glaubt halt so wie, wie er es halt denkt, dass Gott aussieht oder halt was anderes. Deswegen würde ich sagen, dass alle beide irgendwo mal recht haben, weil niemand weiß halt, wie er jetzt in echt aussieht und, oder wie er halt in echt nicht aussieht.“

Dass es in dieser Frage generell kein richtig und falsch bzw. keine Wahrheit geben könne, erklärt Aminata, ein sächsisches Mädchen ohne Religionszugehörigkeit, in Analogie zur Kunst bzw. zum Kunstunterricht: „[…] da gibt’s kein richtig und falsch. Weil das ist genauso wie in Kunst. Jeder macht sein Bild von, ähm, Gott, und es gibt kein richtig und kein falsch.“ Die prinzipiell gleiche Gültigkeit der Religionen wird hier mit Bezug auf den Gegenstand „Religion“ begründet: Religion ist wie Kunst – ein Gegenstand, der nur subjektive Urteile zulässt.

4.1.3 Begründung durch Bezug auf Gott

Manche Kinder denken, dass alle Religionen recht hätten, weil sie sich alle auf den einen Gott beziehen und alle Menschen an den gleichen Gott glauben, wie dies exemplarisch in der Antwort Alexandras aus Baden-Württemberg ohne Religionszugehörigkeit zum Ausdruck kommt: „Also ich denke schon, weil es gibt ja nur einen Gott und wenn man betet, betet man ja nur zu einem Gott, und ja.“ Manche Kinder formulieren die Annahme eines Gottes eher als eine Möglichkeit, wie z.B. Anton, ein reformierter Junge aus der Schweiz: „Vielleicht glauben sie alle an den gleichen Gott, aber sie wissen es nur nicht.“ Raya, ebenfalls reformiert und aus der Schweiz, argumentiert, dass die Menschen den gleichen Gott meinten, diesen aber mit unterschiedlichen Namen bezeichneten. Juna, ein Mädchen, das den Bahai angehört und aus Sachsen kommt, erklärt, dass alle Religionen Gott gemeinsam hätten, wobei dieser Gott unterschiedliche Propheten geschickt habe, aus denen dann jeweils unterschiedliche Religionen entstanden seien: „Also ich hab dann immer gelernt, in der Juju [Jugendstunde], dass Gott halt verschiedene Propheten geschickt hat, zum Beispiel Jesus oder Abraham und dann meistens sich eine Religion daraus entwickelt hat […].“

Wenn Gott die eine Quelle aller Religionen ist, dann scheint es für einige Kinder plausibel, dass er keine von ihnen bevorzugt und dass sie alle gleichermaßen richtig sind. Sonja, ein Mädchen mit christlichem Hintergrund aus Österreich, fasst dies zusammen: „Naja i glaub, dass der Gott keine Religion bevorzugt oder sowas. I glaub, dass er alle einfach nimmt.“ Samuel, ein katholischer Junge aus Baden-Württemberg, führt zusätzlich an, dass Gott auch nicht möchte, dass Menschen eine Hierarchisierung vornehmen, welcher Gott besser sei: „Ja. Ich meine, das ist jetzt irgendwie sagen: Mein Gott ist besser als deiner oder irgendwie so. […] Das möchte der Gott bestimmt auch gar nicht. […] Weil er möchte, dass alle Menschen sich vertragen. Er hat sie ja geschaffen und hat ja dann auch gesagt er will nicht, dass die Menschen nur nach seinen Geboten leben.“

4.1.4 Begründung durch Bezug auf Rechte

Einige Kinder argumentieren mit Rechten, die allen Menschen in gleicher Weise zukommen. Sie betonen, dass Menschen unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit gleiche Rechte haben: So meint Laura, ein katholisches Mädchen aus Baden-Württemberg: „Ich finde, ob, ähm, katholisch, evangelisch, muslimisch oder weiter so, das ist egal, jeder Mensch hat das gleiche Recht zu leben wie jeder andere.“ Auch die russisch-orthodoxe Ariana aus Sachsen argumentiert auf diese Weise: „Also ich glaub halt, dass jeder Mensch, egal aus welcher Religion, gleiche Rechte haben.“ Hier wird auch die Begründung herangezogen, dass es sich bei allen um Menschen handelt, wie der muslimische Adnan aus Sachsen ausführt: „Na das sind zwar andere Religionen, sind aber trotzdem Menschen. […] Kinder haben Rechte, egal ob Christen oder Muslime. Ähm. Erwachsene auch.“ Etwas anders argumentiert der konfessionslose Tom aus Sachsen, der explizit allen Religionen – vielleicht auch: allen religiösen Menschen – ein Recht auf Leben zuerkennt: „Also ich find die haben alle ein Recht auf Leben.“

Der evangelische Konrad aus Österreich betont, dass jeder ein Recht auf Gleichbehandlung habe, weil Religionszugehörigkeit und Glaube nicht in die Verantwortung des Einzelnen fällt, wenn er ausführt: „[…] also man sollte schon jeden gleich behandeln, halt der an eine andere Religion glaubt. Er kann ja nichts dafür, dass der andere die Religion hat, nur weil er jetzt nicht oder schon an den oder diesen Gott glaubt, ändert das ja nichts an dieser Person.“

4.2 Die Religionen haben nicht gleich recht

Einige Kinder argumentieren, dass die Religionen nicht gleich recht haben und begründen das auf verschiedene Weise.

4.2.1   Begründung: Verschiedenheit der Glaubensinhalte

Für einige Kinder sind die inhaltlichen Unterschiede zwischen den Religionen der Hauptgrund, warum Religionen nicht gleich recht haben können. So verneint Beatrice, ein Mädchen aus Baden-Württemberg ohne konfessionelle Zugehörigkeit, die Frage, ob alle Religionen gleich recht hätten, und fügt an: „[…] weil es gibt verschiedene Religionen und die sind auch verschieden und das kann nur für eine Religion gelten. Und ich finde, dass evangelisch stimmt.“ Die Begründung wird also abschließend mit einem Votum versehen, obwohl Beatrice selbst nicht der evangelischen Kirche angehört.

Luis, ein evangelischer Junge aus dem ländlichen Baden-Württemberg, beantwortet die Frage mit Hinweis auf unterschiedliche Gottesvorstellungen, ohne dabei explizit auf die verschiedenen Religionen einzugehen – aber auch hier ist die Existenz von Differenzen ein Grund, gegen die Annahme, alle Religionen hätten gleich recht, zu optieren: „Also, äh, nicht immer. Zum Beispiel jetzt die einen sagen Gott lebt so und die anderen sagt Gott lebt anders, also Gott lebt jetzt in den Wolken und so was und, ähm, er wird gezwungen so was zu machen und die anderen sagen, Gott ist frei, kann frei rumschweben und so was.“

Dass es in den Religionen verschiedene Glaubensinhalte gibt, begründen manche Kinder mit der Entstehungsgeschichte der Religionen. Hier lassen sich Überschneidungen mit der nächsten Unterkategorie feststellen.

4.2.2   Begründung: unterschiedliche Ursprünge und Überlieferung

Ein Argument gegen die Annahme, alle Religionen hätten gleich recht, hat mit den unterschiedlichen Ursprüngen der verschiedenen Religionen zu tun. Für Sarah, ein jüdisches Mädchen aus Sachsen, hat die jüdische Religion eher recht, weil sie älter ist als andere Religionen, wie beispielsweise das Christentum: „Also ich finde es schon, dass das Judentum am meisten Recht hat, weil die ganzen Religionen daraus, also Christentum hat daraus Sachen genommen, glauben manche, zum Beispiel ich.“

Einige muslimische Kinder machen ähnliche Argumente für den Islam geltend. Die Unterschiede zwischen den Religionen und die damit verbundene Wahrheitsfrage können zum Beispiel auf die Entstehung unterschiedlicher Gottesvorstellungen bezogen werden, auch unter Einbezug der Göttlichkeit Jesu, wie dies der muslimische Khaled aus Sachsen andeutet: „Naja, Allah hat ja die … Es gibt einmal ein Prophet, der halt Jud … Christ. Halt, die haben halt Christ gemacht. Es gibt, also nicht der Prophet wurde Christ, aber weil Jesus, ja, ähm, am Kreuz, ähm, getötet wurde, haben die das Kreuz als Christen Kreuz benutzt, glaube ich so. Ähm, und da haben halt gedacht, dass Jesus der Sohn von Gott ist, haben die halt die Religion Christ gemacht, glaube ich so.“

Eine weitere Bezugsgröße in dieser Begründungsart sind die Heiligen Schriften: Während andere religiöse Bücher mit der Zeit Veränderungen unterlegen seien, könne man sich auf den Koran verlassen. Bei Mohammed, einem muslimischen Jungen aus der Schweiz, verbindet sich damit zwar keine explizite Ablehnung des Wahrheitsanspruchs anderer Religionen, implizit wird aber deutlich, dass er die eigene religiöse Tradition priorisiert, weil der Koran eine „originale“ Grundlage darstellt: „Und – ja, diese – also – Isa – Jesus, Ibrahim … Mohammed haben so Bücher gebracht. […] Also, alle Bücher haben so … so, wie fast das Gleiche, … halt nur, das klingt jetzt vielleicht blöd von mir, aber … ähm, aber alle Bücher wo … wollen auf einen Grund zu … hinausgehen. Und ja – und dann gibt’s halt Bücher, bei denen vielleicht was dazugedichtet wurde … worden ist. Und dann gibt’s Bücher, bei denen weniger zugedichtet … und weniger und weniger. Und dann, gibt’s halt den Koran. Und ja … ich glaub’ halt daran, dass da nichts gedichtet worden ist dazu, sondern, dass es wirklich nur von Gott… und da … (...) – zum Beispiel wenn man Bücher verkauft und verkauft und verkauft … dann kommt paarmal was dazu… Aber beim Koran ist es…, bleibt es einfach so wie’s ist. Es kommt nichts dazu. […] Aber im Koran, wenn man Bücher vergleicht vom Koran, ist alles gleich … a-l-l-e-s; also es wurde nichts dazugedichtet.“

Während dieser Argumentationsgang grundsätzlich vergleichend angelegt ist, gibt es auch Antworten, die sich nur auf eine Religion beziehen, ohne dass explizit deutlich wird, welche Abgrenzungen zu anderen religiösen oder nicht-religiösen Traditionen vorgenommen werden. Silas, ein christlicher Junge aus Sachsen, meint beispielsweise: „Vielleicht eher mit Gott, weil man da schon die Erlebnisse gehört, weil zum Beispiel mit, weil das ja auch wirklich wahr war, weil in der Bibel ist ja extra drin gestanden, da stand ja, ähm, dass (...) dass da ein König geboren wurde und der wurde dann ja auch geboren, also (...) dass Jesus geboren wurde, also der König, ja im Stall, und dann ist er ja auch geboren.“

4.2.3   Begründung: unterschiedliche Regeln

Einige Kinder beziehen sich in ihrer Begründung auf die unterschiedlichen Regeln in den Religionen, die nicht gleichzeitig richtig sein können. Dabei sind es in allen vier Fällen die Regeln der eigenen Religion, die als stimmig empfunden werden, gelegentlich auch nur implizit dadurch kenntlich gemacht, dass die Kinder sich von anderen religiösen Traditionen und deren Regeln abgrenzen: Während Soraya, ein muslimisches Mädchen aus Baden-Württemberg das Tragen des Hijabs als Argument für die Richtigkeit ihrer religiösen Tradition anführt, argumentiert Noemi, ein reformiertes Mädchen aus der Schweiz, umgekehrt: Weil sie die Verschleierung von Frauen für ungerecht hält, spricht sie sich dagegen aus, allen Religionen die gleiche Wahrheit zuzugestehen.

Hamid, ein muslimisches Kind aus Sachsen antwortet abstrakter: Demnach bestimmt sich die Richtigkeit einer Religion aus ihrer Gottgemäßheit. Das wird auch auf die Regeln bezogen: Richtig seien religiöse Regeln dann, wenn sie dem Willen Gottes entsprechen, nicht richtig seien Regeln, die Menschen sich selbst geben: „Religion ist, dass man so, also was unser Gott uns sagt, das ist Religion, und was man denkt und richtig für ihn ist, das ist Religion, und was man macht, was unser Gott gesagt hat, das ist Religion. Aber das andere ist eigentlich keine Religion, das ist nur so, was sie wollen machen.“ Als letzter Beweis dient schließlich auch hier die Rückführung der Regeln auf den Koran, wie er im Interview weiter begründet.

4.3 Keine Festlegung möglich

Manche Kinder geben an, dass sie die Antwort auf die Frage nicht wissen, was teilweise nicht weiter begründet wird. Einige Kinder begründen diese mit ihrer Unkenntnis gegenüber den anderen Religionen – so argumentiert z.B. Emil, ein christliches Kind aus Sachsen, oder Ella, ein konfessionsloses Kind aus Sachsen, das auf die Schwierigkeit der Frage verweist. Andrea, ein katholisches Kind aus Österreich, antwortet mit dem Verweis auf ihre Einstellung zu Religion generell: „Ja keine Ahnung (lachen), ich mag Religion halt einfach nicht.“

Drei Mädchen – Judith, die keiner Religion angehört und in der Schweiz wohnt, das jüdische Kind Tina Lea aus der Schweiz sowie Leonie aus Sachsen, die zur Bahai-Gemeinde gehört – begründen ihr Nicht-Festlegen damit, dass ihre eigenen Sichtweisen begrenzt seien und sie daher keine Urteilsfähigkeit in der Wahrheitsfrage für sich beanspruchten. Die Art der Argumentation ähnelt hier in manchem derjenigen der Kinder, die für die Wahrheit aller Religionen optieren. Beispielhaft sei hier die Antwort Judiths, eines Mädchens ohne religiöse Zugehörigkeit aus der Schweiz, angeführt: „Also, ich habe wie das Gefühl, jeder stellt sich ja Gott anders vor und ich meine, wir stellen uns jeder etwas anderes vor und jede, und jede andere, und wir wissen es halt einfach schlichtweg nicht und wir, zum Beispiel Christen, stellen uns irgendetwas vor und die Hindus stellen sich irgendetwas vor. Und man weiß es einfach nicht und ich finde, dann sollte man nicht sagen, ja, wir haben jetzt einfach recht, dabei weiß man es nicht. Ich finde, man kann sagen, ja, wir haben recht, wenn man es wirklich weiß, aber so, ja, finde ich, darf man jetzt nicht einfach sagen, ich habe jetzt recht, dabei weiß ich es nicht.“

Es zeigt sich hier sowohl ein Bewusstsein für die Perspektivität des eigenen Standpunktes als auch für die Standpunktgebundenheit von Angehörigen anderer religiöser Traditionen.

Im nächsten Schritt werden die Befunde interpretiert, um die Forschungsfrage zu erhellen, welche religionsbezogenen oder religiösen Vorstellungen, Erfahrungen und Handlungen die Kinder äußern und inwiefern sie sich davon und warum leiten lassen?

5 Interpretation der Ergebnisse

Die Interpretation setzt die eben dargestellten Befunde ins Verhältnis zu den bisherigen Theoretisierungen der Wahrheitsfrage, wie sie im dritten Kapitel dargelegt worden sind.

So wird zunächst anhand der Kategorisierungen der Kinderantworten auf zwei Ebenen deutlich, dass religionsdidaktische Überlegungen und Empfehlungen zum Umgang mit der Wahrheitsfrage ohne Einbezug der kindlichen Argumentationen schwerlich als subjektorientierte Zugänge Geltung beanspruchen können, denn weder verstehen die Kinder diese nur in konkreten Lebenszusammenhängen (Heimbrock, 2016), noch argumentieren Kinder ohne formal-operatorische Denkweisen immer fundamentalistisch oder relativistisch (Willems, 2011).

Die Kinder fühlen sich durch den Frageimpuls zu einer Entscheidung herausgefordert. Die der Frage inhärente Anforderung betrifft zum einen das Prinzip der Gleichheit, dessen Geltung hier in Anbetracht unterschiedlicher Wahrheitsansprüche zur Debatte gestellt wird.

Am häufigsten befürworten die Kinder, dass alle Religionen gleich recht haben bzw. gleich wahr sind und plädieren damit für Gleichheit, wobei sie unterschiedliche Begründungsmuster anführen. Dieses Ergebnis entspricht – wenngleich natürlich quantitativen Studien nicht vergleichbar – den in quantitativen Studien erhobenen Befunden. Die Begründungen der Kinder führen jedoch über die genannten Deutungsversuche (Kapitel 3) hinaus und machen damit gleichzeitig die notwendige Ergänzung von quantitativen und qualitativen Studien sichtbar. Am häufigsten bejahen die Kinder das Gleichheitsprinzip unter Bezugnahme auf das Recht bzw. die Freiheit des/r Einzelnen (Glaubensfreiheit/Meinungsfreiheit), zu glauben, was er oder sie für richtig hält. Diese Begründung muss weder als Toleranznorm, noch Beliebigkeit oder als ,Basisdoktrin‘ kritisiert werden, sondern kann entwicklungspsychologisch sowohl als Ausdruck der notwendigen Entwicklung von dem/der Wahrnehmung des Rechts auf eine persönliche Entscheidungsfreiheit, auch in religiösen Angelegenheiten (vgl. Berk, 2019, S. 456 unter Bezugnahme auf Helvig, 2006), als auch als Ausdruck eines präferierten Gerechtigkeitskonzeptes, das eng mit dem Prinzip der Gleichheit verknüpft ist (vgl. Andresen & Wilmes, 2017, S. 86), gelesen werden. Das Gleichheitsprinzip wird in den Begründungen zweifach konkretisiert, nämlich einmal bezogen auf die Glaubensfreiheit der Einzelnen und einmal bezogen auf die Rechte, die allen (Religionen) zustehen.

In einigen Antworten deutet sich trotz des Votums für das gleiche Recht bzw. die gleiche Glaubensfreiheit ein Aushandlungsprozess zwischen dem persönlich als wahr Befundenen im Unterschied zu anderen Glaubensüberzeugungen und dem Gleichheitsprinzip (als sozial notwendigem Prinzip) an, ein Aushandlungsprozess zwischen einer ethnozentristischen Verhältnisbestimmung auf der einen Seite und Gleichheit als Gerechtigkeitskonzept auf der anderen. Hier handeln die Kinder Wahrheit als Evidenz (persönlich erlebte Glaubenswahrheit) und Gleichheit als Gerechtigkeitsprinzip miteinander aus. Insofern gehen die Begründungen erkennbar über die Zustimmungsergebnisse aus quantitativen Studien zur Wahrheitsfrage hinaus und fordern auch zu einer differenzierten Interpretation der kindlichen Begründungsweisen heraus.

Religionstheologisch lassen sich diese Antworten keinem Modell zuordnen. Zu vermuten ist weiterhin, dass die Lernenden – vielleicht unbewusst – die Konsequenzen aus einer Wahrheitsüberzeugung im Sinne von (sozialen) Geltungsansprüche mitdenken und so individuelle Rechte mit sozialen Notwendigkeiten ins Verhältnis setzen.

Einige Kinder begründen das Gleichheitsprinzip theologisch unter Rückgriff auf einen Gottesbegriff, der universal konzipiert ist und/oder unter Bezugnahme auf ein Verständnis von Gott als Schöpfer aller Religionen, aus denen unterschiedliche Glaubensausdrücke resultieren können. Religionstheologisch betrachtet, kann die Argumentation der Kinder dann als inklusivistisch verstanden werden, insofern sie ihr Gottesverständnis zum Ausgangspunkt für die Inklusion anderer Religionen heranziehen oder aber als pluralistisch, wenn der Bezug anders gesetzt und von einem Gott ausgegangen wird, der unterschiedlich zum Ausdruck gebracht wird.

Aufschlussreich ist, dass die Verneinung inhaltlich und vergleichend ausgeführt wird, wobei die Kinder entweder die Überlegenheit ihrer Religion oder die Mangelhaftigkeit der anderen Religion als Gründe anführen und sich von der Vorstellung, dass unterschiedliche Wahrheitsansprüche gleichzeitig und gleichberechtigt nebeneinanderstehen können, distanzieren. Nach dem Entwicklungsmodell von Bennett handelt es sich dabei eher um ethnozentristische Verhältnisbestimmungen, die religionstheologisch als exklusivistisch gelesen werden können. Aus der Perspektive der Entwicklung des komplementären Denkens oder auch des Umgangs mit Ambiguität ließe sich diese Begründung als Indiz für Wahrheit als unteilbare lesen und/oder im Blick auf die Entwicklung des komplementären Denkens auf Niveau I, wonach Kinder wahr bzw. richtig und falsch trennen und das Denken in Mehrdeutigkeiten (noch) wenig in Betracht ziehen (vgl. auch Meyer, 2021, S. 294f.).

Insbesondere die Gruppe der Kinder, die ihre Nichtentscheidung reflektiert, berührt mit ihren Antworten erkenntnistheoretische Probleme, wenn die Grenzen des eigenen Wissens oder Erkenntnisvermögens angesprochen werden, aber auch auf der Gegenstandsseite, insofern Religion als Phänomen verstanden wird, dem Unentscheidbares eignet, hier könnte man eine Nähe zum perspektivischen Modell der Wahrheit erkennen, das von Schröder und Woppowa als unter pluralen Bedingungen angemessenes, eingespielt wurde (2021, S. 420).

Liest man die Begründungen der Antworten mit Hilfe des Entwicklungsmodells der kulturellen Sensibilität, dann zeigen sich eher bei der Verneinung der Frage ethnozentristische Denkmuster als bei der Bejahung, wobei in manchen Antworten beide Zugänge ausgehandelt werden. Bezieht man die oben genannten Argumente auf Bennetts Stufen der interkulturellen Sensibilität, so lassen sich sowohl Annäherungen an die Verteidigungs- und Minimierungsstufen als auch ethnorelativistische Tendenzen erkennen, wenngleich damit nicht alle Argumente angemessen erfasst werden.

Zusammenfassend lässt sich überspitzt formulieren, dass die Bejahung der Frage und damit die Gleichheit anthropologisch-sozial begründet und theologisch „gelöst bzw. erklärt“ ist, während die Verneinung hauptsächlich theologisch begründet wird.

Dabei fällt auf bzw. wäre darüber nachzudenken, ob den drei Hauptkategorien nicht jeweils unterschiedliche von den Kindern verhandelte Fragestellungen oder Verständnisse des Frageimpulses zugrunde liegen: Während der Bejahung der Frage eher eine Auseinandersetzung auf Basis des Gleichheitsprinzip in Bezug auf unterschiedliche Religionen zugrunde liegt, berühren die Kinder, die mit Nein antworten, eher die Frage danach, was Wahrheit ist und wie sich Wahrheit begründen lässt. Offen und aus den Antworten nicht herauslesbar ist bei den zuletzt Genannten, ob und wie sehr diese Begründungsmuster auch mit religionsbezogenen Identitätsfragen und einer stärkeren religiösen Verortung verbunden sind; anders gefragt: Folgt die Begründung der Verortung oder die Verortung der Begründung.

Die genannten Begründungen können auch als Ausdruck unterschiedlicher kindlicher Wahrheitskonzepte bzw. kindlicher Suchbewegungen, Wahrheit bestimmen zu können, gelesen werden. Die Antworten jener Kinder, die diese Frage begründet nicht entscheiden wollten, haben eher eine Nähe zum erkenntnistheoretischen Bedingungsgefüge der Wahrheitsfrage als zum Gleichheitsprinzip.

Interessant ist, dass keines der Kinder geantwortet hat, dass alle Religionen gleich unwahr seien bzw. gleich unrecht haben; möglicherweise legte sich diese Antwort aufgrund der Studienanlage nicht nahe oder wurde als sozial unerwünscht zurückgehalten.

In einer selbstkritischen methodologischen Reflexion bleibt auch zu überlegen, inwiefern unsere Fragestellung eine Verortung zwischen Differenzminimierung/Gleichheitspostulat und exklusivistischer Positionierung begünstigt. Die Kinder antworten meist auf der abstrakten Ebene, eigene Erfahrungen oder Erfahrungen aus dem Lebensumfeld werden nicht eingespielt. Ist die Fragestellung deshalb lebensfern, nicht kindgemäß? Das lässt sich aus den Antworten nicht eindeutig herauslesen, wohl aber, dass die meisten Kinder sich auf die Frage (oft erstmals) einlassen. Bezugnehmend auf die eingangs genannte dritte Teilfrage lässt sich feststellen, dass die Kinder mit der abstrakten theologisch-religionspädagogisch motivierten und für den interreligiösen Dialog als relevant postulierten Wahrheitsfrage zwar etwas anfangen können und sich zu Argumentationen herausgefordert fühlen, dabei jedoch auf einer abstrakten Ebene bleiben.

Offen erscheint uns, ob und inwiefern die Modelle aus der Religionstheologie und dem Entwicklungsmodell religionsdidaktisch weiterführen. Ihr Potenzial liegt u.E. in einer kategorisierenden Analyse der Denkweisen, die sich in den Begründungen der Antworten zeigen, und auf die religionsdidaktische Überlegungen sowie Planungen zum interreligiös-weltanschaulichen Lernen angewiesen sind; gleichzeitig ist in ihnen auch die Gefahr eine wertenden Lesart inhärent. Hier wäre prinzipiell nach der Legitimität unterschiedlicher Positionierungen zu fragen. Eine Differenzierung zwischen Glaubenswahrheit und daraus abgeleitetem (sozialen) Geltungs- wie Wertungsanspruch kann hier weiterhelfen.

Analytisches Potenzial für religionsdidaktische Überlegungen bietet die Interpretation der Antworten auch insofern, als dass sie die unterschiedlichen Ebenen wie Fragestellungen, auf denen die Anforderung bedacht wird, sichtbar macht. Wird die Frage auf der individuell-sozialen Ebene auf der Basis eines Gerechtigkeitskonzepts als Gleichheit hinsichtlich der Freiheiten und Rechte von Menschen und Religionen verhandelt, greifen weder die religionstheologischen Modelle noch das Modell der interkulturellen Sensibilität. Wird die Frage als Frage nach der Wahrheit bedacht, geht es auch um inhaltlich bestimmte Konzepte von Wahrheit und erkenntnistheoretische Bedingungen zur Beantwortung der Frage.

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Susanne Schwarz, Professorin für Evangelische Theologie mit dem Schwerpunkt Religionspädagogik/-didaktik des Religionsunterrichts, Universität Koblenz-Landau, Standort Landau

Ulrike Witten, Professorin für Evangelische Religionspädagogik, Universität Bielefeld

Stefanie Lorenzen, Professorin für Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts, Universität Bamberg

Helena Stockinger, Professorin für Katechetik, Religionspädagogik und Pädagogik, Katholische Privatuniversität Linz